Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)

Entzückende Grausamkeiten

Eine Komödie der Entmenschlichung im Theater Hof: Regisseur und Aktrice probieren Leopold von Sacher-Masochs „Venus im Pelz“ und kreisen dabei immer enger umeinander in einem Spiel im Spiel über  Schmerz und Lust, Demütigung und Dominanz.


Von Michael Thumser

Hof, 30. Mai – Im Studio des Theaters Hof steht eine nackte Frauenfigur herum, an beiden Armen amputiert. So wie die Venus von Milo; aber sie ist es nicht. Die Schaufensterpuppe gehört zur Szenerie eines Theaters auf dem Theater, wofür Ausstatterin Imme Kachel die reale Experimentierbühne in eine fiktive Probebühne verwandelt hat. Die „Venus im Pelz“, die auf ihr maßgeblich eine Rolle spielt, besitzt indes noch beide Arme und wirkt auch sonst rundum gesund und unversehrt. Gleich der Titel des Stücks macht sie für alle Kenner erotischer Literatur kenntlich als Protagonistin eines 1870 erstveröffentlichten, seinerzeit Skandal machenden Romans: Mit ihm führte Leopold von Sacher-Masoch seinen Namen in die Psychopathologie ein, wo „Masochismus“ eine Form von Sexualität benennt, die erst durch erlittene Erniedrigungen und Schmerzen zur Erfüllung findet.

     Aber keine Bühnenfassung jener schwülstig-schwülen Prosa hatte am Freitag Premiere, sondern ein Spiel im Spiel – ein Lust-Spiel, für das der US-Amerikaner David Ives sich 2009 auf den damals schon deutlich angejahrten Prosatext des Aristokraten aus dem weiland k.u.k. Österreich-Ungarn bezog. Eine Komödie? Eine Art Komödie. Denn in ihr bewegen sich zwei Gegenwarts-Menschen sowohl lachend als auch lamentierend, so lächerlich wie Leid bringend aufeinander zu und umeinander herum, indem sie die Hauptgestalten aus Sacher-Masochs über anderthalb Jahrhunderte alter Scharteke spielen: gegeneinander ausspielen.

Unterwerfung

Ein „Sadomaso-Porno“? Eine „große Liebesgeschichte“. In ihr sind die Figuren müßiggängerische Edelleute mit schallenden „Vons“ in ihren Namen und heißen vorne Severin und Wanda. In einem Kurbad finden sie Gefallen aneinander – eine Zuneigung sehr eigener Art: Severin lechzt nach Unterwerfung, aber nicht nach der des „göttlichen Weibes“. Er selber will den Nacken beugen, bis zum Boden unter Wandas Fuß. Als „Sklave“ dient er sich ihr an, obwohl sie lange widerstrebt, lässt sich grausam kränken und mit Ruten geißeln, an Geist und Leib misshandeln bis zum Höhepunkt der Qualen und der Lust.

     Auf der (fiktiven) Probebühne heißen die beiden Thomas und – wiederum Wanda. Er will als Autor und Regisseur die papierne „Venus im Pelz“ zum Leben erwecken, sie hat sich zum Vorsprechen angekündigt. Lärmend rast und rumpelt im Hofer Studio Alrun Herbing auf Oliver Hildebrandt los, mit Blitz und Donner wie das Gewitter, das gleichzeitig mit ihrer Ankunft niedergeht: outriert und bipolar, erst vulgär geschwätzig, dann greinend wie ein Kind, das nicht kriegt, was es will. Doch Wanda kriegt es: Kaum ist sie aus ihrem offenherzigen Proletinnen-Outfit heraus und in ein wallend-langes Kleid geschlüpft, hat sie auch ihr Wesen ausgewechselt. Nun wächst sie als die Wanda des Romans zur „majestätischen Dame, üppig, gebieterisch und furchteinflößend“.

„Exquisite Despotin“

Regisseur Thomas staunt: In Minutenkürze hat er statt der assigen Schreckschraube eine geschulte „Aktrice“ vor Augen, unerwartet „vorbereitet“ und über ihn bestens informiert. Nun spricht, bezeugt und deklamiert Alrun Herbings wilde Wanda gemäß dem Regelwerk des „Kleinen Hey“ statt sich zu plustern und zu plappern, bedächtig schreitet und stolziert sie und rast, hetzt, flitzt nicht länger, statt zu explodieren beherrscht sie sich, zeigt Würde, statt zu winseln.

     Ganz in ihren Bann geschlagen, überführt Oliver Hildebrandt den überdrüssig-übermüdeten Regisseur in ein schmachtendes Abbild des Sacher-Masochschen Severins: Überrascht, bald hingerissen erkennt er in der hereingeplatzten „Venus“ von der Straße die reine „Reinkarnation der Liebesgöttin“, die „glücklich sein und glücklich machen“ will, erkennt sie an als „exquisite Despotin“, der er kriechend ihren Stiefel küsst, von der er Züchtigung erheischt, um ihr für jede „entzückende Grausamkeit“, schon nach der nächsten dürstend, Dank zu sagen. Durch sie erlebt er sich „erlöst von dem, was die Welt aus uns gemacht hat“: Sie tut ihm „wunderbar weh“.

     Aber natürlich interessiert sich Antje Hochholdinger in ihrer Inszenierung gar nicht so sehr für den abgeschmackten und stilistisch mediokren Erzählstoff von anno dazumal und für seine „opernhaft großen Gefühle“ mit ihrem Anspruch, stets ein wenig hochtrabend intoniert zu werden. Vor allem dekodiert sie das Geschlechter-Machtspiel, das in den Mustern der Ausgangshandlung steckt. Sie lässt Herbing und Hildebrandt den „perversen“ Text probieren, indem Wanda und Thomas ihn aneinander ausprobieren. Das Vorsprechen entpuppt sich als intimes Tribunal: Wanda enthüllt in Thomas den Hochmut des mansplainers und die Präpotenz des Chauvinisten; indem sie ihn buchstäblich zu Boden zwingt, behauptet sie ihr Recht, sich als überlegen zu erweisen.

Unschärferelationen

Der Amputierte – an Riesen-Ego, Selbstverliebtheit, Dominanz-Gedöns – ist schließlich er. Zugleich kristallisieren sich aus dem Machtgerangel zwischen Regisseur und „Aktrice“, Möchtegern-Despot und unbotmäßiger Untertanin prinzipielle Unschärferelationen zwischen Kunst und Leben, Mann und Frau heraus: Wer „inszeniert“ gerade wen? Wer ist „Hammer“ und wer „Amboss“? Wer „benutzt“, „beleidigt“ den je anderen, wer dient? Und tut ers unter Zwang oder doch aus freien Stücken? Wer erleidet „Schmerz“, wer genießt „Vergnügen“? Und ist beides, weil „pervers“, im Grunde eins?

     Nah an den Kipppunkt zur Katastrophe wagt sich die vermeintliche Komödie in Hof. Von den Darstellenden fordert sie darum Einsicht in die tieferen Schichten des vordergründig ‚skandalösen‘ Stoffs und verlangt ihnen, wegen seiner Überraschungsmomente, Umschwünge und Vertauschungen – der Umkehrung sogar der Geschlechteridentitäten –, allerhand Verwandlungskünste ab. An denen mangelts nicht. So anregend und umsichtig modeln Alrun Herbing und Oliver Hildebrandt die Charaktere um, dass sie, bei aller Gründlichkeit, die letzten ihrer Geheimnisse für sich behalten. Dafür offenbaren sie am Ende, dass zwischen Sexismus und Feminismus mancherlei Grenzlinien verlaufen: eine hauchdünne auch.

Informationen zur Produktion und zu den Terminen der weiteren Aufführungen: hier lang.



Luisenburg-Festspiele

Die Schöne kann auch biestig sein

Eigens für Wunsiedels Naturbühne hat Susanne Felicitas Wolf alte französische Märchenmotive in ein modernes Familienstück gegossen. Die eher turbulente als poetische Version des Originals macht bei der Premiere dem Kinderpublikum viel Freude.


Von Michael Thumser

Wunsiedel, 27. Mai – Vor knapp einem Jahr hatten die Kinder auf der Luisenburg technisch auf Zack zu sein. Um dem Cyberspace-Musical „Trolle unter uns“ folgen zu können, mussten sie mit Begriffen wie „green deal“ und „Migrationspakt“, „Algebra“ oder „Algorithmen“ was anfangen können. Weil nur die Wenigsten der Kleinen schon so weit waren, ging damals die Premiere  des Familienstücks in Geschrei und Geplapper, Krach- und Quatschmacherei des überforderten Auditoriums unter.

     Heuer hingegen wars ganz anders: Um als Sechsjähriger oder Siebenjährige technisch am Ball zu bleiben, genügte es am Dienstag, zu wissen, was ein Handy ist. Statt Theoreme um „Teleportation“ und „geothermische Energie“ rücken Susanne Felicitas Wolf und Irene Christ, die Autorin und die Regisseurin, anschaulich Handgreifliches und Unverhofftes wie einen seufzenden Rosenbusch und einen überdrehten Spiegelmenschen ins Zentrum der Naturbühne und des arglosen Kinderblicks. Statt ins Darknet führt „Die Schöne und das Biest“ in ein verhextes Schloss mit Säulenbalustrade, Kronleuchtern und fürstlich gedeckter Tafel (Bühne: Sabine Lindner), und am Ende des bunten Treibens dürfen ein Mädchen und ein Monster einander herzenseinig in die Arme sinken, das eine bezaubert, das andere entzaubert und erlöst.

Zottelfell und Blaumann

Am meisten macht das Biest her, und Angst kanns einem machen. Denn nachdem der brave, wenn auch unbedarfte Graf Bertrand, eines unbeabsichtigten Blumenfrevels im Zauberreich wegen, vom gewinnenden Jüngling in eine knurrende Kreatur verwandelt worden ist, schaut er aus wie eine jener Perchten, mit denen in den bayerischen und österreichischen Alpen der Winter ausgetrieben wird. Kostümbildnerin Stephanie Traut hat Lukas Schöttler beeindruckend in ein struppig-strähniges Zottelfell gekleidet und seinem Kopf eine Art Teufelstiermaske mit langen spitzen Hörnern aufgesetzt – dazu faucht und brummt und grollt der Schauspieler gehörig ungehörig.

     Den lieblichsten Eindruck hinterlässt die Schöne; aber nicht, weil Katharina Plank als Belle in edler Unschuld wie eine Prinzessin auf der Erbse einhertrippelte – lieber steht sie mit beiden Beinen wendig-kräftig auf dem Boden der Tatsachen als robuste Bauhandwerkerin im Blaumann und mit Werkzeugtausche um die Hüften. Auch als sie, dem fürstlichen Ambiente angemessen, die derben Arbeitsklamotten gegen ein rauschend weinrotes Krinolinenkleid vertauscht hat, weiß sie noch, wo der Hammer hängt. Belle kann ein Biest sein – aber eine Empathikerin desgleichen: Als solche durchschaut sie allmählich, dass in der pelzigen Brust des grimmigen Grämlings, der sie gefangen hält, in Wahrheit das einsame Herz eines Unglücklichen schlägt: Im Balg des Untiers steckt ein Rosen- und Menschenfreund.

Eine einfältige Heilige

Am lustigsten finden die Kinder Julian Niedermeier im schillernd-blitzenden Spiegelscherben-Anzug des Balduin Bastien Babille, der vielen Äääs und Ööös in seinem Wortschwall und seiner possierlichen Rokoko-Manieren wegen. Am sympathischsten aber stapft und tapst das vierte Rad am Wagen dreier mehr oder weniger unliebsamer Feenwesen durchs Bild: Neben einer zänkischen Königin der Nacht in Lila, einer quietschvergnügten Närrin in Quietschgelb und einem grantelnden blauen „Fee-rich“ (Lara Bruder, Mona Graw, Simon Tobias Hauser) behauptet sich Christiane Rücker als brave, darum von den Zauberschwestern gern herumgeschubste und untergebutterte Seele. Der Schönen und dem Biest verhilft sie zur Einsicht in den Wert des jeweils Anderen und Andersartigen und hegt und pflegt das schüchterne Pflänzchen Zuneigung zwischen den beiden voll heiliger Einfalt: eine einfältige Heilige in schweinchenrosa Tüll.

     Nicht digital, wie vor Jahresfrist, sondern durchweg analog geht das – textlich reizarme, weil unpoetische, obendrein recht wirre – Stück vonstatten. „Im Feenreich gibts kein Telefon“ (außer Babelles Handy mit Goldglanz), und vielleicht wurde allen Aktricen und Akteuren darum aufgetragen, fast unentwegt zu rufen und zu rumoren, zu schrillen und zu schreien, zu kreischen und zu krakeelen. Rhythmus oder gar Ruhe kehrt nicht ein ins Spiel, was zunehmend die Nerven bedrängt, nicht nur jene des Gehörs. Auch Babille, ungeachtet seiner komischen  Klamaukerei keineswegs der Unreflektierteste von allen, spiegelt, dass ihm die „schräckliche Bröllerei“ gegen den Strich geht. Das halb-, besser: viertelwüchsige Publikum ists indes mehr als zufrieden: Fünf Viertelstunden lang hat es sich weitgehend artig, sogar zahm zurückgehalten – beim fröhlichen Schlussapplaus endlich überschwemmt es Ensemble und Regieteam geballt mit jenem Lärm, den die Kinderschar im Vorjahr gleichmäßig über die Premiere verteilte.

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Die letzte Walpurgisnacht

Im Vogtland streiken die Bergarbeiter, ein Hotel verkommt zum Bordell, und seine Inhaberin veranstaltet einen Hexensabbat, um sich ein Kind machen zu lassen: Das Theater Plauen-Zwickau zeigt als Uraufführung Christian Martins „Zinnwald“. Eine verkopfte „Gesellschaftskomödie“ – viel zu lachen gibts nicht.


Von Michael Thumser

Plauen, 27. April – „Das Stück“, schreibt der Autor vor, spiele an „walpurgis nach 2002“. Das mag also irgendwann während der vergangenen 21 Jahre sein: heute; gestern; oder dreizehn Jahre nachdem Helmut Kohl, der vollmundige „Kanzler der Vereinigung“, 1990 den damals noch sehr „neuen“ Ländern „blühende Landschaften“ versprochen hat. Von einer florierenden Wirtschaftsregion, zufrieden besiedelt von einer zukunftsgläubigen Bürgerschaft, kann in Christian Martins „Zinnwald“ indes nicht die Rede sein. Im (fiktiven) sächsisch-vogtländischen Ort dieses Namens soll die Zinngrube geschlossen werden, der „hungerstreik der kumpel tief unten im berg“ droht am „Tag der Arbeit“ gewaltsam zu eskalieren, und nicht weit weg trifft sich eine bunte Gesellschaft halbseidener, halb unwirklicher Menschenwesen im Hotel Goldenes Herz, einem verkappten Puff, bevor es endgültig pleitegeht.

