Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)

Eckpunkte-Archiv 2024/25

Drehmomente

8. Februar 2025   Wenn wir Opa helfen, den geliebten röhrenden Hirschen an seiner Schlafstubenwand zu applizieren, so hauen wir mit dem Hammer einen Stahlstift durch die Blümchentapete und hängen daran den Goldrahmen auf. So einfach ist das. So einfach auserzählt aber ist das Verhältnis zwischen der bildenden Kunst und dem Nagel als solchem noch lange nicht. Weil zumindest im lateinischen Europa die Kunst vieler Epochen vor allem Sakralkunst war, wurden Nägel hauptsächlich als Folterinstrumente in den Händen und Füßen des gekreuzigten Christus dargestellt; um die beiden Schächer neben dem Gottessohn als sündliche Menschen kenntlich zu machen, befestigten die meisten Maler und Bildhauer sie, wohl weil das für weniger grausam galt, lediglich mit Seilen an den Marterbalken. In rein handwerklichen statt symbolischen Zusammenhängen tauchen Nägel nur gelegentlich auf alten Gemälden auf. Vollends aus den sakralen Bezügen löste sie Günther Uecker seit den 1950er-Jahren mit seinen Reliefs. Berühmt wurde der heute 94-jährige Künstler durch igelartig anmutende Oberflächen, die er wie ein Voodoo-Maniac mit zahllosen Nägeln spickte, und auch mit Papierarbeiten, in die er mittels eines hölzernen Druckstocks Reihen und Muster von Nägeln einprägte. Im popkulturellen Bereich folgt ihm seit etwa vier Jahren der Brite Darren Timby mutig auf seine Art: International macht der 43-jährige Grafikdesigner mit Porträts auf sich aufmerksam, die er aus Schrauben wie ein stählernes Mosaik zusammensetzt. Dank ihrer unterschiedlichen Farben setzen sich Konturen und Schattierungen scheinbar plastisch voneinander ab. In eine „Hommage an George Michael“ aus zwölftausend silbernen, goldenen und schwarzen Teilen in einer weißen Leinwand investierte er nicht weniger als neunzig schweißtreibende Arbeitsstunden. 120 gar brachte er für ein 180 mal neunzig Zentimeter großes Viererbildnis der Beatles samt Gitarrenhals und Mikrofonen auf. Prinzipiell erfährt das Nageln, also die direkt in Opas Schlafstubenwand hinein gerichtete rohe Kraft des Schlages, während des Schraubens eine Erweiterung durch das sublimere, weil im Prinzip langsame Moment des Drehens. Das fügt dem Vortrieb des Metalls – physikalisch gesprochen: seiner Translation – die Rotation hinzu; und dadurch eine zweite Dimension: Denn die Bewegung der Schraube verhält sich ja nun nicht länger nur linear zur Tiefe der Mauer; sie tritt darüber hinaus – am einleuchtendsten auszumachen am kreisenden Radius ihres Kopfes – in eine Relation zur Fläche der Blümchentapete. Etwa so, vielleicht, lässt sich das ästhetische Konzept Darren Timbys beschreiben, der sich freilich, um der gewaltigen Mengen seiner winzigen Bildelemente Herr zu werden, der geschwinden Motorkräfte eines Akkuschraubers versichert. Vor einiger Zeit posierte er als Muskelmann – mit hünenhaftem Brustkorb, Basecap und schwarzem T-Shirt, den Akkuschrauber in der Rechten, als wärs James Bonds Walter PPK – neben der stählernen Version eines ikonischen Elvis-Porträts. Timby hat eben den Dreh raus. Egal ob als Künstler oder Handwerker lehrt er uns mindestens zweierlei: Um wie er aus 24.000 Gewindestiften die Beatles zusammenzupixeln, empfiehlt sich bei der Wahl des Ateliers ein Standort in der Nähe eines gut sortierten Baumarkts; ferner darf, wer in der Kunst weltweit so publikumswirksame Akzente setzt, dass er irgendwann auf einem vielfach verbreiteten Medienfoto posiert, im Kopf ruhig eine Schraube locker haben. ■


