13. Juli Wir sollten geduldiger sein. Die Schöpfung ist ein ewiger Prozess, alles in ihr braucht seine Zeit, viel Zeit. Auch heute dürfen wir den antiken Philosophen vertrauen, die durchschauten, dass „die Natur keine Sprünge macht“, natura non facit saltus. Und schickt sie sich doch zu einem Hüpfer an, so reicht der schon mal zehn Millionen Jahre weit. Aus dem Blickwinkel der Ewigkeit, sub specie aeternitatis, nicht mal ein Wimpernschlag: Ungefähr so lang oder kurz dauerte die „Kambrische Explosion“ der Tierarten vor gut 540 Millionen Jahren – gleichsam schlagartig brachte die Evolution damals binnen zehn Jahrmillionen nahezu alle uns heute bekannten zoologischen Stämme hervor. Die Menschheit freilich „macht Sprünge“. Auch in der Evolution ihres Fortschritts zündete eine Explosion – zu Beginn der 1950er-Jahre ereignete sie sich und hält als „Große Beschleunigung“ seit nunmehr einem Dreivierteljahrhundert, immer eiliger werdend, an. Zur Zeit der Renaissance hätte sich das universelle Faktenwissen physisch vollständig in leidlich kleinen Sammlungen von Schriften aufbewahren lassen, symbolisch gesprochen: in einer nicht allzu langen Reihe von Bücherschränken. Seither indes vervielfachte es sich unablässig, und nie in solchem Maß wie während der besagten jüngsten 75 Jahre. Während die Weltgemeinschaft der Forschenden in den Fünfzigern jährlich etwa hunderttausend Fachbeiträge publizierte, bringt sie es heute auf mehrere Millionen Jahr für Jahr. Einst waren auf allen Datenspeichern zusammengenommen – namentlich auf Lochkarten und Magnetbändern – einige wenige Milliarden Zeichen (also Gigabyte) hinterlegt; eine lächerlich verschwindende Menge, verglichen mit den etlichen Exabytes oder Milliarden Milliarden Zeichen, die auf heutigen Servern liegen. Wenn die Gelehrten noch bis vor hundertfünfzig Jahren die Welt vor allem in der Horizontalen, an ihren Oberflächen, durchforsteten und -forschten, so bohren sich die Genies von heute, bildlich gesprochen, vertikal kilometerweit in die Tiefen; was sie dort ergründen, ist so spezialisiert und fokussiert, dass es sich selbst den interessiertesten Laien unter uns kaum begreiflich machen lässt, zumal es dafür eines Fachjargons bedarf, der den Bereich breitentauglicher Kommunikation weit hinter sich lässt. Die Entwicklung der Schrift, die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, die Fähigkeit, Elektrizität zu erzeugen und zu nutzen, die Formulierungen der Relativitätstheorien durch Albert Einstein … – alles geradezu anomale Vorkommnisse in der Geschichte, von denen jedes einzelne der Entfaltung des menschlichen Geistes eine kopernikanische Wende bescherte. Anfangs lagen zwischen derlei Schwellenübertritten ganze Epochen, wenn nicht Jahrtausende, schließlich wenigstens mehr als ein Jahrhundert; hingegen hat, wer heute zwischen siebzig und achtzig Lenze zählt, mit den ersten Großrechenanlagen, dem Internet und der „Künstlichen Intelligenz“ binnen eines einzigen Menschenalters gleich drei solcher historischer Grenzüberschreitungen miterlebt. Geht dies alles nicht – um mit Woody Allen zu sprechen – „um eine Terz zu geschwind“? Wer angesichts so augenfälliger Anhaltspunkte für eine „Große Beschleunigung“ befürchtet, mit dem eigenen hellen und doch so beschränkten Köpfchen über kurz oder lang aus der nächsten Kurve der globalen Geistesexpansion getragen zu werden, hat von uns Leidensgenossen verständnisinnigen Trost und geduldigen Zuspruch verdient. ■
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Rückblick
27. Juli, Bayreuth, Festspielhaus
Eine „Handlung“, in der kaum etwas geschieht, vier Stunden lang: Zur Eröffnung der Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele versenkt Regisseur Þorleifur Örn Arnarsson die Oper Tristan und Isolde tief in die Doppel-Biografie des Titelheldenpaars. An seiner Deutung scheiden sich die Geister, während Semyon Bychkov als Dirigent, Andreas Sager als Tristan und Camilla Nylund als Isolde triumphieren.
25. Juli, Essay
Heuer dürfen große Leser und nicht zuletzt die kleinen des „Gebrauchsschriftstellers“ Erich Kästner gleich doppelt gedenken: Vor 125 Jahren, in Dresden, kam er zur Welt, am nächsten Montag vor fünfzig Jahren ist er in München gestorben. „Deutschlands hoffnungsvollsten Pessimisten“ nannte ihn Marcel Reich-Ranicki, selbst sah er sich als Moralisten und Augenzeugen, der Hitlers Terror-Reich von innen beobachtete.
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