     Walpurgis: So nannte man früher den 1. Mai. Die Walpurgisnacht davor gilt volkstümlicher Überlieferung zufolge als jährlicher Termin, an dem sich die Hexen auf dem Blocksberg bei einer Party mit dem Teufel in wüster Lust vermischen. „gottesberg“ zwar heißt der Blocksberg im Stück, aber auch er hat nichts Heiliges an sich. Den Gästen der lästerlichen Feier – mehrheitlich ziemlich ‚alte weiße Männer‘ mit Dreck am Stecken, an denen auch „nach der Mauer“ Reste ihrer DDR-Biografien kleben – präsentiert die Besitzerin des Etablissements eine auf einem gynäkologischen Stuhl drapierte Frau mit aufgedecktem Schoß: „poesie oder porno das ist hier die frage“. Der ohnehin durch alkoholische Freigetränke – und die sie servierenden „heißen hexen“ – aufgeputschten Korona verhilft der An- und Einblick zu satanischem Sinnenrausch. Im Gänsemarsch (den Martin radikal maskulinisierend „ganterschritt“ nennt) umtanzen sie den offenbarten Ursprung der Welt wie bei einem wonnetrunkenen Ritual.

Tür auf, Tür zu

Dann schickt sich einer an, es gleich mit zweien zu treiben; ein anderer möchte auch gern, kommt aber nicht zum Schuss; die begehrteste der Damen lockt mit viel Koketterie … „die hexen sind läufig heut nacht“: Auf dem Hotelflur geht eine Tür auf, die andere zu – das frivole Obligato des Boulevards. Allein Jacky, der trinkfeste, gleichwohl ausgenüchterte Lebensgefährte der Hotelieuse Rosa, übt sich in Verweigerung. Um von ihm, gegen seinen Willen, ein Kind zu kriegen, setzt Rosa eine Sex-Intrige ins Werk. „ein kind ist das einzige, was sinn macht“, sagt sie allen Ernstes, als spielte das alles Jahrzehnte vor 2002.

     Eine antikapitalistische „Gesellschaftskomödie“ schwebte Christian Martin, vom Theater Plauen-Zwickau beauftragt, mit seinem „stück volk“ vor. Am Samstag bei der Uraufführung der (zu langen) fünf Akte im Vogtlandtheater wurde allerdings kaum einmal gekichert. Wer sich die Zeit nimmt, vor der Aufführung das Programmheft und darin die Erläuterungen des 73-jährigen vogtländischen Dramatikers zu studieren, der riskiert, dass ihm schon da das Lachen vergeht. Durchnummeriert von eins bis sechs klügeln „Arbeitsthesen“ betont abstrakt über den kollektiven „Ausnahmezustand“ in einer „Gefahrenzone“, darin „Liebe zum bloßen Geschäft geronnen“ ist. Zum kruden „Panoptikum des Augenblicks mit philosophischer Tiefenschichtung“  erklärt Martin sein Werk - fast zwangsläufig beschert solch theoretischer Überbau der Handlung eine angestrengt verkopfte Undurchsichtigkeit und eine Tonlage unfrischer Verbiesterung. Um den Gang der „kuriosen“ Geschehnisse herum schlägt Martins kleingeteilte und -geschriebene Verssprache in ihrer „Verdichtung und Lakonie“ einen phasenweise realistischen, dann wieder phantasmagorischen, jedenfalls fragmentarischen Rahmen, darin Zeitkritik und Weltfremdheit die Allianz genereller Missbilligung eingehen. Weniger das Innenleben der Figuren macht der Text hörbar als das grämliche Räsonieren seines Verfassers über die „sogenannte zivilisation“, die nur noch „geld ist“.

„Erotische Provokation“

Aus so papierner Vorlage erwächst Theater erst durch Hannes Hametner, den Regisseur. Gemeinsam mit Ausstatter Giovanni de Paulis, der für reibungslose Übergänge zwischen den vielfach wechselnden Schauplätzen sorgt, imaginiert er all das Gedankliche, Begriffliche, Unanschauliche in angenehm schlichten, unaufdringlich entrückten Bildern. Der letzte Hexensabbat auf dem Gottesberg, vom Autor trocken als „erotische Provokation“ apostrophiert, wird auf diese Weise doch noch zu mehr als das: zu einer atavistischen Kulthandlung, während der sich die Szenerie aller Erdgebundenheit und namentlich der Zeit enthebt.

     Die Zeit als Faktor hat schon der Autor ausgeschlossen: Für die Hotelhalle sieht er eine Uhr vor (in Plauen von der Marke „Herz“), die an irgendeinem Morgen oder Abend Punkt sechs stehen blieb. Also schlägt den Hexen und der testosterontriefenden Satansbrut keine Stunde, was auch bedeutet: Die Zeiten vermischen sich. Als top act der Party auf dem Gottesberg wird die Schauspielerin und Diseuse Milli beklatscht, deren Show – vorgestrig als „liederabend“ angekündigt – die pathetische Rezitation eines goetheschen Gedichts einschließt: „Kennst du das Land, …“ Gegenwartsnah von Klimakrise und Künstlicher Intelligenz geht zwar die Rede, andererseits kommt, statt eines CD-Spielers oder einer Boombox, vorsintflutlich ein Kassettenrekorder zum Einsatz. Auf dem Schreibtisch des Dramatikers Jacky prangt kein Laptop, sondern eine Schreibmaschine wie beim verewigten Großschriftsteller Günter Grass. Aber Jacky, der „melancholische fatalist“, schreibt nicht mehr. „die poesie ist im sinkflug“, murrt  er, „das theater träumt nicht mehr“, die „sogenannte zivilisation / ist ein furchtbares chaos / und jetzt / schafft sie noch die kultur ab / und die sprache wird mehr denn je gefälscht.“

Lauter negative Zeitgenossen

Unverfälscht gibt sich Daniel Koch mit echter Resignation der Dichterrolle hin. Mit seiner abgespannten Haltung, dem Galgenhumor in der Stimme kann er sich im Ensemble das glaubhafteste Profil verschaffen, was schon daran liegt, dass Autor Martin in Jacky unüberhörbar selbst zu Wort kommen will. Um Koch und die Valeurs seiner Verhaltenheit kreisen die damenhaft-abgebrühte Claudia Lüftenegger als Hotelinhaberin Rosa, eine „pragmatische Sünderin“, und, als Paris-Hilton-Verschnitt im silbern schillernden Pailletten-Mini oder Federröckchen, die Milli von Julia Hell mit narzisstischer Flach- und Oberflächlichkeit und wollüstiger Körperpräsenz.

     Der polternde Thomas Dehler als neurechter, aus Bayern importierter Polizeichef und sein ‚linksgrün versiffter‘ Antagonist Krull (Hanif Idris als ideologisch feuereifriger Journalist), dazu die Damen Franke und Menzel, die Herren Andriotis, Hellmann und Steinlein - sie dürfen als ‚typische‘, typisierte Negativ-Zeitgenossen keine Alleinstellungsmerkmale zu erkennen geben, sondern müssen überdeutliche Klischees als besondere Kennzeichen herumtragen. „auf der bühne / sehe ich keine menschen / nur karikaturen und ihr gebrüll“, mault Jacky und könnte damit das Theater Christian Martins gleich mit meinen.

     Mit ein paar Slapstick-Einlagen versieht Hanif Idris den Dienst eines kaspernd kindlichen Hausfaktotums; aus dem Bühnenboden taucht ein Bergarbeiter mit Helm und Grubenlampe, „brüder zur sonne zur freiheit“ schmetternd, „zum lichte empor“ wie ein Gespenst. Was wohl – um bei Goethe zu bleiben – steckt als „Pudels Kern“ in „Zinnwald“: Satire? Mysterienspiel? Nicht Fisch, nicht Fleisch: „poesie oder porno“? Wenns wenigstens eins von beiden wäre.

■ Informationen zur Produktion und zu den Terminen der weiteren Aufführungen: hier lang.
■ Der vollständige Text des Stücks im Internet: hier lang.



Das Schiff sinkt mit den Ratten

Eine bravouröse Ensembleleistung des Hofer Schauspiels zwischen Gefühlssturm und Verstummen: In Gerhart Hauptmanns berühmter „Berliner Tragikomödie“ gab Regisseur Kay Neumann den Darstellenden reichlich Raum und Zeit, sich zu entwickeln.


Von Michael Thumser

Hof, 18. April – Die meisten Menschen lieben Tiere. Ratten lieben die meisten nicht. Ekel löst das Ungeziefer mit seinem Fellglanz und dem langen Wurmschwanz aus, die Pest, und nicht nur die, trägt es von Ort zu Ort, wie eine Seuche vermehrt es sich grassierend selbst, seine Fressgier kennt keine Grenzen. Als feige gelten die Tiere, weil sie als Erste das sinkende Schiff verlassen, gehen aber, wo sie sich angegriffen fühlen, schnell und zahnscharf zur Attacke über. Abschaum der Fauna: In der Literatur stehen die Ratten für Verfall, Zerstörung, untergründige Gefahr, in der bildenden Kunst treten sie oft als Gefährten des Teufels und von Hexen auf.

     In der Literatur – da wurde ihnen immerhin die Würde zuteil, dass ein berühmtes Bühnenstück nach ihnen heißt: „Die Ratten“, Gerhart Hauptmanns „Berliner Tragikomödie“ aus dem Jahr 1911, schmolz das althergebrachte Genre des Bürgerlichen Trauerspiels prägnant und bis heute gültig ins ‚kleinbürgerliche Trauerspiel‘ um. „Allens is hier morsch! Allens faulet Holz! Von Unjeziefer, von Ratten und Mäuse zerfressen!“: In Elend, Dreck und Unrat einer Mietskaserne gehen während fünf vortrefflich komponierter Akte zwei Familien vor die Hunde, ein Säugling verhungert, und die Hauptfigur nimmt sich das Leben. Eine Tragödie ist das berühmte Stück mithin durchaus, sogar eine von der harten Sorte. Aber dass es irgendwie auch komisch ist, das erweist seit dem stark beklatschten Hofer Premieren-Sonntag bestechend Kay Neumanns detailliert belebte Inszenierung: satirisch, wenn auch bitter bis ätzend, entlarvend kurios, „grausenvoll“ grotesk. Vor allem besticht der Abend als hinreißende Ensembleleistung bravouröser Schauspielerei.

Den Teufel im Leib

In Julia Leinweber – phänomenal nicht erst in dieser Produktion, doch in dieser besonders – zentriert sie sich. Manchmal könnte man ihre Jette John, die brave proletarische Hausfrau, fast für eine Ratte halten: Nicht als Hexe zwar setzt sie ihren starken Willen durch, nicht als Bestie, Furie, Biest; aber den Teufel hat sie im Leib. Mit dem Mut der Verzweifelten beißt sie um sich, besessen von einer Art unstillbarer Gier, und doch ist, wonach sie verlangt, im Grunde aller Ehren wert. Wie eine Schwerkriminelle, vor der es einen ekeln müsste, kauft sie ein Baby; nur dass sie damit einen redlichen Zweck verfolgt.

     Menschenhandel human: Frau John will ein Kind, kriegt aber keins; Pauline, das ‚gefallene‘ polnische Dienstmädchen, kriegt eins und will es nicht. Also schwatzt Frau John es ihr gegen ein paar Scheine ab, bewahrt es so vor dem sicheren Untergang, gibt es fürsorglich-liebevoll als ihr eigenes aus; und fliegt natürlich auf. Denn in Pauline rührt sich melodramatisch das Gewissen, dem Alrun Herbing im „Gossen“-Dialekt mit hartem polnischem Akzent halsstarrig eine zunehmend aufgewühlte Stimme leiht. Jettes Bruder Bruno, ein trinkfester Teufel, der seit seiner Kindheit „uff schlechte Weje jeht“ – Oliver Hildebrandt als soziopathischer Vollproll unter den Proletariern –, er bringt die potenzielle Verräterin um die Ecke. Für Vater John, den „rechtlichen“ Arbeiter der Faust – Sebastian Stielke, aufrecht durch körperlich Stabilität sowohl wie durch innere Haltung –, bricht seine mühsan aufgebaute, sorgsam umhegte Welt zusammen, derart gründlich, dass selbst er, „von Jespenstern umjeben“, den Fehltritt Jettes wie eine Gewalt- und Gruseltat verurteilt, auch wie ein Schwerverbrechen an seinem chauvinistischen Ehrbegriff.

     Gewichtig, schicksalhaft, auf direktem Weg teilen sich die changierenden Emotionen dem Publikum mit. An Hauptmanns exquisiter Vorlage, die in und zwischen den Zeilen jede Charakternuance in Stimmen und Stimmungen verwandelt, hat der Regisseur wohlweislich nicht herummanipuliert. So engagiert und reagibel lässt er die Damen und Herren in alle Bühnenrichtungen berlinern, dass, wer zuvor das Stück nicht extra nochmal las, ein Viertel der Wechselreden womöglich nicht versteht. Solch temporeicher und hochtemperierter Vehemenz in den enorm textprallen Dialogen setzt Kay Neumann Mal um Mal stumme Stagnation entgegen, vorsätzliche Pausen oder Verrichtungen von fast zwanghafter Monotonie. So verleiht er dem Ereignisgang einen ausgeklügelten Rhythmus aus breiten Unterhaltungen, peinvollen Beichten, detektivischen Befragungen da, gedehnten, zerdehnten Staus und Stockungen dort. Durch die Variationen eines elektronischen Großstadt-Grundrauschens (Daniel Lüdke), das unablässig aus den Lautsprechern dringt, geht die zunehmend bedrohliche Düsteratmosphäre, mal mehr, mal weniger unbewusst, erst recht unter die Haut.

Der Letzte aus dem klassischen Weimar

Sichtbar in der Gegenwart spielt das Stück insofern, als die Darstellenden betont in lässigen Klamotten oder eleganter Kleidung von heute auftreten. Weitgehend abstrakt hingegen hielt Ausstatterin Monika Frenz die großzügig über den Orchestergraben ausgedehnte Szenerie, wobei sie von der Zweithandlung des Dramas ausging: Die Kostüme und Outfits eines heruntergekommenen Theaterfundus hat sie neben und hinter Gerüsten und Verschlägen untergebracht. Nach welchen Regeln der – reizvoll mit Illusionsbrüchen spielende – Regisseur die Figuren über dies „Ratten- und Flohparadies“ verteilt, auch wenn sie sich gerade nicht am Geschehen beteiligen, das bleibt (trotz erläuternder Lektüre im Programmheft) allerdings so unerfindlich wie die Bedeutung der vielen über die Fläche ausgebreiteten fahrbaren Kinder-Untersätze.