Katastrophe geglückt

1. Februar 2025   Wir kommen ohne ihn nicht aus, in keiner Hinsicht. Caspar David Friedrich hat den Mond, mag sein,  recht klein gemalt, sehr weit oben über zwei Männern, die ihn jedoch umso andächtiger betrachten. Ungleich machtvoller sehen wir ihn die strudelnde „Sternennacht“ Vincent van Goghs regieren. Schon 1865, über hundert Jahre, bevor ein Mensch erstmals den Fuß auf ihn setzte, hat der Science-Fiction-Romancier Jules Verne über eine Reise „Von der Erde zum Mond“ fantasiert. In „Rusalka“, Antonín Dvořáks Oper von 1900, wendet sich die Titelnymphe ein sehnsuchstvolles Lied lang „An den Mond“, dem Carl Orff 1939 gleich ein ganzes Singspiel widmete. Im Kino erzählte 1995 Ron Howard in einem Weltraum-Drama von der – 25 Jahre zuvor um ein Haar tödlich gescheiterten – Mission der „Apollo 13“, und von den unzähligen Gedichten, die der „Mondnacht“ huldigen, finden Verse aus der Feder Goethes („Füllest wieder Busch und Tal / Still mit Nebelglanz …“) und Eichendorffs („Es war, als hätt’ der Himmel / Die Erde still geküsst …“) vielleicht die beschwörendsten Bilder. Versteht sich, dass wir Menschen uns seit Menschengedenken Gedanken über den Mond machen, der da oben „so stille geht“, wie das Volkslied sagt, während er doch bei uns drunten so viel von sich hermacht. Indem wir wissen wollen, warum es ihn wohl gibt, stellen wir zwei Fragen in einer: Zum einen überlegten bereits unsere Vorfahren, worin sein Sinn liegt; zum andern erführen wir gern, wie er entstand. Die zweite Frage beantwortet die verbreitetste Theorie so: Vor 4,6 Milliarden Jahren, als unser Sonnensystem geboren wurde, habe ein verirrter Himmelskörper namens Theia die Erde gerammt, wobei Materie, aus beiden ramponierten Protoplaneten glühend ins All geworfen, alsbald den Ball des Trabanten formte. An einer anderen Erklärung versucht sich allerdings die Universität Göttingen: Theia, so stellten die Experten dort vor wenigen Tagen zur Diskussion, könne ebenso „als metallische Kanonenkugel mit der frühen Erde kollidiert“ und dabei mit deren Kern verschmolzen sein; der Mond aber verklumpte aus abgesprengten Trümmern des Erdmantels. Wie auch immer: Dass der gute Mond seither so stille geht, ist jedenfalls einer Katastrophe geschuldet, die zu unserem Glück glänzend gelang. Zwar könnten wir kindlich zweifeln: Muss es den Mond geben? Immerhin steckt die Galaxis voll von Wandelsternen, die kein solcher Satellit umkreist. Doch wir verdanken ihm – sofern eine Natur, wie wir sie brauchen, kennen, schätzen, in Betracht kommt – vor allem Vorteile. Im Verein mit der Sonne sorgt er anziehungskräftig für die Gezeiten der Meere. Nebenbei fixiert er die Achse des Globus akkurat in einer Neigung von 23,5 Grad zum Orbit. Beides zusammen zeitigt existenzielle Folgen für den Kreislauf der Jahreszeiten, für das Klima und das Leben seit seinem Anbeginn. Die gut 28 Tage des Mondumlaufs motivierten vorgeschichtliche Himmelsgucker zu kreativen Mutmaßungen über den Kosmos ebenso wie zu praktikablen Zeiteinteilungen, aus denen später Kalender entstanden. Überhaupt wären Religionen, Mythen und Kulturen wohl aller menschlichen Gemeinschaften seit Jahrhunderttausenden beträchtlich ärmer ohne das selbstlose Opfer Theias und ihr Vermächtnis, den Mond. Beruhigend demonstriert uns sein distanzierter Silberschimmer, dass nicht alles, was an uns und unserem Dasein glänzt, aus uns selbst kommt. Nur: woher sonst? Von ‚oben‘ ? ■


