Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)

Albtraum und Katzenjammer

„Das Wunder von Hof“ geht, 35 Jahre nach Ankunft der Prager Züge im Oktober 1989, im Theater der Stadt gründlich daneben. Immerhin: Eine Hälfte des Publikums bejubelt die Premiere des Auftragswerks stehend.

Anja Stange, Maurice Daniel Ernst, Benedict Friederich, Marco Stickel, Jörn Bregenzer (von links): Eine Low-Budget-Produktion.


Von Michael Thumser

Hof, 8. Oktober 2024 – Das berühmteste Satzfragment der deutschen Geschichte, gesprochen von Außenminister Hans-Dietrich Genscher, brach am 30. September 1989 auf dem Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag ab, noch bevor das Wichtigste gesagt war. „Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“ Das Folgende verschwand im erlösten Jubelgeschrei von Hunderten Geflüchteten aus der DDR. Mal „kontrafaktisch“ nachgedacht: Was wäre geschehen, hätte der Schlussteil der Botschaft gelautet: „… dass heute Ihre Ausreise nicht genehmigt werden kann“? Wäre es unter den ausgelaugten, desillusionierten Männern und Frauen zu Ausschreitungen und Verzweiflungstaten gekommen? Jedenfalls hätte es die legendären Züge nicht gegeben, in denen 1200 „Botschaftsflüchtlinge“ tags darauf, am 1. Oktober um 6.14 Uhr, auf dem Hofer Hauptbahnhof ankamen und frenetisch willkommen geheißen wurden. Vielleicht hätte es – ein historisches Desaster – Mauerfall und „Wende“ nie gegeben.

     Und jedenfalls nicht das Stück „Das Wunder von Hof“. Es wäre nicht schade darum gewesen. Im Auftrag des Theaters hat es Jörg Menke-Peitzmeyer geschrieben, und gemessen am Schlussbeifall nach der ersten Schauspielpremiere der Saison könnte man dem 58-jährigen Autor, der bisher namentlich mit erfolgreichen Kinderstücken hervortrat, zumindest einen Teiltriumph zusprechen: Die Hälfte des Publikums applaudierte stehend.

Ein „Wahnsinn“, damals und heute

Vor einem ruinösen, aber immer noch ansehnlichen Abklatsch der Haupthalle im Hofer Bahnhof (Bühnenbild: Johann Jörg) versammelt sich eine Fernseh-Filmcrew, um im Jahr 2024 den „Wahnsinn“ von vor 35 Jahren nachzustellen. Was natürlich nicht gelingen kann: Die fiebrige Erwartung einer Zeitenwende, die Aussicht auf Unglaubliches lassen sich in einer Low-Budget-Produktion nicht imitieren, das Produktionsteam des Films und sein Ensemble erweisen sich als ahnungslos oder dämlich oder zickig oder überambitioniert, und Regisseur Norman (Oliver Hildebrandt) muss der Statisterie recht geben: „Das Drehbuch ist scheiße.“ Schlimm genug. Schwerer wiegt aber, dass auch Menke-Peitzmeyers Drama, um im fäkalen Bild zu bleiben, zielgerichtet in die Hose geht.

Oliver Hildebrandt (vorn links) neben Jörn Bregenzer: "Unterhaltung" oder "Bildungsauftrag" (Fotos: H. Dietz Fotografie)

     Im Kern referiert sein Stück, was die Menschen hier – andernorts wird es wahrscheinlich niemals aufgeführt – seit 35 Jahren wissen: „Wir haben viel zu wenig gemacht aus Neunundachtzig“; nichts blieb übrig von der Solidarität und Superstimmung; den medial verbreiteten „Hochglanz“-Erinnerungen an eine unauslöschliche Sternsekunde der Weltgeschichte folgten, halb verheimlicht, „Albträume“ im Osten, im Westen Katzenjammer. Vor allem: Viele, die sich anmaßen, den Glanz jenes Epochenumschwungs und das „Wunder von Hof“ vollmundig zu feiern, sind viel zu jung, um selbst „dabei gewesen zu sein“. Auch Autor Menke-Peitzmeyer war nicht „dabei“; allerdings machte er sich bei dreißig hochfränkischen Zeitzeugen in stundenlangen Gesprächen schlau.

     Aus seinen Recherchen zogen er und Regisseur Reinhard Göber ein Destillat, gemischt aus „Unterhaltung“ und „Bildungsauftrag“, das dem Haus derart brisant erscheint, dass es eine Triggerwarnung für angeraten hielt: Es sei, liest man an den Türen zum Großen Haus, mit „Nacktheit, Sexualität, politischen Implikationen“ zu rechnen – mit allem also, womit im echten Leben auch zu rechnen ist. Zur „Unterhaltung“ gehören die Versteigerung einer Konservendose mit Trabi-Abgas im Publikum, ein warum auch immer vollentblößter junger Mann (Maurice Daniel Ernst) und eine junge Frau (Charlotte Kaiser), die ihre angebliche Freude über den historischen Glücksmoment (warum auch immer) mit der gleichen stöhnenden Leibeslust vorspielt wie im Film „Harry und Sally“ die ungenierte Meg Ryan. Wo das Stück Komödie sein will oder soll, geht es, allfälliger Geistesblitze ungeachtet, im Krampflachhaften zugrunde, in Überkomik und Zwangslustigkeit, die der Regisseur den Darstellerinnen und Darstellern offenbar verordnet hat.

Betroffenheits-Elegien

Anja Stange, Ralf Hocke, Cornelia Löhr (rechts): "Das Drehbuch ist scheiße."

Beharrlich zeigt die Saaluhr auf der Bühne 6.14 Uhr, wie die Zeiger steht die Handlung für gut hundert Spielminuten still. Fragment, wie Genschers Prager Satz, bleibt das Stück, verrät es doch, über die Benennung seines Anlasses hinaus, kaum Konkretes über sein eigentliches Anliegen und streckt und dehnt sich nur, entwicklungslos. Den „Bildungsauftrag“ erledigen, vor allem im letzten Drittel, Betroffenheits-Elegien wie aus FAZ-Leitartikeln oder Features des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, vor allem am Ende mit seiner weichlichen Wegweisung zu historischer Klarsicht und zukunftstauglicher Neubesinnung.

     Vor drei Jahren scheiterte am selben Ort bereits Franzobels Hexen-Werk „Anna Viehmann“ um eine vermeintliche Zauberin im Hof des siebzehnten Jahrhunderts: ein ziemlicher Albtraum. Mit Stücken aus der Lokalgeschichte hat das Haus mithin kein Glück. Nun steht „Thea von Tauperlitz“ in den Startlöchern. Droht der nächste Katzenjammer? Wird schon schiefgehen?

■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.
■ Kristoffer Keudels Einpersonenstück „Thea von Tauperlitz oder Kein Denkmal für die Frau hinter ‚Metropolis‘ “ mit Alrun Herbing in der Rolle der Drehbuchautorin Thea von Harbou (1888 bis 1954) hat am 18. Oktober im Studio Premiere. Informationen: hier lang.