     Besagte Zweithandlung: Sie läuft um die Familie und Entourage des Theaterdirektors Hassenreuther ab, mit dem der glänzende – genauer: in jeder Szene immer anders glänzende – Volker Ringe einen zweiten Haupt- und Mittelpunkt der Aufführung, neben Frau John, markiert. Als erfahrenes, intelligentes, begeistertes Bühnentier gibt Ringe ihn und enthüllt dabei freilich, wie unwiderruflich eine moderne Theaterwelt ihn längst abgehalftert hat. In gallig ausgefeilten Nuancen, mit viel sarkastischem Unterton und der Gestik souveräner Überheblichkeit brilliert der Schauspieler als letzter, lächerlich gewordener Propagandist einer abgetanen weimar-klassischen Sprech- und Ausdruckskunst. Nur mehr mit seinem routinierten Brustton, nicht mit Argumenten kann Hassenreuther sich gegen die zeitgemäßen Ansichten seines Schülers Spitta behaupten: Benjamin Muth, mit unbedarft-ernstem Knabengesicht unter genialischem Blondhaar, wiegt die Talentlosigkeit jenes „Geistesarbeiters“ mit dessen naiven, aber hohen Ambitionen als jugendlicher Liebhaber (von Hassenreuthers Tochter Walburga: Cornelia Wöß) auf.

     Das geht, versteht sich, nicht ohne bildungsbürgerliche Großrhetorik ab. Aber auch die kleinen Leute haben ihr Pathos und ein Recht darauf. Denn so unbeholfen, ungeschult es in poesieerfahrenen Ohren klingt – unschuldig klingt es auch, als dringlicher Indikator für Leidenschaft und Leid. Julia Leinweber vermag es durch vielerlei Töne in vielerlei Tönungen abzustufen oder aufzubauschen, von der insistierenden Überredungskunst zum grausamen Grimm, von der Lebenssehnsucht zur Morddrohung. In ihrem inneren Wesen teilen sich Wucht und Weh und finden in ihrem sehnig-straffen Körper als Eloquenz des Mienenspiels und wandelbare Leibhaftigkeit deutlich sichtbar wieder zusammen.

Extreme Gegensätze

Aber unverwüstlich ist selbst diese zu allem entschlossene ‚starke‘ Frau nicht. Ein weiteres Mal macht sich solche Doppelgesichtigkeit geltend: erst komisch, dann tragisch in Gestalt der zierlichen Carolin Waltsgott. Für zwei Rollen von extremer Gegensätzlichkeit hat Regisseur Neumann sie besetzt und auf diese Weise bezwingend zur Schnittstelle zwischen der Scheinwelt hassenreutherscher Theatralik und dem tasächlichen Arme-Leute-Dasein erhoben: Als vollreife Aktrice Alice, mit Aussicht auf ein Engagement, langt sie dem Herrn Direktor so unverhohlen brünstig an und in die Wäsche, als wollte sie die „Rampensau“ neu, nämlich buchstäblich definieren. Nur wenig später nimmt sie sich als kaum halbwüchsige Selma vollkommen zu Dürftig- und Zerbrechlichkeit zurück: Nun ist sie die aus Hoffnungslosigkeit krötige Tochter eines suchtkranken „Jespensts“ (Peggy [Polina] Bachmann als phlegmatische Morphinistin und Megäre), unfreiwillig im Begriff, ihrerseits „uff schlechte Weje“ zu geraten und ein Flittchen zu werden. Unerwünscht wie Ungeziefer, weiß sie sich zum „grausenvollen“ Dasein einer Ratte verdammt, ohne die geringste Chance, das sinkende Schiff zu verlassen.

     Fast so profund wie in Leinwebers Frau John, stark überspitzt, nie überzogen, personifiziert sich auch in Waltsgotts Selma die unentrinnbare Gefangenschaft und zeitlose Tragik des Prekariats. Es mag zum Ekeln sein. Es ist zum Erbarmen.

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Ein Rätsel ohne Lösung

„Der Kissenmann“: Schon der Titel klingt geheimnisvoll. Im Meisterdrama des Iren Martin McDonagh schweben das Leben eines Schriftstellers und das seines Bruders zwischen Dichtung und Lüge. Kristoffer Keudel hat es im Theater Hof in ein grausig-großartiges Kammer- und Kerkerspiel verwandelt.


Von Michael Thumser

Hof, 5. April – Jemand muss Katurian Katurian verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Auch in seinem Fall, wie im hier zitierten Roman Franz Kafkas, läuft alles auf einen „Prozess“ hinaus – auf einen kurzen Prozess allerdings. Dass die Befragung des verhinderten Schriftstellers zur peinlichen Befragung ausarten wird („Foltern wir ihn gleich?“) und noch am selben Tag in seine Hinrichtung mündet, steht von vornherein fest, was der Rechtsauffassung des ungenannten Unrechtsstaats, in dessen Fänge Katurian geriet, auch keineswegs zuwiderläuft. Ein verhinderter Schriftsteller ist er, weil er zwar vierhundert Geschichten ersann, aber nur eine einzige veröffentlichen konnte. Dass er ungeachtet dessen das Zeug zum fabelhaften Geschichtenerzähler hat, offenbart jeder seiner Stoffe und Texte, die im Studio des Theaters Hof zahlreich und ausführlich zur Sprache kommen. Offen bleibt indes, welche „Scheißgeschichte“ die wahre ist; oder, um es vorsichtiger mit Worten des Stücks auszudrücken: die „wahrere“.

     Das Stück, ein Meisterstück, gilt als das beste von Martin McDonagh. Gerade mal 33 war er, als er vor jetzt zwanzig Jahren mit dem „Kissenmann“ den Durchbruch schaffte. Hierzulande wissen vor allem Cineasten von ihm: Gelegentlich zeigt das Fernsehen seine hochgelobten, von ihm sowohl geschriebenen als auch inszenierten Filme „Brügge sehen … und sterben?“ und „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri”; heuer waren die „Banshees of Inisherin“ aus dem vergangenen Jahr für neun Oscars nominiert, wenngleich sie leer ausgingen; dafür nahm McDonagh bereits 2005 einen Academy Award für den „Besten Kurzfilm“ entgegen. Nun aber, und in Hof zum ersten Mal, ein Stück Theater aus seiner Feder; und was für eins.

Was ist Wahrheit?

Eines, das – wie die Sujets seines Protagonisten – dem Betrachtenden „irgendwie-esk“ vorkommt, in kafkaesker und noch anderer Hinsicht. Katurian Katurian heißt, merkwürdig zwiefach, der osteuropäische Schriftsteller, den der irische Schriftsteller McDonagh in die Mitte stellte; gewiss nicht zufällig erinnert der doppelt gemoppelte Vornachname an den von Humbert Humbert, der in Vladimir Nabokovs berühmter „Lolita“ zwar nicht als Autor, doch immerhin als Literaturwissenschaftler seinen pädophilen Trieben gehorcht. ‚Messianesk‘ gar führt die Grundfrage, die sich unter der Oberfläche des mehrfach gebrochenen Krimiplots auftut, tief ins Biblische zurück: „Was ist Wahrheit“, fragt im Johannes-Evangelium Pontius Pilatus ratlos den gefolterten Jesus, der für sich beansprucht, die Wahrheit zu sein.

     Kein Mensch ist „die Wahrheit“, das stand am Samstag zum Schluss der lang und teils stehend beklatschten Premiere im Studio fest. Ansonsten will und darf die Aufführung „ein Rätsel ohne Lösung“ bleiben, ganz so, wie Katurian Katurian sich eine gute Geschichte wünscht. Irritiert und amüsiert, abgestoßen und stark bewegt, jedenfalls unaufgeklärt lässt sie die Zuschauenden zurück. Dass sich gleichwohl Überdruss nicht für einen Augenblick einstellt, ist Kristoffer Keudels rhythmusbewusst geschwinder Inszenierung zu danken. Fesselnd dramatisch und explizit grausig hat er Katurians Verhör als makabres Beispiel für spitzfindig-doppelbödiges Schauspielertheater auf (zunächst) drei virtuos agierende Herren und eine (allzu) kissenweich abgepolsterte Kerkerbühne verteilt.

     „Foltern wir ihn gleich?“, fragt gierig Polizeiinspektor Ariel. Aber sein Kollege Tupolski will erst ein wenig mit dem Delinquenten reden. Mehrere Kindermorde haben die zwei aufzuklären – wenns stimmt –, Schreckenstaten, die bis aufs Haar Verbrechen gleichen, wie Katurian sie in seinen Erzählungen beschreibt. Hat er die alle frei erfunden? Oder verstecken sich in ihnen Reflexe einer verheimlichten Autobiografie, Geständnisse sogar? An seiner Schuld, die der Schriftsteller bestreitet, zweifeln die Inquisitoren keine Sekunde – es sei denn, sie tun nur so –: Jörn Bregenzer, furchterregend scheißfreundlich mit einem grinsenden Gebiss aus Haifischzähnen und schlagfertigem Köpfchen, scharfer Zunge und intellektuellem Stehvermögen; und Roni Merza als Verfechter „übertriebener Härte“, ein Maniac, dem die irren Augen beinah aus den Höhlen rollen und der mit Haushaltsstrom aus der Steckdose seinen Sadismus befriedigt. Zwei Witzfiguren eines repressiven Regimes in Klamotten wie aus der DDR der Siebziger (Ausstattung: Aylin Kaip): Als good cop/bad cop könnten sie ein einverständiges Team nach bewährtem Muster bilden, wenn sie einander nur nicht dauernd in die Haare gerieten. Oder tun sie nur so?

Wirklich und wahrhaftig?

Und sollte das wirklich und wahrhaftig Marco Stickel sein, der sich da als Katurian um Kopf und Kragen redet? Rotblond verfremdet die Mähne einer Perücke den sonst blanken Schädel des Schauspielers so, dass selbst zwei, drei genaue Blicke kaum reichen, um ihn zu erkennen. Als Beschuldigter hält er zwischen Angst und Selbstachtung kunstvoll die Balance, gibt sich mit konzentriertem Misstrauen zugleich kooperationsbereit und aufrecht unnachgiebig. Sollte er – was verspielte Videosequenzen makaber behaupten – tatsächlich das Produkt eines Experiments sein, zu dem seine Eltern ihn als Knaben monströs missbrauchten? Und hat er, der nun seiner eigenen Exekution entgegengeht, sie dafür seinerseits einst mit dem Tod bestraft? Zum Sterben erklärt er sich bereit, wenn nur sein Werk ihn überlebt: „Es geht nicht um Totsein oder nicht. Es geht darum, was man hinterlässt.“ Also gibt er weit mehr zu, als die Kriminalisten zu hoffen wagten, und verschweigt das Wichtigste.

     Wenigstens einen Blick auf das Wichtigste erlaubt, während der gute und der böse Bulle Pause machen, die visionäre Szene im Zentrum der Handlgung. Wenn schon das Stück die Lösungen für seine Rätsel letztlich für sich behält, darf doch Peter Kampschulte eine Zeit lang einige Maschen für ein Netz latenter Anhaltspunkte knüpfen. Als Katurians Bruder Michal kreiert er bestechend eine seiner sublimsten Rollen: einen „zurückgebliebenen“ Heiligen der Einfalt. Um herauszufinden, wie „weit hergeholt“ die Wahrheit ist, halluziniert der kindliche Mund des lächelnd Unmündigen Bruchstücke einer ganz eigenen, eigentümlich bezwingenden Logik hervor, die dann doch – so wie das Stück – bis zum Ende alles in der Schwebe lässt. „Es gibt kein Happy End im richtigen Leben“ (postuliert Katurian) – es sei denn, es ist ein Leben wie das Michals: eines, das zwischen dem Fiktiven und dem Fingierten, zwischen Dichtung und Lüge nicht unterscheidet und vielleicht darum, zumindest auf dem Theater, das „wahrere“ ist.

Informationen zur Produktion und zu den Terminen der weiteren Aufführungen: hier lang.



Der Teil ist mehr als das Ganze

Das „Kind unserer Zeit“ ist bei Ödön von Horváth ein Soldat zwischen den Weltkriegen und könnte doch fast ebenso gut ein heutiger Kämpfer aus Putins „Gruppe Wagner“ sein. Die Studiobühne Bayreuth zeigt den Roman, das letzte Werk des Autors, als aufrüttelndes Schauspiel.


Von Michael Thumser

Bayreuth, 1. April – Ödön von Horváth war ein Kind seiner Zeit; ein Kind beinah im wörtlichen Sinn. Nachdem er 1938, in Paris auf den Champs-Élysées unterwegs, von einem herabstürzenden Ast erschlagen worden war, rief ihm sein Freund und Kollege Joseph Roth nach, er sei „ein starker Mensch [gewesen], leichtfertig scheinbar, kindlich und boshaft und mit der scharfen Beobachtungsgabe ausgestattet, die Kinder besitzen“. Nur 37 Jahre ist Horváth alt geworden; den Zweiten Weltkrieg erleben zu müssen, blieb ihm erspart. Aber den Triumph der Faschisten in Deutschland und Österreich verfolgte er mit entsetzter Aufmerksamkeit. In zwei Romanen reagierte er auf die schamlosen Manipulationen, völkischen Indoktrinationen und rhetorischen Unmenschlichkeiten der Nationalsozialisten. Das zweite der Bücher erschien erst kurz nach Horváths groteskem Unfalltod im Amsterdamer Exil-Verlag Allert de Lange: „Ein Kind unserer Zeit“.

     Der Form nach ists ein knapp 110 Druckseiten langer Monolog, erlebte Rede. Folglich lässt sich, was schon wiederholt geschah, recht umweglos ein Stück Theater daraus machen: eines für eine Person. In der Studiobühne Bayreuth indes, wo das fast volle Haus stark der Premiere applaudierte, treten drei Männer und eine Frau auf, die meisten in verschiedenen Rollen und, anfangs, alle gemeinsam in einer einzigen: der eines unbekannten, ‚braven Soldaten‘. Der freilich ist von ganz anderer Art als beim tschechischen Autorenkollegen Jaroslav Hašek: Dessen kurioser „Schwejk Josef“ schlägt sich hinterfotzig und listenreich als Gemütsmensch durch den Kasernen- und Frontalltag.