Im Lächeln liegt das Heil

19. Dezember 2024     In ernsten Zeiten vergeht uns das Lachen, und sobald es um offizielle Dokumente geht, bleibt nicht einmal ein Lächeln übrig. Auf Passfotos sollen wir „mit neutralem Gesichtsausdruck und geschlossenem Mund gerade in die Kamera blicken“, so schreibt es eine „Mustertafel“ auf dem „Personalausweisportal“ des Bundesinnenministeriums bürokratisch-bündig im Internet vor – und das bedeutet, einer freundlicheren Formulierung des Auswärtigen Amtes zufolge: „Lächeln ist ausnahmsweise nicht erwünscht.“ Seither verhunzen Pässe, Kennkarten, Führerscheine durch biometrische Lichtbilder unsere angeborene Liebenswürdigkeit, eine allgemeine seelische Deformation, die sich global breitmacht wie eine Pandemie: Überall in der EU, auch beispielsweise in Australien, Neuseeland oder Kanada wird ein Schmunzelgesicht, erst recht ein Lachen mit geöffneten Lippen etwa auf der Fahrerlaubnis nicht akzeptiert; desgleichen in etlichen Bundesstaaten der USA, obwohl ausgerechnet dort der künftige Präsident Freund und Feind gern die gebleachten Zähne zeigt. Und die Front der physiognomisch ausdruckslosen „Neutralität“ bleibt starr. Vor dem tschechischen Verfassungsgericht unterlag dieser Tage letztinstanzlich ein Mann, der, indem er seinen Zügen konsequent jede Strenge verbot, durchsetzen wollte, in seinem Ausweis „die Mundwinkel nach oben ziehen“ zu dürfen, wie es in Medienmeldungen hieß. Dabei berief der Kläger sich auf religiöse Gründe: Er bekennt sich zur „Ecclesia Risorum“, einer – nicht gesetzlich anerkannten – „Kirche des Lächelns“, die missionarisch in Wort und Tat mit dem Heilsversprechen unterwegs ist, in der offen sichtbaren Äußerung fröhlichen Gestimmtseins lägen Segen und Seligkeit der Menschen beschlossen. Sofern dieser Glaubenssatz der Wahrheit entspricht, müssen auch wir Deutschen uns für dringend erlösungsbedürftig halten, begegnen uns doch beim kopflosen Weihnachtseinkauf in der Innenstadt ebenso wie beim gelasseneren Spaziergang im trostlos entlaubten Park kaum Artgenossen und -genossinnen, deren Mienenspiel von Glücksgefühlen und basalem Wohlbehagen kündet. Darum: Augen auf auch im Bewerbungsgespräch, und vor allem: Mund zu! Wer bei derlei Gelegenheiten darauf setzt, dem Gegenüber durch ein Lächeln Sympathie zu signalisieren und selbst sympathisch zu erscheinen, zieht leicht den Kürzeren, wie vor zwei Jahren eine US-amerikanische Metastudie ergab: Oft nämlich missdeuten Personalentscheider solcherart bezeigtes Entgegenkommen als Unsicherheit, Unterwürfig-, wenn nicht Unehrlichkeit. Empfiehlt es sich also, um auf den ersten Blick Souveränität auszustrahlen, von vornherein betont klug, nüchtern professionell, seriös geradlinig aufzutreten? Auch wieder nicht. Denn In unserer Welt und Umwelt, wo es mancherorts gar nichts zu lachen gibt, droht sich der Seuchenkeim trocken übertriebener Selbstachtung und nivellierender Humorlosigkeit ohnehin stark zu vermehren, und nur wenigen gelingt es, sich dauerhaft immun zu halten, indem sie sich wenigstens bei platten Comedys vor Lachen auf die Schenkel klopfen und einander Horden seelenloser Grins-Emojis auf die Handys schicken. Dabei verläuft die Grenze zwischen Qual und Quatsch fließend: Dann und wann geschieht sowohl, dass wir uns vor Schmerzen krümmen, als auch, dass wir uns schief- und bucklig wiehern wollen. Wer die Wahl hat, sollte, zumal in ernsten Zeiten, lieber Tränen lachen als Rotz zu Wasser heulen. ■