„Bös muss man sein“

Horváths Krieger hingegen, seit dem Schulabschluss arbeitslos und durch die Disziplin des Militärs   („ein Paradies“) aller Sorgen und weiterer Unbequemlichkeiten wie des „Denkens“ enthoben, er bekennt sich fraglos wie im Rausch zum Gehorsam, zu dem man ihn abgerichtetet hat („Bös muss man sein“), denn der Einzelne „zählt nichts, er wird erst etwas in Reih und Glied“. Fanatisch verehrt er die starken „Führer“ seines neuerwachten „Vaterlands“; er hasst die „finsteren überstaatlichen Mächte“, die es zuvor lang genug in die Irre geführt haben; seinen „ausrangierten“ Vater verachtet er und alle „Ewig-Gestrigen“ mit ihrem „faden pazifistischen Gesäusel“ gleich mit. Während der überfallartigen „Spezialaktion“ seiner Streitmacht in einem „dekadenten“ Nachbarland beteiligt er sich ungeduldig am „Säubern“, Aufknüpfen, Niederschießen: „Krieg ist ein Naturgesetz“; und überhaupt: „Kein Recht ohne Gewalt.“ Unterwerfung – die eigene und die der Feinde – ist ihm eine Lust: „Die Welt war so aussichtslos geworden und die Zukunft so tot. Ich hatte sie schon begraben. Aber jetzt hab ich sie wieder, meine Zukunft.“

     Angemessen „aussichtslos“ hat Ausstatter Jens Hübner die Einheitsbühne gestaltet: Karge, graue Wände umstehen die Spielfläche kerker- oder bunkerartig wie der „bombensichere Beton“, den Horváths Buch erwähnt; Türen – wer weiß, wohin – gibt es, aber Fenster nicht. Aus-Blicke tun sich dennoch auf, etwa auf kurze friedvolle Visionen, die zuweilen neblig durch die Rückwand schimmern. Sonst herrscht Steinhärte in Szenerie und Szenen wie in den Herzen der Figuren. Franz Rupprecht, kurz, kompakt und vehement, legt sich mit dem Gros des Textes körpersprachlich und, mehr noch, mienenspielend kräftig ins Zeug, anfangs von Lisa Friedrich, Pierre Soldatenko und Klaus Meile vervierfacht, geschützt, angerührt, stimuliert, verführt ...; später als Einzelkämpfer gegen eine elende Existenz provoziert und aufgebracht; schließlich ernüchtert, abgestoßen.

     In der Inszenierung Dorothea Kirschbaums – die eigens für die Bayreuther Produktion auch die Bühnenfassung schuf – vollzieht sich jene Wandlung des anonymen Infanteristen halb chorisch oder dialogisch im Ensemble, halb im Selbstgespräch, als Hasstirade und als Abgesang. Der Hauptmann, den er, der Menschenhasser, als Einzigen auf Erden liebt, wendet sich, durch Gräuel traumatisiert, aus „Ekel vor meinem Vaterland“ von der Truppe ab und geht mit Absicht in den Tod. Der Soldat, zum Invaliden geschossen („Er gab seinen Arm für einen Dreck“) kehrt in die Drangsale der hungernden Heimat zurück, um ein Mädchen wiederzufinden, in das er sich einst am „Verwunschenen Schloss“ eines Rummelplatzes auf den ersten Blick verliebte. Doch wurde sie zwischenzeitlich schwanger und darum „abgebaut“; abgetrieben hat sie und darbt nun im Gefängnis. Auf dem Kriegsschauplatz wie daheim sieht der „Krüppel“, der die Soldatenkluft auch als ziviler Mörder noch ein Weile tragen darf, Unrecht und „Ungerechtigkeit“ ins Monströse wachsen.

Eine Art von Pietà

In der beeindruckendsten Szene der Aufführung erscheint ihm ein übermächtiger Offizier, einen Kopf größer als er (Klaus Meile, vielleicht der tote Hauptmann?) und hypnotisiert ihn mit einer „Hymne an den Krieg ohne Kriegserklärung“ über Heldentum und Denkmäler, „Lichtgestalten“, „Schutt und Asche“, Schändung und Raub: „Gedeihet nach dem Gesetz der Gewalt!“ Wieder bei Besinnung, umfangen von der Eisigkeit des bombensicheren Betons, geht der Soldat freiwillig in den winterlichen Kältetod. Das „Kind“ seiner Zeit ist, als ein Ganzer für sich, erwachsen geworden und zwar zu keiner Zukunft, aber zur Vernunft gekommen: „Es darf nicht sein, dass der Einzelne keine Rolle spielt.“ Das Schlussbild: eine Art von Pietà.

Heute könnte der Bayreuther Soldat, unter Wladimir Putins Hakenkreuz, dem „Z“-Symbol, ein Freiwilliger aus der „Gruppe Wagner“, Russlands Waffen-SS, sein. Doch wagen es derzeit wohl nur ein paar Fantasten, auf einen Gesinnungswandel in der brutalen „Spezial“-Einheit des Autokraten zu hoffen. Im Jahr vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hielt Stefan Zweig den Roman Horváths für „eines der wichtigsten deutschen Dokumente des Zeitalters“; in der Studiobühne rüttelt die unheilschwanger dunkellyrische Prosa neuerlich auf. Joseph Roth vermochte „unsere Zeit“ nur im Rausch noch auszuhalten: Während der Beerdigung des Freundes am 7. Juni 1938 war er stockbetrunken und fiel, als er die Trauerrede halten sollte, ins offene Grab.

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Unschuld im Zeichen des Krieges

„Wofür wärt ihr bereit zu sterben“, fragt die „heilige“ Johanna das Publikum im Vogtlandtheater. Unterm Eindruck des Ukraine-Kriegs hat Regisseur Harald Fuhrmann die „romantische Tragödie“ Friedrich Schillers als Antikriegsstück inszeniert. Bisweilen trägt es dick auf, aber die Haltung ist unmissverständlich.


Von Michael Thumser

Plauen, 17. Februar – Diese Ansprache könnte Wladimir Putin nicht anmaßender, nicht infamer halten; er hielt sie ja auch so: drei Tage, bevor er Russlands Truppen die Ukraine überfallen ließ. Im Theater Plauen trat mit ihr am Premierensamstag, gleich zu Beginn der „Jungfrau von Orléans“, die Schauspielerin Ute Menzel ans Mikrofon, als Frankreichs Königsmutter Isabeau, die es mit England, dem Aggressor und Besetzer, hält: Frankreich, tönt sie schneidend, sei „integraler Bestandteil“ des Nachbarstaates jenseits des Kanals, beider „Kultur“, „geistiger Raum“, „Geschichte“ seien eins, hier wie dort hätten sich im Glauben daran die Reihen „aller patriotischen Kräfte“ dicht zu schließen.

     So steht das freilich nicht in Friedrich Schillers „romantischer Tragödie“. Überhaupt mischt in ihrem Text so mancher Fremdkörper mit, Versfetzen aus des Dichters „Wallenstein“ („Der Bürger gilt nichts mehr, der Krieger alles“), erst recht Vokabular der Gegenwart: „Aggression“, „Biografie“, „elektrisiert“ ... Während das Ensemble des Vogtlandtheaters damit imponiert, wie luzid und temporeich es den diffizilen Blankversen des Klassikers druckvoll Leben zu vermitteln weiß, offenbart sich auch, wie frei der Regisseur Harald Fuhrmann mit Anliegen und Aussagen des Originals umgeht.

Kein Platz für Heroismus

Er tut es, weil sich die Zeiten seit der Uraufführung gründlich wandelten, mehrfach, nicht erst durch die jüngste „Zeitenwende“. Vermutlich ging  im neunzehnten Jahrhundert kein Drama häufiger über deutsche Bühnen; heuer vor 125 Jahren, am 1. Oktober 1898, kam im neu erbauten Plauener Haus die „Jungfrau“ als dessen allererste Produktion heraus. Doch sie so aufführen, so aushalten wie dereinst, mit nationalem Hochgefühl und vaterländischem Gedöns, das mag und darf niemand mehr. Fuhrmanns Regie rechtfertigt den Krieg nicht als ultima ratio der Politik, sondern diskreditiert ihn als ihr widerlichstes Mittel.

     Die implizite Idee des Stücks von einem ‚gerechten‘ Krieg wendet der Regisseur gegen den Autor an, das – namentlich am unhistorischen Schluss verquere – Heldinnengedicht deklariert er zum Antikriegsstück um. Auf der abschüssigen Szenerie von Ausstatterin Monika Frenz – einer gestürzten, gezackt durchschlagenen Betonwand – reihen sich mehr und mehr Leichensäcke und nehmen jedem Anflug von Heroismus sowohl den Atem wie den Raum.

Als unschuldige, „heilige“ Kriegerin „des höchsten Gottes“ führt Jeanne d’Arc, das achtzehnjährige Schäfermädel, die Franzosen in die Befreiungsmetzeleien gegen die Okkupanten aus Britannien und Burgund. Doch nach den ersten Siegen, auf halber Strecke, aufzuhören mit dem „Streit“ („Einmal erwacht, bezähmt er spät sich wieder“), das bringt sie nicht über sich. „Dem Tod will ich die Brust entblößen in der Schlacht!“, hält sie schroff der  einflussreichen Königskonkubine Agnes Sorel entgegen (Julia Hell, als Mätresse mit klugem Pragmatismus, aber auch mit enthusiastisch leichtem Blut gesegnet), als die sie freundschaftlich ermuntert, sich einen ihrer vornehmen Bewerber zu erwählen. Als eiserne Jungfrau weicht Johanna, „unberührt“,  vor jeder warmen Fühlungnahme mit einem Mann zurück, muss aber doch erfahren, dass im Krieg jeder die Unschuld verliert.

Vertrauen und Verrat

Denn zwar hat Johanna ihrem König zur Krone und dem (eine Nummer zu großen) Thron verholfen. Für ihn - bei Hanif Idris ein weinerlich händeringender Hänfling, gut- und gottgläubig unterm Testosteron-Einfluss seiner hitzigen Resistance- und Söldnertruppe – hat sie gesiegt. Jedoch zu triumphieren erlaubt sich Johanna Franke in der Titelrolle nicht. „Sei immer menschlich“, rät sie vertrauend dem schwankenden Monarchen, der sich bald anschickt, als Verräter seine Feldherrin unmenschlich an die Feinde auszuliefern. „Fürchtet die Zwietracht!“, mahnt Johanna und trägt doch selbst Zwietracht im Innern, ringt ratlos mit sich im Streit zwischen ihrem himmlischen Auftrag und ihrer Angst vor ihm. Ihre Friedenssehnsucht ist ihr Wunsch nach Heimkehr zur Weide ihrer Schafe; ein Wunsch, den sie sich nicht erfüllt.

     Eine Überfrau – zur Verletzlichkeit verdammt: Als jungenhaftes Mädchen, als Kind fast steht Franke, starr oft, da, „immer ernst und streng“ und mit verhangenem Blick. Eine handfest-heillose Heilige zeigt sie, die geliebt, nicht angebetet werden will. Vermeintlich gottgesandt, ist sie aus der Übung geraten, auch Mensch zu sein; als Mensch lässt die Schauspielerin zunehmend Zweifel spären, der Sendung noch lange gewachsen zu sein. Auf ihrer Fahne, die sie über den Leichensäcken schwingt, prangt in zartem Weiß eine Friedenstaube, der sie selbst nicht folgt: „Fortzündet an dem Brande sich der Brand.“

     Derlei Überdeutlichkeiten treten in der Aufführung an mehr als einer Stelle allzu explizit hervor; zumal den Schluss darf man für arg dick aufgetragen halten. Da verwandelt sich, von der Bühnenschräge ab- und hart an die Rampe tretend, Schillers klassisch-romantische Johanna in die Plauener Zeitgenossin Johanna Franke, um ins (danach begeistert applaudierende) Publikum hineinzufragen: „Würdet ihr kämpfen?“, „Wofür seid ihr bereit zu sterben?“ Schon vorher hat sie, wie die Isabau der Ute Menzel, ins Mikro mahnend gegen den Feind agitiert: „Sein Terror soll unseren Widerstand brechen“ – so hätte auch Wolodymyr Selenskyj sprechen können; so sprach er ja auch. Wird Krieg  ‚gerecht‘, wenn Verteidiger ihn gegen unprovozierte Aggressoren führen? Darüber streiten lang schon Politiker, Militärs und Philosophen; auch die Plauener „Johanna“ lässt die Frage offen - unlösbar, wie sie nun mal ist. Aber dass Krieg je „heilig“-gesprochen werden könnte, das scheint auch auf dieser Bühne ausgeschlossen.

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Zwei sind zu schwer füreinander

Auf dem Oktoberfest gehts traurig zu: Kasimir und Karoline trennen sich und trudeln bedröppelt durch die Öde einer törichten Volksbelustigung. Im Theater Hof inszeniert Intendant Reinhardt Friese das Volksstück Ödön von Horváths rhythmusbewusst als satirische Tragödie im Alkoholdunst.


Von Michael Thumser

Hof, 14. Februar – Jetzt trennen die sich schon wieder. Am Beginn der Spielzeit, im September, war es Carolin Waltsgott und Benjamin Muth beschieden, als Traumpaar zusammenzufinden und trotzdem auseinanderzugehen: In Jason Robert Browns Kammermusical „Die letzten fünf Jahre“ versuchten sie vergebens, eine sonnige Jugend- und Studentenliebe am Leben zu erhalten über die ihr vergönnte lichte Zeit hinaus. Nun, als Kasimir und Karoline, geben die Schauspielerin und der Schauspieler ein erst recht zum Scheitern verurteiltes Paar: eine Schutzgemeinschaft gegen die Einsamkeit. Vor 31 Jahren stand die lieblose Lovestory, die Ödön von Horváth nach den beiden Hauptfiguren benannt hat, zum letzten Mal auf dem Spielplan des Theaters Hof; die jetzige Neuproduktion, vom Premierenpublikum am Samstag mit beträchtlichem Beifall bedacht, ist die erste, mit der sich der – wahrlich nicht wenig inszenierende – Hausherr dem (in seinem Haus überhaupt so gut wie nie gespielten) Autor zuwendet. Man darf Reinhardt Friese nachsagen, einen hochgradig eigenen Ansatz dafür gefunden zu haben, einen sehr zeitgemäßen.