Da ist Musik drin

12. Dezember 2024   Den wehrlosen Partner, der sich in die Tasche stecken lässt, gibt es schon lang, auch im nicht-übertragenen Sinn. Heutzutage gehen immer mehr Männer und Frauen an der Seite eines digitalen Lieblings erfüllt durchs Leben. Via App des US-Chatbot-Entwicklers „Replika“ können sie ihn ganz nach ihren persönlichen Schönheitsidealen, Liebesbedürfnissen und sonstigen Vorlieben gestalten. Souffliert von „Künstlicher Intelligenz“, plauschen die imaginären Gespielinnen und Gespielen fortan stets vorurteilsfrei zugewandt und niemals schlecht gelaunt, bleiben unverwüstlich jung und kerngesund an Leib und Seele, äußern nur Angenehmes, wenn nicht Zärtliches und Erotisches und sind sogar bereit, Heiratsanträge mit einem beseligten „Ja, ich will“ zu quittieren. Mag auch das Gros der Menschen, die sich eigener Familien und hinlänglicher Sozialkontakte zu Freunden und Bekannten erfreuen, das um sich greifende Phänomen für bizarr ansehen, so sprechen Psychologen den Lebensgefährten aus den neuronalen Netzen des Cyberspace durchaus eine segensreiche Verbundenheit mit Zeitgenossinnen und -genossen zu, denen eine immer unberechenbarere Wirklichkeit zu viele Wunden schlug. Nun hat, zum möglichst frühen Eingewöhnen, die Deutsche Post ein buntes Klebebildchen herausgegeben, das den Freundeskreis bereits von Jungs und Mädchen virtuell erweitert: Seit einigen Wochen dürfen sich die Kleinen über Briefe freuen, die mit einer „Singenden Briefmarke“ frankiert wurden. Das Motiv darauf zeigt eine niedliche Backstube mit allem, was dazu gehört, also mit Kinderköpfen unter Kochmützen, geknetetem Teig, Ausrollholz und Ausstech-Förmchen, Christbaum und einer Oma im Lehnsessel, die Winterliches vorliest. Wer mit dem „Tiptoi-Stift“ des Spieleherstellers Ravensburger über die Illustration fährt, vernimmt „Liedzeilen des Ohrwurms ‚In der Weihnachtsbäckerei‘ von Rolf Zuckowski, Dialoge der abgebildeten Personen, die Weihnachtsgeschichte und Wissenswertes rund um den Advent“, verkündet die Post. Den auch anderweitig verwendbaren „Stift“, dessen Ausmaße etwa der einer Fernbedienung entsprechen, hat man sich am besten vorausschauend im Vorjahr unter den Lichterbaum legen lassen: Fünfzig Euro kostet er und übersteigt damit das Taschengeld-Budget der meisten Sechs- bis Zehnjährigen. Hingegen werden erwachsene Philatelisten, die auf sich halten, keine Kosten scheuen, sich mit ein paar Bogen der Marke einzudecken, die ihr altersschwaches Steckenpferd unverhofft nahe an die Erfrischungen zeitgemäßer Technik führt, dürfte doch in wenigen Jahrzehnten der Sammlerwert der Erstausgabe ins Astronomische gestiegen sein. Bedenken erweckt allerdings ein Vorfall aus dem schleswig-holsteinischen Quickborn, wo ein Mann etwa zur selben Zeit, da die Marke herauskam, einen Brief des Finanzamts mit den Daten für seinen „Elster“-Zugang erhielt – in 1700-facher Ausfertigung. Wären die Kuverts sämtlich mit den tonkünstlerischen Wertzeichen beklebt gewesen, hätte deren vokale Wucht, per „Tiptoi“ zu Sang und Klang erweckt, selbst das Geschmetter des tausendköpfigen Fischerchors übertroffen, der 1974 in München die Abschlussfeier der Fußball-Weltmeisterschaft durchschallte. Das war aber noch gar nichts: Zum größten Chor der Musikgeschichte versammelten sich 2011 im indischen Perungalathur 121.440 Menschen. So viele Marken (á ein Gramm) auf Umschlägen mit je zwei DIN-A-4-Seiten hätten die Post alles in allem mit über 1,7 Tonnen belastet: Ein Quickborner Briefträger, der das wuppen könnte, der wär schon eine Marke. ■