     Von Horváths Seite, dessen neunzig Jahre altem Text der Intendant ganz treu bleibt, übernimmt er zwar die grandiose Idee, eine Beziehungskatastrophe im Rahmen einer Volksbelustigung durchzudeklinieren; aber das (Münchner) Oktoberfest des (österreichischen) Volksstückeschreibers findet in der Hofer Szenerie nicht statt. Vom zwangsvergnügten Rundlauf des Rummels leiht Friese sich nur das Kreismodell des Karussells – die (von Ausstatterin Annette Mahlendorf imponierend minimalistisch entworfene) Bühne leiht es sich. Auf deren Drehscheibe könnten die Figuren elegant in einem Kreis der Sinnlichkeit kursieren wie die begehrlichen Gestalten auf dem „Ringelspiel“ in Max Ophüls’ berühmter Verfilmung des schnitzlerschen Liebes-„Reigens“; aber eigentlich fahren sie auf die Bildfläche ein und wieder hinaus wie das Männlein und Weiblein im hygrometrischen Wetterhäuschen. Über ihnen: ein schwarzer Himmel, in dem sie hin und wieder nach einem imaginierten Zeppelin ausschauen und der, umso greifbarer, voller roter Sterne hängt. Ansonsten macht sich Leere breit, in der sich der Bier- und Schnapsdunst tiefer Depression verdichtet.

Das Prekariat der Siebziger

Mit hundert Minuten einer satirischen Tragödie füllt Reinhardt Friese dies Ödland. Aus dem Uraufführungsjahr 1932 holt er den Stoff ins Prekariat der textilbunten 1970er. Kasimir, mit Vokuhila und im Jeansanzug, hat soeben erlebt, was leicht passieren kann: Den Job ist er losgeworden und jetzt, gelinde gesagt, frustriert. Karoline, im grünen Fähnchen und auf ebensolchen Plateauschuhen, verdient hingegen ganz gut und hätte locker „schon zwei Mal einen Beamten heiraten können mit Pensionsberechtigung“; trotzdem hängt sie noch am Partner, wenn auch lose. Sie will sich amüsieren, er kann es nicht. Schürzinger (Oliver Hildebrandt, kein Schürzenjäger, sondern halbes Hemd, jedoch nicht ohne Charme) kann es und steigt ihr bauchpinselnd nach: Auch die Hintergedanken sind frei.

     „Ich denk ja gar nichts, ich sag es ja nur“, sagt Karoline. Man redet also: vom sternendurchleuchteten, zeppelinumgaukelten Himmel und von der Erde, auf der nur durchkommt, wer sich entschließt, ein „Egoist“ zu sein; von der „allgemeinen Krise“ und vom „Privaten“, die beide „unheilvoll miteinander verknüpft“ sind; zwei notgeile alte Säcke (Ralf Hocke als sehr schwarz-weiß karierter Kommerzienrat, Volker Ringe als Landgerichtsdirektor mit giftgelben Augengläsern) reden vom Popo, durch den ein Mädchen erst zum Mädchen wird. Und Kasimir redet davon, dass Karoline ihn, weil er keine Arbeit hat, wohl nun verlässt; solange, bis sies tut.

     Darüber hinaus geschieht im Stück nicht viel; auch auf der Bühne nicht. Was zwischen den Figuren sich ereignet – und das ist umso mehr –, das findet im Gesprochenen statt und in der Art des Sprechens. Ein Hörspiel wäre leicht daraus zu machen; in Hof ist es das keineswegs. Denn im Ensemble (und es lohnt sich, genau hinzuschauen) drücken sprechend sich die Kleingebärden aus, Mutationen desillusionierter Mimik und Posen der Enttäuschung, zwanghaft lachende Versuche, lustig zu sein, und Momente, wo sich Miesepetrigkeit zur realen Pein auswächst. Auf der Drehbühne dreht sich rädernd eine unbewusste körperliche Feinmechanik der Entfremdung,

Stangeneis und Luftballon

Zu Kasimir sagt Karoline, sie seien wohl „zu schwer füreinander“. Karoline ist, bei ihrer Namensvetterin Waltsgott, nur scheinbar leicht, weil kurz und zierlich, putzig und sogar etwas pathetisch. Mit zarten Kinderhänden, die gern ein Stangeneis und einen Luftballon festhalten, hält sie ihr kleines Dasein fest. Auch an Kasimir hält sie fest; und sucht doch halbherzig nach etwas Besserem. Er ahnt, dass er mit Karoline die Wand verliert, zu der er mit dem Rücken steht; schnell lassen Benjamin Muths Breitbeinigkeit und künstlich gehärtete Gesichtszüge Verstellung ahnen: Unter seiner Rüstung rauer Rüpelei liegen alle Nerven blank, regiert die Lebens-, fast die Todesangst, und seine Flegelhaftigkeit ist verkappte Werbung um sein entschwindendes Mädchen, wenn auch durch Sorgen ins Gegenteil pervertiert. So macht er seiner Karoline freilich Angst: Sie, die „tief unter sich hinunter“ muss, will eigentlich „hinauf“ und jedenfalls nicht enden wie dem Merkl seine Erna. Die schwurbelt von „Revolution“ und demütigt sich bei Alrun Herbig trotzdem bis zur Selbstverachtung. Das Riesenveilchen rund ums Auge hat ihr der Merkl Franz in einer Bierlaune gehauen: Dominique Bals, der als blökend-pöbelnder Proll des Guten zu viel tut.

     Denn Horváths Stück und seine Hofer Inszenierung sind ein Stück des ‚Wenigen‘: der kleinen Dosis, des Quäntchens statt der Quantität. Wer Ohren hat, zu hören, der hört aus den Gestalten, unter Versuchen eines kultivierten ‚hohen‘ Tons, das Kleinlaute heraus und noch in der Großmäuligkeit die Leisetreterei, im Krakeel das Kriechertum. Gefügig nimmt Reinhardt Friese die Redeweise Horváths beim Wort, beim unausgesprochenen zumal: Nie wird Schweigen zur Leerstelle, und das Verstummen ist immer eine Spielart der Eloquenz. Indem Regie, Aktricen und Akteure nuancengenau den Rhythmus in den Dialogen wahren, laden und werten sie die vielen schmalen und breiten Pausen, in denen nicht gesprochen wird, mit Beredtheit auf. So wie sich die Figuren und die Szenen voneinander trennen, so weichen auch die Sätze auseinander.

     Auch Musiker gibt es: Franz Tröger als müden, wenn nicht lebensmüden Keyboardspieler und Cornelia Löhr im Dirndl wie eine Marianne ohne Michael. Aus hängenden Mundwinkeln jubiliert sie herzlos über die Liebe: „Sag mir quando, sag mir wann / ich dich wieder küssen kann.“ Der Schlagerkitsch ist Schwindel wie die Sternenpracht, der Zeppelin, die Männlichkeit der Macker, wie Karolines Kandiszuckrigkeit. Aus einer Schnapsflasche gibt die Sängerin dem Begleiter einen aus. Auf diesem Volksfest können auch die Stimmungsmusikanten trinken, ohne lustig zu sein.

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Wie aus Leichen Engel werden

Alt wurden die beiden nicht. Aber der Ruf von Bonnie und Clyde braust auch bald neunzig Jahren nach ihrem Tod wie Donnerhall und Maschinenpistolen-Geknatter. Im Selber Rosenthal-Theater erzählte eine polternde Posse „die wirklich wahre Geschichte“ des berühmten Verbrecherpärchens.


Von Michael Thumser

Selb, 14. Januar – Gibsland, Louisiana, 23. Mai 1934: Nachdem Bonnie Parker und Clyde Barrow der Polizei in die Falle getappt sind, verendet das Liebes- und Verbrecherpärchen in einem Kugelhagel, achtzig Mal durchlöchert. Nicht viel länger als zwei Jahre lang waren sie im mittleren Westen der USA unterwegs, hatten auf dem Land Läden, Banken, Tankstellen ausgenommen und dabei nicht allzu spektakulär Beute gemacht, allerdings vierzehn Menschen massakriert. Beide waren, als sie ihr Ende fanden, noch keine 25.

     Selb, Hochfranken, 12. Januar 2023: Bonnie und Clyde sind am Leben, bewohnen bürgerlich, wenn auch nicht gutbürgerlich ein Reiheneckhaus, fahren, statt in der geklauten Ford-V8-Limousine, in einem ordnungsgemäß geleasten Auto durch die Gegend und versuchen mittels Schockanrufen bei älteren Herrschaften, sich finanziell durch den Enkeltrick über Wasser zu halten.

     Das ist natürlich alles Käse; so wie das ganze Narrenstück, das Alexander Liegl, der Autor, zusammen mit dem Kabarettisten Michael Altinger und der Komikerin Constanze Lindner lärmend auf die Bühne des Rosenthal-Theaters stellen. „Ratatata“ heißt die Posse, nach dem Geknatter einer voll aufmunitionierten Maschinenpistole vom legendären Typ Thompson M1928 Chicago Typewriter, dem Lieblingsgeräusch des historischen Killer-Duos. Der Untertitel behauptet, „die wirklich wahre Geschichte von Bonnie und Clyde“ zu erzählen, doch will der Klamauk dies dem laut lachenden und mit Szenenapplaus freizügigen Publikum nicht ernsthaft glauben machen.

     Wüst chargierend und grimassierend, beim overacting weiteifernd, mit Lust an blitzgeschwinder Verkleiderei, ohne Scheu vor kindlichem Gekasper und Krakeel teilen die drei sich in insgesamt knapp zwanzig Rollen; eine singende und swingende Gospeltruppe eingeschlossen. Denn zwischen Konfusion und Chaos, Gepolter und Geballere ist noch Platz und Zeit für (teils exotischen) Tanz und Tralala, wofür Andreas Rother und Stephan Auer die Musik ersannen und Michael Altinger die Songs textete, die leider kaum verständlich werden bei all dem Radau.

     Boulevardgemäß spielt auf der – von Constanze Lindner rudimentär ausgestatteten – Bühne eine Reihe weißer Türen drei weitere Hauptrollen. Durch sie kommt dem schnell überforderten Ganoven-Paar neben vielen anderen erst ein nörgelnder „Niedermieter“ aus dem Souterrain in die Quere, kurz darauf eine dralle Gymnastiktrainerin – sexgeil, wenn auch „allergisch auf Nüsse“ –, sodann nach und nach drei drillingsgleiche Bankangestellte mit Hang zur Erpressung, ein trotteliger Radiopodcaster unterm Texashut, zwei übergriffige alte Damen aus der näheren Verwandtschaft (die „Schrecken der Kindheit“) und, nach dem Umzug ins Luxor Casino von Las Vegas (das hier Cleopatra Hotel heißt) ein altägyptischer Zimmerkellner im goldverbrämten Tutanchamun-Outfit. Höhere Erlösung aus all der Heillosigkeit offeriert zwischendurch Reverend Baxter („Taufen kann ich wie der Teufel“) – er kümmert sich regelmäßig um die Leichen, die unvermeidlich anfallen: „Meine erste Letzte Ölung läuft wie geschmiert.“

     Bei all der absurden Alber- und Reimerei: Ganz hirnbefreit ist der burleske Schmarren  aus dem Münchner Lustspielhaus nicht und imponiert, wenn schon nicht durch Eruptionen des Esprits, so doch als vulkanischer Ausbruch forcierten Spieltriebs und konditionsstarken Komödiantentums. Am Ende wird dem prominentesten Gesetzesbrecher-Gespann aus Amerikas tiefster Depression gar ein beglückender Abgang zuteil: Schon anfangs haben sie sich als „zwei Sterne am Halunkenhimmel“ funkeln sehen; nun steigen sie tatsächlich auf ins Jenseits der mythischen Meister des Mords – zwei Engel der Schwerkriminalität, mit Flügelchen auf den durchsiebten Rücken.

     Dann ist aber auch genug.

Nächste Veranstaltungen im Rosenthal-Theater: Heute, Samstag, 19.30 Uhr, „Verrückte Zeit“, Handpuppen-Comedy mit Sebastian Reich und Amanda; Mittwoch, 19.30 Uhr, „Respect“, Aretha-Franklin-Tribute-Show.



Unter uns, unter Mördern

„Die Hölle, das sind die andern.“ In Plauen ist die Hölle ein Würfel nur aus Licht. In ihm setzt das Vogtlandtheater, gemäß Jean-Paul Sartres sprichwörtlicher Devise, die „Geschlossene Gesellschaft“ dreier schuldbeladener Seelen der Marter ewiger Zwangsgemeinschaft aus.


Von Michael Thumser

Plauen, 10. Januar – „Ihr, die ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren“: So rät die Aufschrift über dem Tor zum „Inferno“ den Erdenmenschen, die post mortem zur Hölle verdammt sind, so wie der Italiener Dante Alighieri sie sich vor siebenhundert Jahren in seiner „Göttlichen Komödie“ ausmalte. Hier blüht den Sündern nichts als ewig unentrinnbare Gefangenschaft, unendliche Qualen, Kakerlaken und Gestank, sengendes Feuer, schneidende Kälte … Die unmenschlichste Pein aber fügte 1944 erst Jean-Paul Sartre hinzu: Nichts ist furchtbarer als der Mensch in der „Geschlossenen Gesellschaft“ der Mitmenschen. „Die Hölle, das sind die andern.“ Dies gilt (behauptet die Parabel) im wahren Leben stets, sofern der oder die Einzelne den Mut zur Freiheit nicht fasst.

     Folglich erkundigen sich im Vogtlandtheater Garcin, Inès und Estelle, drei in die Unterwelt Verdammte, vergeblich nach dem vermeintlich ortsüblichen „Folterknecht“, nach „glühenden Zangen“ und „Halseisen“. Es braucht sie nicht; es braucht in Plauen – wo das vielleicht berühmteste Schauspiel des französischen Existenzialisten bis zum Mai auf dem Spielplan steht – nicht einmal ein Gefängnis. Ausstatterin Jule Dohrn-van Rossum brachte Jan Steinbachs bündige, mit Bitterkomik leise untertönte Inszenierung bindend final zwischen einfachen dünnen Leuchtleisten unter. Wände hat der Kubus, luftig-leer über dem Boden der Kleinen Bühne schwebend, keine – dennoch finden die Eintretenden niemals wieder hinaus. Für immer sind und bleiben sie einander ausgeliefert, auf Gedeih und Verderb; auf Verderb, wie sich während der hundert pausenlosen Spielminuten zeigt.

Der Spiegel, das sind die andern

Denn auf der quadratischen Arena, wo alles fehlt, „was nach einem Spiegel aussehen könnte“, kämpft jeder der drei für sich gegen die „Spiegel“, die er in den beiden anderen erkennt, um sich selbst in ihnen zu erkennen. Um zweierlei entbrennt der Kampf: um ein „Schweigen“, das die eigene Schuld klein oder unkenntlich machen soll; und um Dominanz über das doppelte Gegenüber. Auch dass die Insassen sich handgreiflich zerfleischen, kommt zwar vor. In erster Linie aber setzen sie einander analytisch und amourös mit Worten zu, mit Wahrheiten sowohl wie mit verbalen Winkelzügen, in denen das „Schweigen“ dröhnende Potenz gewinnt.

     Sich gegenseitig ausforschend und umwerbend, piesacken und provozieren, stacheln und stimulieren, kujonieren und tyrannisieren sie einander: bei Sartre eine Zwangs-, Not- und Schreckensgemeinschaft dreier Unvereinbarer; in Jan Steinbachs bezwingend zwischen Vehemenz und Verstummen changierender Inszenierung zugleich ein Dreieck von intensiven Spannkräften. Solche Geschlossenheit verdankt das Ensemble paradox den unüberbrückbaren Brüchen und Klüften zwischen den Figuren, die im Leben zu gedeihen versuchten, indem sie das Verderben von Menschen, deren Tod gar ins Werk setzten.

Die Masken fallen

Mithin „unter uns, unter Mördern“ hat Sartres Hölle ihren Platz. Als Inès stößt Ute Menzel, in allen Bühnenfacetten der Charakterkunst und Charakterlosigkeit virtuos erfahren, die Gegenspieler mit mürrischer Muffigkeit von sich. Die Herausforderndste, Mutigste der Trias scheint sie zu sein; umso weichlicher indes umschmeichelt und umbuhlt sie Estelle, und als sie die zeitweilig an Garcin verliert, quittiert sie seinen trostlosen Triumph mit galligem Gelächter. Die junge, einmal mehr staunenswerte Johanna Franke erkundet ihre Gemütslage von Augenblick zu Augenblick neu, wenn sie sich als Estelle eingeschüchtert in scheinbar vornehmer Zurückhaltung übt. Als reiches „Miststück“ hat sie ihr Erdendasein beschlossen; jetzt allerdings, als einer „Toten“ – oder „Abwesenden“, wie sie bänglich lieber sagt –, sind ihr bloß ein paar Reste nutzloser Eitelkeit und ein Lippenstift geblieben. Als ihre Maske fällt, wirft sie sich lieblos Garcin an den Hals und an die Lenden, der sich bei Philipp Andriotis als „richtiger Mann“ und ganzer Kerl geriert („Ich habe keine Angst“). Bald aber entpuppt er sich als eher halbes Hemd: Mit allzu voll genommenem Mund und umso leererem Herzen schrumpft er vor den Frauen zum „Feigling“, kampf- und lebensuntauglich, „nackt wie die Würmer“.

Nackt wie sie alle, feig wie die andern: Jeder ist dem Nächsten eine „Falle“, die niemand zu umgehen vermag. Als sich (durch Lichtwechsel) das Höllentor, also die unsichtbaren Wände des Kubus einmal für Momente öffnen, fehlt ihnen die Courage zur Rückkehr ins Diesseits, ins Leben. Sie lassen, mit der Hoffnung, die Freiheit fahren und mit der Freiheit die Hoffnung.

■ Als Grundlage der Rezension diente die Aufführung vom 8. Januar.
■ Informationen zur Produktion und zu den Terminen der weiteren Aufführungen: hier lang.
■ In Kooperation mit dem Theater zeigt der Filmpalast Astoria in Zwickau am 18. und 19. Januar den Film „Eingeschlossene Gesellschaft“ (2022) von Sönke Wortmann, der Sartres Stück modern adaptiert. Hier sitzen sechs Lehrkräfte zwar nicht in der Hölle fest, aber sie wurden von einem besorgten Vater im Lehrerzimmer eingeschlossen, um über die schulischen Leistungen seines Sohnes zu verhandeln.



Zehn Sekunden Freiheit

Ein Pärchen verabredet sich zum Doppel-Suizid, findet dann aber beieinander eine Wärme, mit der in der winterkalten Welt nicht mehr zu rechnen war: Als mobile Produktion des Theaters Hof geht Igor Bauersimas Bühnenhit „norway.today“ auf Tour, tragisch, komisch und jedenfalls bedenkenswert.


Von Michael Thumser

Hof, 17. Dezember – Wer noch nicht dort war, kann sich den „Predigtstuhl“ im Internet anschauen. Zahllose Fotos und Videos im Netz inszenieren das Felsplateau über dem norwegischen Lysefjord als singuläres Naturwunder. Preikestolen heißt in der Landessprache die Kanzel, die an ihrer Kante abrupt so senkrecht abbricht, als wär der glatte Stein mit dem Winkelmaß bearbeitet. Geländer oder andere Sicherungsvorrichtungen fehlen. So geht es für jeden, der versehentlich einen Schritt zu viel tut oder den letzten Schritt gehen will, von hier aus sechshundert Meter in die Tiefe.

     Ein langer Sturz: Bis ein Körper unten aufschlägt, dürfte er zehn Sekunden unterwegs sein, rechnet August aus. Online hat er mit Julie vereinbart, an einem touristenfreien Abend hier zusammenzutreffen, um gemeinsam in den Tod zu springen. Denn mit dem Dasein und den Menschen sind sie fertig. Um so zu empfinden, sind die beiden noch zu jung, wie man leichthin so sagt, aber ihr Entschluss steht felsenfest. Mehr oder weniger. „Ich passe nicht unter Menschen“, findet Julie, die „nicht mal depressiv“ ist, aber im Leben „alles gehabt“ und nun vom Leben selbst genug hat. „Ich konnte mir nie vorstellen, dass ich mal was mit dem Leben zu tun haben könnte“, plappert verschleierter, aber auch redseliger der hibbelige August, dessen „Schicksal“ es ist, immer wieder „vom Unglück überrascht zu werden“. Das Einzige, „was Bestand hat“, da sind sie sich einig, „ist die Langeweile.“ Alles andere „ist Fake“.

Die wahre Geschichte

Die Geschichte ist Theater, aber real ist sie auch. Vor 22 Jahren hat Igor Bauersima den kruden Plot in sein seither vielgespieltes Erfolgsstück „norway.today“ umgemünzt. Bei der Uraufführung im November 2000 am Düsseldorfer Schauspielhaus lag das zugrunde liegende Ereignis gerade mal sieben Monate zurück: Im Spiegel war der (heute 58-jährige) Autor auf die Meldung über ein jugendliches Pärchen, einen Norweger und eine Österreicherin, gestoßen, die via Internet-Chat ihren gemeinsamen Suizid sorgfältig planten und am Preikestolen ins Werk setzten.

     Das Publikum, das am Dienstagvormittag im Studio des Theaters Hof der Premiere gebannt und zunehmend amüsiert zusah, Neuntklässler aus dem Schillergymnasium, es war nicht viel jünger als die beiden Lebensmüden des Stücks. Sind fünfzehnjährige Schülerinnen und Schüler nicht noch viel zu jung dafür? Wohl kaum. Im Jahr 2020 ging hierzulande an jedem zweiten Tag ein junger Mensch zwischen zehn und zwanzig freiwillig in den Tod. Also trifft die Aufführung, von Marco Stickel inszeniert und als mobile Produktion dem Format von Klassen- und Gemeinschaftsräumen angepasst, mit ihrer tragikomischen Brisanz nicht den Alltag der Altersgruppe, wohl aber ihren Nerv.

     Eiseskälte ist zu sehen und zu spüren: Im Studio, wo eine transportable schlichte Rampe die himmelhohe Klippe über dem Fjord, das Ende der Welt, die Grenze des Lebens markiert, besetzen Julie und August in Winterklamotten, mit Ruck- und Schlafsäcken, Zelt und „zehn Dosen Bier“ den von weißen Flocken stiebenden Schauplatz. Sie schlottern. Und erwärmen sich. Vielleicht wieder für das Leben, das sie doch weggeben wollten? Jedenfalls füreinander. Alrun Herbing, im Schwarz der Trauer und der Existenzialisten, schießt die Sätze der holztrockenen Julie knapp und gezielt wie schmale Pfeile mit scharfen Spitzen ab, klug, kratzbürstig, kaltschnäuzig und -blütig. Eigentlich kann sie, wie sie (mit Worten des Briefschreibers Heinrich von Kleist) sagt, „nur in meiner eignen Gesellschaft sein, weil ich da ganz wahr sein darf. Das darf man unter Menschen nicht sein.“

Ohne Für und Wider

August, der Zappler und Plapperer, ist ihrem reifen, eloquenten, „scheißfucking Todernst“ zunächst deutlich unterlegen. Ein Dummkopf freilich ist er darum bei Jörn Bregenzer noch lange nicht, nur nicht so hart und abgebrüht. Julie stört sich daran, dass er „immerzu reden“ muss, aber August hat eben „Lust“ und obendrein allen Grund dazu: Denn ein Poet steckt in ihm, aus seinem verwirrt rotierenden Verstand heraus darf er angesichts des tiefen Abgrunds tiefe Sachen sagen, was Bregenzer mit wundersamer, wunderbarer Selbstverständlichkeit tut: „Alle meine Widersprüche kommen daher, dass es unmöglich ist, das Leben mehr zu lieben, als ich es liebe, und gleichzeitig und fast ununterbrochen ein Gefühl von Ausgestoßensein und Verlassenheit zu haben.“

     Aber deshalb sechshundert Meter in den Abgrund springen? Zehn Sekunden „Fallzeit“ – für Julie „die absolute, unendliche Freiheit. Du nimmst alles wahr, aber es gibt kein Zurück, kein Für und Wider.“ Die Anspannung in den beiden, die Spannungen zwischen ihnen hat Regisseur Stickel mit empathischem Ernst herausgearbeitet; gleichwohl dürfen Herbing und Bregenzer auch das Verquere und Grotesk-Komische ihrer absurden Ausnahmesituation wortgeschwind und situationskomisch ausspielen. Mit dem Handy nehmen sie sich auf, um kuriose Abschiedsbotschaften auszuprobieren, die freilich schnell zu „Fake“ von jener Art missraten, der sie entfliehen wollen. „Zurück“ finden sie dann doch, zumindest zueinander: Julies Panzer taut auf, Augusts „feige“ Unrast legt sich. Sie kommen sich näher und nah, sie „machen rum“ miteinander und spielen sich vor, sie sollten „überleben“ und es wäre „das Sterben vorbei“. Vielleicht ist es das irgendwann wirklich.

     Sechshundert Meter in zehn endgültigen Sekunden: Tun sies oder tun sies nicht? Im Stück – 75 Spielminuten zwischen Leben, Tod und Leben – soll der Schluss offen bleiben. In Hof sieht es ziemlich klar so aus, als gingen Julie und August den letzten Schritt nicht, überraschend „von einem Glück getroffen, von dem wir uns nicht so schnell erholen werden“. In diesem Winter wirds dem Pärchen mit den sommerlichen Namen doch noch warm.

■ Informationen über Produktion und Aufführungstermine im Internet: hier lang.
■ Nach der Vorstellung besteht Gelegenheit zum Nachgespräch. Buchungen für Schulen und andere Einrichtungen: 250 Euro je Vorstellung (Kostenerlass auf Antrag möglich), 200 Euro für eine zweite Vorstellung am selben Tag. Kontakt: telefonisch (09281) 7070-123, per E-Mail: theaterpaedagogik2@theater-hof.de



Der Mörder in jedem von uns

Im Studio zeigt das Theater Hof die zweite Produktion seines dreiteiligen Zyklus „Wider das Vergessen“: Als „Bruder Eichmann“, in Heinar Kipphardts Dokumentarspiel, offenbart der grandiose Ralf Hocke die Selbstverständlichkeit des absolut Bösen in einem Durchschnittsmenschen.


Von Michael Thumser

Hof, 3. Dezember – Der Mann hieß, wie man eben so heißt als Auswanderer in Argentinien: Ricardo Klement. Er stand in seinen Fünfzigern, war verheiratet, hatte vier Kinder und arbeitete anstellig in einer Fabrik des deutschen Unternehmens Daimler-Benz.

     Der Mann hieß vorher, wie man eben so hieß, damals in Deutschland: Adolf Eichmann. Er stand in seinen Dreißigern und versah für Hitlers nationalsozialistisches Regime das Amt eines Cheforganisators für die Eisenbahntransporte unzähliger Juden in die Gaskammern der Vernichtungslager.

     Die beiden sollen ein und derselbe sein? Und noch dazu unser „Bruder“? „Bruder Eichmann“? Nach der aufrüttelnden Auschwitz-Oper „Helena Citrónová“ dringt das Theater Hof in der zweiten Produktion seines dreiteiligen Zyklus „Wider das Vergessen“ mit der Frage in sein Publikum: Ist womöglich in der Brust eines und einer jeden von uns Platz für zwei Seelen – für den anpassungsbereiten, gesetzestreuen Spießer, und für den widerspruchslos funktionierenden Helfer beim Massenmord? Der Dokumentardramatiker Heinar Kipphardt mutet uns in seinem letzten Bühnenwerk aus seinem Todesjahr 1982 zu, Eichmann nicht einfach als gewissenlosen, abgeurteilten, 1962 in Israel gehenkten Blutschergen wahrzunehmen, sondern als Artgenossen, Nahverwandten, Nebenmenschen. Den Zuschauenden im Studio ging am Donnerstag die erschütternde Premiere sichtlich an die Nieren.

Tun, was alle tun: Anweisungen befolgen

Dabei sieht in Thomas Schindlers Inszenierung der Studiobühnen-Eichmann ganz anders aus als der echte. Wer von ihm Fotos kennt, hat ihn, ob in Uniform oder im Straßenanzug, als hageren Biedermann mit stets gequälter Physiognomie, schmalem Blick, verbissenen Lippen vor Augen. So könnte ihn in Hof der deutlich fülligere, notorisch leichtblütige Ralf Hocke nicht imitieren – und will es auch nicht: Keinen Klon aus dem Wachsfigurenkabinett einer weit zurückliegenden Vergangenheit stellt er uns vor, sondern vergegenwärtigt den „Bruder“ als Normalmenschen, der sich darauf hinausredet, in seiner Funktion eines „Angestellten“ nur „auf dem Dienstweg“ unterwegs gewesen zu sein, um zu tun, was alle tun: Anweisungen befolgen, Befehle ausführen. Nun werde ihm, sagt er, zu Unrecht vorgeworfen, dass er seinen Job mit Perfektionismus erledigt habe; und es drängt ihn, Auskunft aus seiner Sicht zu geben und seine Unbescholtenheit zu postulieren.