Klappe halten

7. Dezember 2024   Jedes neue Jahr hat seine neuen Botschafter. Unlängst schreckte uns die Deutsche Gesellschaft für Herpetologie und Terrarienkunde mit ihrer Entscheidung auf, sie habe zum „Lurch des Jahres“ 2025 den Moorfrosch gekürt, eine bedrohte Art, deren Männchen während der Paarung über die Gabe verfügen, blau anzulaufen. Wenig später zogen die Entomologen nach: Sie riefen als „Insekt des Jahres“ die Holzwespen-Schlupfwespe aus, die mit ihrem rahmensprengenden Doppelnamen ebenso gut in die Zeit passt. Vor so viel Natur darf sich die Kultur nicht geschlagen geben - und wartete nun mit einer Überraschung auf: Zum „Instrument des Jahres“ wählten die deutschen Landesmusikräte die menschliche Stimme. Aber ist sie das denn: ein Instrument? Durchaus, und sogar für ein besonders universales und natürliches dürfen wir sie halten. In puncto Tongebung ist sie irgendwo zwischen Bläsern und Streichern angesiedelt. Noch bevor unsere Vorvorfahren das Rad ersannen, hatten sie gelernt, ihre Stimmbänder mit Hilfe der Atemluft kontrolliert wie Saiten vibrieren zu lassen, um lebenswichtige Botschaften zu übermitteln, zu streiten, zu tratschen ... um zu singen. Bis heute bleiben wir ungeachtet aller technischer Fortschritte - vom ersten, noch kaum aufnahmefähigen Mikrofon bis hin zur unüberhörbaren Megafonie unserer Sozialen Medien - sklavisch den Verführungskräften der live vernommenen Menschenstimme instinktiv erlegen. Zwar regiert, manipuliert und imitiert uns das Virtuelle, Nicht-Wirkliche der digitalen Welt längst so gründlich, dass die Maschinen jeden beliebigen Sprach- und Sangesklang bis zur Unverwechselbarkeit nachzuahmen vermögen. Darum aber wächst erst recht unsere Sehnsucht nach der Echtheit und Intimität des eigenen wie eines fremden Organs. Hinter jener Authentizität verschanzen wir uns, mal willentlich, mal reflexartig: hinter einem der letzten Bollwerke unserer Einzigartigkeit. Mithin spricht einiges dafür, die Stimme zum „Instrument des Jahres“ zu küren, allein schon ihre Allgegenwärtigkeit in unseren zwischenmenschlichen Kontakten, den unmittelbaren sowohl wie den elektronischen. Mit ihrem unüberhörbaren Breitenspektrum zwischen geflüsterter Zärtlichkeit und ohrenbetäubendem Gebrüll entfaltet sie einen Überfluss, den kein Musikinstrument so je erreicht. Mag sein, dass sie, weil nicht auf Saiten, Tasten und Ventile angewiesen, aus jeder Logik klassischer instrumentaler Tonerzeugung herausfällt. Doch ihrer Eignung wegen, alles uns Wichtige zu vermitteln – Gefühle auszudrücken, Informationen mitzuteilen, Geschichten zum Leben zu erwecken –, hat sie seit jeher zu einem starken Kandidaten für das adelnde Prädikat getaugt, das sie von Januar an tragen darf. Überdies lädt uns solcher Ritterschlag mit Nachdruck dazu ein, auch unseren oft strapazierenden Umgang mit ihr zu überdenken. Wenn die Stimme den Ehrentitel verdient, dann wohl insgeheim auch darum, weil zu ihr unlösbar das Schweigen gehört. Einfach mal die Klappe halten: Wer weiß, wie das geht, versteht auch mal ganz für sich allein zu sein und, nicht minder nützlich, anderen stumm zuzuhören. Die Mute-Funktion, wie sie sich an Radios und Fernsehern, Navis, Konferenzsystemen und sonstigen zeitgemäßen Audiogeräten per Knopfdruck einschalten lässt, beweist uns hinlänglich: Um preis- und prädikatwürdig zu sein, muss etwas, das kunstreich Schall erzeugt, auch Ruhe geben können. Paradoxerweise sollen wir in diesen Advents- und Weihnachtswochen auf Märkten und in Kirchen singen, bis wir blau anlaufen. Man könnte schier zum Lurch werden. ■


Motoren-Maestro

16. Oktober   Vor ziemlich genau drei Jahren erschütterte, erheiterte oder faszinierte die kulturaffine Öffentlichkeit eine Medienmeldung, die angetan schien, in der Musikwelt das Unterste zuoberst zu kehren: Mithilfe eines langwierig ausgeklügelten Algorithmus hatte ein Computer die nicht existierende zehnte Symphonie Ludwig van Beethovens zusammengebastelt; ihre Komposition hatte der genialische Tonsetzer sich zwar vorgenommen, über einige spärliche, kaum zu entziffernde Notizen aber kam er vor seinem Tod nicht mehr hinaus. Mächtig Aufsehen und Aufhorchen erregten die ersten Präsentationen der Partitur in Bonn und später in Hamburg. Die daraufhin veröffentlichte CD-Einspielung bestätigte allerdings für jeden ferngebliebenen Hörer nachvollziehbar die Auffassung der anwesenden Fachwelt, dass als Ergebnis des über Jahre vorangetriebenen Vorhabens eine Riesenenttäuschung herausgekommen sei. Mittlerweile darf solches Unterfangen als kalter Kaffee gelten, pfriemelt doch sogenannte Künstliche Intelligenz schon längst auf Wunsch und bei Bedarf weit pfiffigere Melodien und Harmonien aneinander. Gleichwohl lassen die Verfechter einer digitalen Durchsetzung aller Künste nicht locker und auch die Tonkunst nicht aus dem Auge und Ohr. So beglückten die Dresdner Sinfoniker am vergangenen Samstag ihre Gäste im Festspielhaus Hellerau nicht einfach mit der Erstausgabe des Projekts „Robotersymphonie“; mehr noch galt der starke Beifall des innovationsfrohen Publikums dem Dirigenten. Den Dirigiermaschinen, um es exakt zu sagen. Denn das Ensemble, auf zwanzigköpfige Kammerbesetzung beschränkt und obendrein in drei voneinander getrennte Gruppen geteilt, wurde bei Andreas Gundlachs „Semiconductor’s Masterpiece“ von drei Roboterarmen angeleitet. Jeder von ihnen trug einen farbigen Taktstock – rot der eine, der andere gelb, der dritte blau –, und um die futuristische Wirkung zum Äußersten zu steigern, strahlten die Stäbe wie die Lichtschwerter aus der „Star Wars“-Kinosaga. Ausgedacht hatte sich das singuläre Experiment der Orchester-Intendant Markus Rindt, der mit seiner Idee bei den IT-Experten der Technischen Universität offene Türen einrannte. Eine Symphonie Beethovens, räumt Rindt ein, erfordere derlei Technik nicht; wohl aber ein Stück wie „Semiconductor’s Masterpiece“, bei dem die drei Instrumentengruppen in ebenso vielen unterschiedlichen Taktarten und Tempi zu spielen hätten. Medienberichten zufolge brachten die Sinfonikerinnen und Sinfoniker dem Unterfangen offenbar mehr Skepsis als die Zuhörenden entgegen. Hinderlich fiel ihnen auf, dass sie, über die programmierte Zeichengebung hinaus, naturgemäß zu keinerlei Kontakt mit den motorisierten Maestros finden konnten. Dabei hält jeder einigermaßen erfahrene Konzertbesucher und erst recht jeder Ensemblemusiker für selbstverständlich, dass die ganzheitliche Körpersprache eines menschlichen Leitenden am Pult und gerade auch seine Mimik unabdingbar sind für die Interpretation eines zuvor mit ihm geprobten Werks aus dem Augenblick der Live-Aufführung heraus. Zumindest vonseiten der Automaten-Arme verläuft jede Darbietung wie die davor und die danach; allenfalls den Musizierenden bleiben enge Spielräume für Ausdruck und Ausdeutung. Der Apparat reagiert auf das Klanggeschehen vor ihm nicht, blind, wie er ist. Und taub, was schwerer wiegt. Immerhin: Beethoven wars auch. ■