     Von ihr bleibt er überzeugt, bis sich die Henkersschlinge um seinen Hals zuziehen wird. In Gesprächen breitet er sein Leben aus: vor einem israelischen Polizeihauptmann (Dominique Bals, eisig unterkühlt, hinter versteinerten Gesichtszügen angewidert, ein einziges Mal ausbrechend in leidvollem Zorn); vor einer Psychiaterin (Julia Leinweber, professionell empathisch, freilich auch zunehmend fassungslos); und kurz mit seinem Verteidiger (Peter Kampschulte im nazibraunen Anzug), der die Zuständigkeit des Jerusalemer Gerichts bestreitet.

     Immer ist Eichmann zweifach zugegen: einmal in Person des Schauspielers, zudem überlebensgroß auf einer Videowand. Unbarmherzig zwar nimmt die Kamera alle Mienen, jede Geste des Delinquenten unter die Lupe; leider aber lenken die zweidimensionalen Schwarz-Weiß-Bilder zugleich ab von der subtilen Plastizität des Spiels vor der Leinwand. Im Programmheft bekräftigt Ausstatterin Annette Mahlendorf, sie habe dadurch „die Spannung steigern“ wollen, denn „unser Stück ist eigentlich eine Verhörsituation, das ist erst mal untheatral, unspannend, da passiert nix“. Ein Irrtum: Gerade das Verhör, in dessen Verlauf verborgen Vergangenes nach und nach herausgefragt und „analytisch“ für die Bühnengegenwart bewusst gemacht wird, zählt zu den innersten Keimzellen des Theaters – schon des antiken – und zu seinen verlässlichen Urmodellen, wie in Heinrich von Kleists „Zerbrochenem Krug“, der in Hof am 20. Mai herauskommt.

„Vollkommen unpolitisch“

Wahr ist indes auch, dass die in Rede stehende Spannung in Kipphardts Fall nicht aus der Aufdeckung einer singulär monströsen Schuld erwächst – die steht zu Beginn des Stücks schon fest –, sondern aus den Drehungen und Wendungen, mit denen Eichmann sich um das Eingeständnis jener Schuld herumschlängelt. Immer habe er „normal und unauffällig gelebt“ und schon als Kind „Gehorsam“ als „etwas Unumstößliches“ erachtet; er sei „vollkommen unpolitisch“ und der SS nur beigetreten, um irgendwo „dazuzugehören“; keinesfalls sei er „das Monster, der Sadist und Antisemit“, zu dem ihn die Zeitungen „lügenhaft zusammenkolportiert“ hätten; die Konzentrationslager habe er für ein System der „Erziehung“ gehalten und sei im Rahmen seiner Dienstpflicht („Feindbekämpfung Juden“) auf der „rein sachlichen Seite“ tätig gewesen („Evakuierung, Berichterstattung, Fahrplangestaltung“); mit der „physischen Vernichtung der Juden“ habe er nie persönlich zu tun gehabt und „Vergasungsaktionen“ stets als „furchtbar“ empfunden: „Ich bin nicht robust genug, um nicht aus den Latschen zu kippen.“ Alles Lüge, wie ihm nachgewiesen wird; das Gespenstische: Er glaubt ganz fest daran.

     Das Gespenstische an Ralf Hocke: seine sozusagen widernatürliche Natürlichkeit. Als „Bruder“ Eichmann kommt er uns fast wie ein Stammtischbruder vor. Seinen oft erprobten ‚Typus‘ des liebenswert teddybärigen Gemütsmenschen stellt er bewusst steil gegen die verschleierte Wahrheit des massenmörderischen Bürokraten. Wie ein fügsamer Kleinbürger sitzt er manierlich auf der vorderen Kante seines Stuhls, mit eingelernter preußischer Pedanterie springt er auf, um strammzustehen. Von Sekunde zu Sekunde setzt er seine Worte neu und anders – und gewichtet klug die Pausen dazwischen –; nicht minder minuziös handhabt er die vielfach winzigen Regungen des Gesichts, die teils minimalen Modifikationen der Körperhaltung. Sobald Hockes Eichmann die Steifheit des eingeschüchterten Beschuldigten überwunden hat, erzählt er fast frisch von der Leber weg, als wäre das Entsetzliche das Selbstverständliche.

     Der Delinquent als Durchschnittstyp: Selten sah man diesen Schauspieler so facettenreich und reagibel, so doppelbödig und -gesichtig. Selten so unheimlich. Der Menschheitsverbrecher als einer unseresgleichen? Ricardo K. alias Adolf E.: der potenzielle Mordbruder im Geiste, das absolut Böse, das in jedem schläft? Wir sollten uns unser nicht zu sicher sein.

Informationen zur Produktion und zu den Terminen weiterer Aufführungen im Internet: hier lang.



Vollmundig im Abgang

Arme Millennials: Sechs blauäugige Mittdreißiger plaudern sich durch einen Smalltalk-Abend, bis plötzlich eine menschliche Tragödie ihre privilegierte Welt zerspaltet. Das Theater Hof zeigt Maja Zades „Abgrund“, ein mittelmäßiges Stück, aber mit einem hinreißenden Ensemble.


Von Michael Thumser

Hof, 15. November – Der Titel, „Abgrund“, klebt auf dem Stück wie ein Plakat. Wie ein Alarm warnt er die Theaterbesucher, noch bevor sie ihre Plätze einnehmen, dass sie mit dem Blick in Entsetzliches, mit einem Untergang, dem Sturz in eine Hölle gar zu rechnen haben. „Abgrund“ von Maja Zade beginnt als „etwas Harmloses“, das – so heißt es im Stücktext – „zum Horror wird“. Harmlos sind die sechs noch ziemlich jungen, ganz gewöhnlichen Menschen, die sich zum entspannten Abendessen treffen. Den Horror löst der kleine Sohn des Gastgeberpaars aus, als er sein halbjähriges Brüderchen aus dem Fenster wirft. Die Eltern, schreckensstarr, verstummen. Ihre Gäste, aufgewühlt, plappern weiter. Nur das Wort „tot“ kommt ihnen nicht über die Lippen: Lieber schlagen sie sich die Hände vor die Münder.

     Ein Zeitgeistspiegel will „Abgrund“ sein und führt im Theater Hof, wo am Samstag Premiere war, zumindest zu hinreißender, angemessen reich beklatschter Schauspielerei. Denn das Ensemble ist besser als das Stück. Vor dreieinhalb Jahren kam Maja Zades zweite Bühnenarbeit, mit viel technischem Effektaufwand, an der Berliner Schaubühne heraus. In Hof wählte Jasmin Sarah Zamani, als hierorts bestens eingeführte Regisseurin, verfremdend-stilisierend einen umso reduzierteren Ansatz: Vor, auf und unter einem riesigen, begehbaren, in Wechselfarben leuchtenden „Damoklesfenster“-Kreuz agiert und schwadroniert ein Sextett von Alltagszeitgenossen, die Ausstatterin Aylin Kaip durch das allen gleiche Outfit – himmelblau mit Schäfchenwölkchen – uniformiert hat: eine vertraute Runde hipper, „bildungsbürgerlich“ blauäugiger Mittelständler Mitte dreißig.

Der erste Schritt zum Spießertum

Sie erzählen einander von teuren Wohnwelt-Accessoires aus dem „KaDeWe“ und loben, weil und wie mans so macht, den Wein: „wenig Tannin“, „vollmundig im Abgang“. Sie fragen sich, ob eine „offene Beziehung“ immer im „Rumvögeln“ münden und eine Hochzeit notwendig zum ersten „Schritt ins Spießertum“ werden müsse. Sie erörtern die Gefahren bei der „Adoption von Risikokindern“ und ob ein Hund nicht angenehmer sei als eigener Nachwuchs ... Da liegt, bei allem zugestandenen satirischen Freiraum, das Manko des Textes: So, suggeriert er, sind sie nun mal, die mid-thirties, unterirdisch oberflächlich wie diese „Blase“ saturierter Hohl- und Flachköpfe. In Wahrheit lassen sich Gegenbeispiele beliebig anführen. Was die Autorin zweckpessimistisch behauptet, diffamiert die Millennials pauschalisierend unbedenklich als Generation gedankenloser Pappnasen.

     Auf diese Schablone lässt die Hofer Produktion sich nur zum Teil ein. Genauer konzentrierte sich Jasmin Sarah Zamani auf die dauernde Angst gutmütiger Leute, „was Falsches zu sagen“. Woke bis in die Knochen geben sich die sechs und korrigieren auch schon mal einander („‚Flüchtlinge‘ ist politisch unkorrekt, es heißt ‚Geflüchtete‘“). Im Grund aber – das zeigt sich den Theatergästen schon ein paar Minuten, nachdem sie ihre Plätze eingenommen haben – möchte da ein Halbdutzend weder besonders charmanter noch abschreckender Menschen nicht mehr als sich einen netten Abend machen. Wer kennt sie gut genug, um ihnen Lust und Begabung zum tiefen Diskurs über wichtige Themen abzusprechen? Heute aber nehmen sie sich die Freiheit zum Smalltalk heraus, zur leichten Konversation, die das Programmheft allerdings ausführlich erörternd als bloße „Selbstdarstellung“ von Schwätzern drakonisch verdammt. Schon wahr, sie werfen sich auch mal in „Pose“, und es kommt vor, dass ihr Gerede im Abgang allzu vollmundig tönt. Aber eigentlich wollen sie nur, was jeder gern tut: Sie wollen nur plaudern.

     Alrun Herbing und Dominique Bals, Julia Leinweber und Jörn Bregenzer, Carolin Waltsgott und Oliver Hildebrandt geben mit passgenauer Geschlossenheit und jeweils leichten Tönungen individualisierender Charakterfarbe ein gutbürgerliches Pärchen, das sich dauerverliebt dauernd anfasst, daneben ein weiteres, das seine Coolness durch große Mützen, große Brillen und große Lautstärke bekundet, dazu ein spleeniges Single-Mädchen und den „einzigen Schwulen“ der Runde. Bewundernswert flink und reaktionsschnell, da überkandidelt, dort unterbelichtet klatschen, quasseln und parlieren sie sich von einer Nebensache zur nächsten Lästerei, durch „Genderklischees“ und „leckere“ Suppenrezepte („Lavendel und Meersalz“). Gern pflegt die Regisseurin die dosierte Extravaganz, das grelle Plakat, als Tugend ihres ironischen Stils: Hier führt sie das Sextett, oder Paare oder Gruppen daraus, in knalligen Chören oder überhöhten Choreografien oder abseitigem Rauchereck-Getuschel zusammen. Immer spürbar aber sind sie Freunde: Sie mögen einander und könnten demnächst auf ein wirklich wichtiges Thema stoßen, das sie ernsthaft bewegt.

Kindlicher Kindsmörder

Dann aber, gleich jetzt, bewegt, nein: verwüstet die Runde urplötzlich der Höllensturz, der Todessturz des Babys, Schockwelle eines Weltbebens, das sie alle in den „Abgrund“ stürzt. Ist ihnen zur Last zu legen, dass ihnen dies Äußerste unvorbereitet widerfährt? In den ersten Minuten der Fassungslosigkeit stellen sich ihnen die existenziellen Fragen – welchen Trost den verwaisten Eltern spenden, wie umgehen mit dem „kindlichen Kindsmörder“ (in der Premiere: Bela Püttner)? –; da aber sind ihnen die schönen Worte, erst recht die Antworten schon schlagartig ausgegangen.

     Dumm nur, dass ebenso dem Stück die Luft ausgeht. Den anfangs so prallen, nun zusehends erschlaffenden Text vermag auch das wunderbare Hofer Ensemble nicht zu reanimieren. Zwar, unterm bezwingend starken Bühnen-Bildsymbol des „Damoklesfensters“ bricht die Mutter zusammen; der Vater geht in die Irre, indem er ziellos im Kreis läuft; die anderen vier reden fort und fort, Gleichgültiges, Unsinniges meist („Vielleicht hat er gedacht, er fliegt“). Aber ist ihnen das vorzuwerfen, wie die Autorin es offenbar tut? Wer fände ‚richtige‘ Worte beim Anblick derart unaussprechlichen Leids? Am Tod eines Kindes kann auch der beste Wille nur scheitern. Die Empathie, die Maja Zade ihren Figuren abspricht – fehlt sie ihr selbst?

Informationen zur Produktion und zu den Terminen der weiteren Aufführungen: hier lang.


Beim Häuten der Zwiebel

Wer Henrik Ibsens ausuferndes Lese- und Stationendrama „Peer Gynt“ für unaufführbar hält, sieht sich im Theater Hof nun widerlegt: Das Premierenpublikum überschüttet Lydia Bunks sehr lange, indes kurzweilige Inszenierung und namentlich den überwältigenden Oliver Hildebrandt in der Titelrolle mit Beifallsstürmen.


Von Michael Thumser

Hof, 11. Oktober – Wenn einer gern Geschichten erfindet: Ist er dann ein Sprücheklopfer? Ein „Lügenmaul“ gar? Ist er ein Dichter? Wenn Oliver Hildebrandt im Theater Hof den Peer Gynt spielt, dann ist er alle in einem: Schwindler und Poet, Heuchler und Hellseher, Windbeutel und Visionär, Betrüger und Fabulant, Aufschneider und Abenteurer. Wenn Hildebrandt der Mutter Peers, der guten alten Aase (Anja Stange), seine verwegene, indes nie stattgefundene Gebirgsjagd auf einen Rentierbock in allen Farben und Fährlichkeiten schildert, so schwindelt er ihr im Grund nichts vor – er spielt es, als ob es wahr wäre. Seine Dramatik reißt die atemlos Lauschende mit ihm auf die Grate empor, seine Pantomime stellt ihr, was nicht sichtbar ist, fast greifbar dar. Für Täuschung darf man seine Geschichte allenfalls zur Hälfte halten; zur andern ist sie eine physische Entfaltung der Fantasie mit der Kraft der Imagination. Sie ist: Theater.

     Sie verlangt von Hildebrandt, fast zweieinhalb Spielstunden lang unablässig auf der Bühne zu agieren. Nach der stark beklatschten Premiere am Freitag in Hof überschüttete ihn das (überschaubare) Publikum denn auch mit Bravos. Neuerlich sieht sich der Schauspieler, der sich während seiner Jahre am Haus künstlerisch imponierend entwickelte, von einer monströsen Partie herausgefordert, aber er spielt den Peer Gynt des Norwegers Ibsen bewundernswert anders, als er etwa in der vergangenen Spielzeit den Prinzen Friedrich von Homburg des Preußen Heinrich von Kleist spielte. Nicht die Neuauflage eines Draufgängers kehrt er der Einfachheit halber heraus, sondern unterzog sich der Knochenarbeit, eine neue Figur und sich in ihr in allen Einzelheiten zu erfinden.

Der Junge, der nicht erwachsen werden will

Diesmal brilliert er als eine Art verdorbener Peter Pan, als Junge, der nicht erwachsen werden will und kann und darum allen Versuchungen erliegt, die das unbegreifliche Dasein, die unüberschaubare Welt ihm in den Weg stellen; vor allem der Versuchung, „sich selbst genug“ zu sein statt mühsam erst „er selbst“ zu werden. Sein Weg führt „außen herum“ um alle moralischen Widerstände und mitmenschlichen Bewährungsproben; kein Weg, der zugleich ‚das Ziel‘ Peers wäre. Regisseurin Lydia Bunk, selbst fantasiebegabt und einfallsreich, mutig und konsequent, lässt den Protagonisten wie eine Personifikation der Unreife einen Weg im Kreis, in Schleifen gehen.

     Weil Peer („Ich werde nochmal was wirklich Großes“) in Bunks langer, indes fast immer kurzweiliger Inszenierung ein Kind bleibt, reicht es, dass in ihr sein Ich all die Nagelproben, all das Scheitern nicht real, sondern ,nur‘ in einem Als-ob erlebt und erleidet, in seinem Innern, als Serie toller Phantasmagorien. Auf zwanghaft modernisierende Mätzchen vollständig verzichtend, verlieh die Regisseurin der Produktion eine eigene Stimmigkeit, eine des epochenlosen Mythos und Mysterienspiels, des archetypischen Märchens und der folkloristischen Sage, eine der Sehnsuchtsträume und Angsträume, der trügerischen Hoffnung. So wird die Aufführung dem Original des Texts gerecht, in dem seinerseits – und vor der Zeit modern – ein machtvolles Stück surrealistischen, symbolistischen, absurden Theaters steckt. 155 Jahre ist Ibsens Stationendrama alt, doch jetzt in Hof, auf wundersame Weise, gar nicht aus der Zeit gefallen.

     Hildebrandts Peer – kein weiterer Preußen-Prinz; aber „König“ will er schon werden, „Kaiser“ gar: „der Kaiser der Welt“. Kronen trägt er wiederholt – aus Stroh, aus Draht –, im grandios schwarzen Schlussbild senkt sich eine Krone sogar riesenhaft auf ihn herab, die ihn „nach oben“ zieht (wohin, lässt die Regisseurin reizvoll offen). „Was ich kann, kann sonst keiner“, behauptet Peer, und Hildebrandt darf es hier auch von sich behaupten. In Peers Hochgebirgsheimat, vor einer bekletterbaren hohen, rohen Holzfassade, gibt der Künstler den abgerissenen armen Bauernsohn, der seiner Mutter, statt Strenge, nachgiebige Liebe abtrotzt. Er gibt den Womanizer, der Bräute und kesse Mädels flachlegt und dann sitzen lässt. Er gibt das „versoffene Schwein“ mit dem benebelten Kopf tief in der Senkgrube. Er gibt den Eindringling im Reich der Trolle, über deren Leiber halb eklig, halb wie Zuckerschaum grüne Wülste, Wölbungen und Würste wuchern und deren König (Dominique Bals) ihm Angebote macht, die er nicht annehmen kann.

Napoleon im Cäsarenwahn

In einem nordafrikanischen Bankettsaal gibt er dröhnend einen brachialkolonialistischen Waffenschieber wie einen Napoleon im Cäsarenwahn, vor dem sich Speichellecker buchstäblich zum Affen machen (und den Julia Leinweber als orientalische Beauté famos mit einem orientalischen Verführungslied stimuliert). Er gibt, in antiseptisch reiner Leere, den Insassen einer psychiatrischen Klinik, in der, seit „die Vernunft aus der Haut gefahren ist“, die Irren das Regiment führen und Jörn Bregenzer eine Teppichrolle reanimiert. Hildebrandt gibt den „Verdammten“ auf der Flucht vor seinen Verhängnissen, die ihn als allegorische Wesen heimsuchen, als Großer Krummer und Knopfgießer (Igor Schwab), als „magerer“ Tod im knallroten Lackmantel. Auf oft fast unbebauter Bühne (Szenerie und Kostüme: Christoph Gehre) ist dies ein Theater aus vielen, vielen starken Bildern.

     Beim Häuten einer Zwiebel erkennt Peer endlich, dass er, wie das Gemüse, „keinen Kern“ hat. „Beim Häuten der Zwiebel“ betitelte Günter Grass 2006 ein Erinnerungsbuch, als er endlich wagte, seine unselige, freilich jugendlich arg- (und folgen-)lose Mitgliedschaft in der Waffen-SS öffentlich zuzugeben; es war der „Ausreden genug“. Ähnlich durchschaut Peer seinen „dummen Stolz“, seine vielen Gründe zur „Scham“: „Die Last blieb“, heißt es bei Grass, „und niemand konnte sie erleichtern.“ Für Peer hingegen bietet sich Erleichterung an, Erlösung gar, wie bei Richard Wagner durch ‚das Weib‘; nur fragt sich, ob dieser defekte Peter Pan irgendwann Reife genug besitzt, sie anzunehmen. „Keinen Kern“: Heißt das „kein Herz“? Beistand, Besänftigung, Entschuldigung warten in Gestalt der sanften Solvejg auf ihn, Solvejgs Leben lang, unverdient, nämlich einfach aus Liebe: Von Schneeflocken überrieselt, trippelt Alrun Herbing in schneeweißem Kimono feenhaft wie eine Eis-Heilige in sein Leben, „rein und klar, zart und leicht“, eine Ehrfurcht gebietende Konstante in der Karriere eines Volatilen.

     Eine fragwürdige Karriere. Solvejg versteht, dass Peer zwar auszog, Kaiser zu werden, jedoch das Fürchten lernte. Weiß tritt sie zu ihm im Schlussbild, das nach Schönem und Schlimmem zugleich aussieht, denn es fragt sich, was das Schwarz bedeutet: „Weltall? Abgrund? Himmel?“ Theater ist dies alles in einem. Zum Theater aber gehören, wie zum Peer des Henrik Ibsen und des Oliver Hildebrandt, Täuschung und Ideal, Flause und Zukunftsmusik, kuriose Kopfgeburt und glitzerndes Hirngespinst. Auch das Pathos. Allemal die Magie.

Informationen zur Produktion und zu den Terminen der weiteren Aufführungen: hier lang.



Das Leben ist Geschmackssache

Auf seiner Kleinen Bühne zeigt das Vogtland-Theater die erste Produktion der neuen Sparte „JUPZ!“ (Junges Theater Plauen-Zwickau) – und wagt mit „Frühlings Erwachen!“ gleich eine ganze Menge. Nuran David Calis hat Frank Wedekinds „Kindertragödie“ mit den Nöten und dem Jargon der Kids von heute „übermalt“. Können die es verstehen?


Von Michael Thumser

Plauen, 8. Oktober – Dieses Theater findet zwar im Saale statt, aber im Freien auch. Es findet statt halb auf der Kleinen Bühne des Plauener Hauses und halb auf einer Videowand über ihr (Ausstattung: Mayan Tuulia Frank). Darauf sieht man zum Beispiel die je zwei Spielerinnen und Spieler wie Urmenschen durch wild wuchernde Natur schreiten. Oder sie rücken, unschuldig nackt alle vier, hinter einer großen Flügeltür im (arg kühlen) Außenbereich unter einer heißen Dusche zusammen.

     Dieses Theater besteht zu einem Teil aus „Frühlings Erwachen“, Frank Wedekinds berühmter „Kindertragödie“, in der ein fatales Geschehen seinen überschaubar zwangsläufigen Fortgang nimmt. Zum andern Teil hat es sich, vor fünfzehn Jahren, Nuran David Calis ausgedacht. Der jetzt 46-jährige Autor, Theater- und Filmregisseur „überschrieb“ oder „übermalte“ die 1891 gedruckte, erst 1906 uraufgeführte, Skandal machende Vorlage gemäß der Devise „Live fast, die young“ (Lebe schnell, stirb jung). Die Ängste und Sorgen der „Kinder“ von einst transferierte er in die Gegenwart der Kids von heute; die an keine Epoche gebundenen Pubertätsnöte, -träume und -enttäuschungen nahm er beim Wort, indem er sie in den Jargon des Tages übersetzte. Dabei blieben die Fragen, die sich schon Wedekinds Protagonistinnen und Protagonisten stellten, ungefähr dieselben: Wofür muss ich mich „schämen“, und muss ichs überhaupt? Bin ich „zu jung für die Liebe“, und wie geht die? „Wo siehst du uns in dreißig Jahren“, und gibt es uns dann noch?

Tabubrüche

Dieses Theater, jetzt in Plauen, will mit Wedekind, dessen einst provozierende Tabubrüche sich vor heutigen Augen vergleichsweise artig, zuchtvoll und gezügelt zutragen, nicht mehr als nötig zu tun haben. Viele junge Leute der von Regisseur Brian Völkner angesprochenen Alterskategorie „12+“ kennen das gut 130 Jahre alte Schauspiel höchstwahrscheinlich nicht und könnten wohl auch noch nicht viel damit anfangen. Vor ihnen entfesselt die Inszenierung einen unablässig rasenden Radau, der das Verständnis auch der neuen Fassung nicht eben fördert. Noch vor Spielbeginn, zu hämmernden Beats (Musik: Jörg Piesendel und Lenz Liebetrau), jagen sich schon die Protagonistinnen und Protagonisten von einem Eck des – bis auf einen großen roten Pfeil am Boden – leeren Schauplatzes zum andern oder albern handgreiflich miteinander herum oder fläzen auf dem Boden, als ob sie chillten, und kommen freilich auch dabei nicht zur Ruhe. Von der ersten Szene an erheben sich die vier Stimmen rufend und brüllend, kreischend oder zeternd und sammeln sich auch schon mal krakeelend zum Agitprop-Sprechchor: „Ich hasse die Schule.“

     Aus den Körpern der Akteure befreit sich überreizt ein hibbeliger bis explodierender Bewegungsdrang, wie er allerdings bei der ‚heutigen Jugend‘, obwohl sie sich darin wiedererkennen soll, zum Glück nicht gang und gäbe ist, sondern eher unter Ritalin-resistenten ADHS-Kindern nervenzerrend auftritt. Als Vierzehn-, Fünfzehnjährige sind die Figuren zu denken. Da liegen alle im Ensemble zwangsläufig zwangsläufig drüber, weswegen sie vielleicht in Sachen Jugendlust, -lärm und -leid des Guten ein bisschen zu viel tun.

     Differenzierend haben sie sich in ihren Rollen fast gleichgewichtig aufeinander eingespielt und entlassen den Zuschauer in keinem Augenblick aus der Aufmerksamkeit. Mit Yasmin Dengg ist nicht gut Kirschen essen: Ohrenbetäubend entfesselt ihre Wendla die schrillste Stimmwucht während der wüsten achtzig Spielminuten und richtet ihre vor Wut schmalen Augen voller Misstrauen gegen die vermeintlich „vorausschauende Kraft“ ihrer helikopternden Mutter und überhaupt der unbelehrbar oder hilflos autoritären Elterngeneration. Martha sticht bei Carlotta Aenne Bauer nicht durch geringere Dringlichkeit von ihr ab, wohl aber durch Zartheit und Verletzlichkeit. Daheim wird sie geschlagen, „mit allem“, vom Kochlöffel bis zur Gürtelschnalle. Während Melchior (Marcel Frank als schlaues Riesenbaby „mit schönem Kopf“) Wendla schwängert – ausdrücklich nicht aus Liebe, weswegen er Küsse verweigert –, trägt Martha ihre verheimlichte Zuneigung beklommen dem ungeduldigen Moritz hinterher: Der fiebrige Philipp Rosenthal, mit „seelenvollem Blick“, zeigt ihn zum Abenteurer geboren, beherrscht, nein: besessen von einem unbändig fröhlichen Drang zu ominösen Goldminen in „Amerika“.

Raus und rein, Tür auf und zu

Die zehnköpfige Besetzung, die der Autor für seine Stück-„Übermalung“ von 2007 vorsieht, reduzierte Regisseur Völkner auf jene vier, was der dröhnenden Dichte des präzis durchchoreografierten Spiels mit seinem beständigen Raus und Rein, Tür-auf und Tür-zu keinen Abbruch tut. Zusätzlich lässt er, wie in Filmen lachhaft üblich, als „special guest“ den neuen Intendanten des Theaters Plauen Zwickau auftreten: Als rosaroter Panther darf Dirk Löschner aus einer Kristallschale Kondome ans junge Publikum verteilen und geistert am Ende, von Leichentuchfetzen umflattert, tapsend als Zombi durchs Bild. (Warum auch immer.)

     Das Ende: Es ereilt, tödlich, den gefrusteten Moritz. Als angeblichem Schulversager wird ihm die erträumte Reise nach „Amerika“ doch noch gestrichen. „Das Leben ist Geschmackssache“, bilanziert er lebensmüde, „und mir schmeckts nicht.“ Die Tragödie eines Kindes. Mit ihr umzugehen, fällt den Überlebenden sichtlich schwer. Mit bebenden Gesichtern versteinern Wendla und Melchior an einem Klavier, an dem die Kinderhände der versonnenen Carlotta Aenne Bauer ein paar Takte Händel anschlagen, nachdem sie, auf Englisch (warum auch immer), eine Geschichte von Karotten und den Vitaminen unter deren Schale erzählt hat (warum auch immer). Die Kids im Auditorium verstehen, wie es scheint, kaum ein Wort, so wenig wie sie das „Erwachen“ des Frühlings bei Frank Wedekind verstanden hätten.

     Verstehen sie dieses „übermalte“ Theater? Immerhin wird ihnen die Moral von der Geschicht in einfacher Sprache eingehämmert: „Vertraut dem Leben“, „vertraut der Liebe“. Dann verstehen sie auch den großen roten Pfeil, der auf dem Bühnenboden zu einer Flügeltür zeigt und die Richtung weist: fort, hinaus, ins Freie. „Glück auf den Weg, lasst euch nicht aufhalten“.

■ Als Grundlage der Rezension diente die Aufführung vom 4. Oktober.
■ Informationen zur Produktion und zu den Terminen der weiteren Aufführungen: hier lang.