Schwund ist immer

28. September   Über uns gehen sehr merkwürdige Dinge vor, am Himmel herrscht geradezu ein Kommen und Gehen. Dass, nur als Beispiel, der Swing-Bandleader Glenn Miller der Welt des Jazz abhandenkam, an deren Firmament er in der 1940er-Jahren als einer der hellsten Sterne strahlte, jährt sich demnächst zum achtzigsten Mal: Als Luftwaffen-Offizier war er am 15. Dezember 1944 über dem Ärmelkanal in einem Flugzeug unterwegs, bis er damit vom Himmel fiel – seinen Zielort Paris erreichte er nie, und wo die Maschine mit ihm abgeblieben ist, kam nie ans Licht. Im Sommer desselben Jahrs war über den Bestseller-Autor des „Kleinen Prinzen“ ein ähnliches Schicksal verhängt: Von seinem letzten, auf Korsika gestarteten Flug kehrte Antoine de Saint-Exupéry, erfahrener und begeisterter Pilot, nicht zurück, und erst über ein halbes Jahrhundert später erfuhren seine zigmillionen Leserinnen und Leser Näheres über die Umstände seines Todes im Meer vor Südfrankreich, wo im Jahr 2000 das Wrack seines Flugzeugs gefunden wurde. Bezeichnend, dass er schon einmal beinah abgestürzt war: 1935 sah er sich gezwungen, in der Nordsahara notzulanden, wo er fast verdurstet wäre, bis ihn nach fünf Tagen eine Karawane mitnahm. Aber nicht nur Stars, auch echte Sterne verschwinden, scheinbar einfach so. Dieser Tage nannte das Online-Wissenschaftsportal spektrum.de die überraschende Zahl von 5399 Leuchtkörpern, die in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts dem Nachthimmel beim Glitzern halfen, aber in unseren 2020ern – wie Vergleiche neuerer Himmelskarten mit älteren erwiesen – in der Astronomie als abgängig gelten, ohne dass sie als Supernovae explodiert wären. Ein bisschen Schwund ist immer, aber irgendetwas naturwissenschaftlich Begründbares muss mit ihnen geschehen sein, nur können die Forschenden bislang bestenfalls mit dürftigen Theorien zur Lösung des kosmischen Mysteriums beitragen. Immer mal wieder erleben wir selbst, wie uns das Gros der Sterne einfach aus dem Blick gerät: Vom Sternenmeer, wie wir es im Dunkel von Orten bestaunen, die weit genug von der Zivilisation entfernt sind, bleiben nur ein paar Handvoll heller Punkte übrig, sobald wir nächtens in der Stadt unser Augenmerk nach oben richten. Verloren sind die anderen Leuchtpunkte dem Himmelszelt darum nicht; nur vermag unsere Netzhaut ihren Schein vorm schwarzen Hintergrund nicht auszumachen, weil die Grundhelligkeit urbaner „Lichtverschmutzung“ ihn überdeckt. Zugleich taugt wenig so gut wie unser Bild vom Sternenhimmel dazu, uns die unumstößliche Binsenweisheit zu bestätigen, der zufolge nichts ewig hält und nur der Wandel Bestand hat: Denn das Licht der Sterne, die wir wahrnehmen, ist jahrhunderte- oder jahrzigtausendelang unvorstellbar schnell zu uns unterwegs – wer garantiert uns, dass die eine oder andere der riesigen Gas- und Feuerkugeln, während Äonen menschlicher Himmelsguckerei zu Sternbildern gruppiert, nicht schon längst mit gleißendem Pomp unterging? Wenn sich indes auf Erden Idole, Diven, Publikumslieblinge nach kurzem Ruhm verflüchtigen, so vollzieht sich das oft ohne Glanz und Schönheit, was besonders tragisch der Fall Daniel Küblböcks illustriert: Der Sänger und verhinderte „Superstar“ ging 2018 während einer Kreuzfahrt von Hamburg nach New York auf Nimmerwiedersehen buchstäblich unter. Ein Stern, ein Star wurde er erst eigentlich, nachdem er verschwunden war und gerade weil er erlosch. ■