Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)

Das letzte Wort

Der Kammerchor Hof liest den Ausbeutern der Menschen und der Erde gehörig die Leviten. Mit hoher Stimmkultur und gestalterischem Raffinement prophezeit er in seinem Programm „Warning to the Rich“ bedenkenlosem Reichtum und verantwortungslosem Materialismus ein Ende mit Schrecken.

Wolfgang Weser und der Kammerchor in der Kreuzkirche: "Die riesigen Pläne der Mächtigen kommen am Ende zum Halt." (Fotos: thu)


Von Michael Thumser

Hof, 17. September 2024 – Geld macht uns nicht glücklich. Drum „singe, wem Gesang gegeben.“ Dem Kammerchor Hof ist er gegeben, in beeindruckendem Reichtum: als stimmtechnisches Vermögen ebenso wie als Fülle stilistisch unterschiedlicher Gestaltungsweisen. Dabei kann sich das in Hochfranken und darüber hinaus singuläre Ensemble – das seit 27 Jahren besteht, sich aber vor Überalterung durch Zustrom auch junger Kräfte zu bewahren weiß – darauf verlassen, dass sein Leiter Wolfgang Weser die Kehlen fortlaufend akribisch schult und nicht müde wird, mit gründlicher Werkkenntnis und erfahrenem Geschmack immer aufs Neue gehaltvolle Projekte zu ersinnen.

     Geld macht nicht glücklich, aber es beruhigt uns ungemein. Wirklich? Nicht Beschwichtigung hatten die knapp dreißig Sängerinnen und Sänger am Sonntag mit ihrem Auftritt in der Hofer Kreuzkirche im Sinn, im Gegenteil. All denen, die allzu gierig den Spuren schnöden Mammons folgen, sprachen und sangen sie gehörig ins Gewissen, tadelnd und mahnend, bedrängend gar: Ausdrücklich als Warnung an die Reichen – „Warning to the Rich“ – wollte die Werkfolge verstanden sein. Wie stets bei diesem Chor verband sie Sätze aus mancherlei Epochen zwischen Renaissance und Gegenwart, um aus ungleichartigen Teilen ein Ganzes von höherer und tieferer Bedeutung zu gewinnen. Die teilt sich den Zuhörerinnen und -hörern spürbar eindrucksvoll mit.

Das Gravitationszentrum

Jenem Ganzen gibt die Motette „Warning to the Rich“ den Übertitel. In ihr verarbeitete der Schwede Thomas Jennefelt 1977 (englischsprachige) Verse aus dem neutestamentlichen Jakobus-Brief: der avancierteste und aufsehenerregendste Baustein des Konzerts und sein Gravitationszentrum. Der Chor rahmt es ein in das zwei Mal intonierte „Lied von der Moldau“ (aus Bertolt Brechts Stück über den braven Soldaten „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“) und sagt damit, geradezu agitierend, eine heilsgeschichtliche Zeitenwende voraus: „Die riesigen Pläne der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.“ Jene aufwieglerische Attitüde  sublimiert und steigert Jennefelts zehnminütiges Chordrama zu apokalyptischem Protest. Untergründig zunächst baut das Ensemble eine Drohkulisse auf: über einer Art gesummter Litanei ein unheimlich geflüsterter Fluch, der den „Reichen“ heulendes „Elend“ verkündet. Am Ende aller Tage, so die Weissagung, werde selbst unser für unverrottbar gehaltenes Gold und Silber„verfaulen“, und der „Rost wird euer Fleisch fressen wie ein Feuer“. Sodann, in einer Sequenz fast nach Art eines Gospels, wird den Ausgebeuteten ihr gutes Recht zuerkannt. In den Schluss mischt sich eine Spur höhnischer Ironie, wenn nicht Schadenfreude: „Wohlan nun, ihr Reichen!“ Über sie hat der Chor kompromisslos das Urteil gefällt, das in der Ewigkeit verhallende letzte Wort gesprochen: „Eure Freude verkehre sich in Traurigkeit und euer Lachen in Weinen.“

Harald Oeler: Brücke zwischen Alter und Neuer Musik.

     Wohl kein Programmbeitrag fordert an diesem Abend den Kammerchor stärker heraus. Zum zeitgemäßen Gestaltungsrepertoire des Ensembles gehören dabei rhythmisierter Sprechgesang, frei über Tonräume gleitende Glissandi, nach denen die Stimmen gleichwohl wieder akkurat ins Akkordische finden, auch die Orientierung auf verschlungenen Umwege durch schwer abschätzbare Dissonanzen. Dergleichen angemessen zu interpretieren, sind andernorts meist nur ausgebuffte Profis in der Lage.

     Mit exquisitem Alt gleicht sich Yvonne Berg der planvollen Dramaturgie Wolfgang Wesers an; schon zuvor, bei Antonín Dvořáks „An den Wassern Babylons“, tat sich die Künstlerin mit melancholischer Farbenstärke hervor. Ferner beteiligt sich Harald Oeler als trickreicher Akkordeonist, der unter anderem mit einer Tango-Fuge aus der eigenen Komponierwerkstatt eine Brücke schlägt zwischen der Alten und der Neuen Musik des Programms.

Der Arm des Allmächtigen

Gemäßigt modern hat es begonnen: mit einem „Fecit potentiam“ des 2016 gestorbenen Finnen Einojuhani Rautavaara, das buchstäblich packend den „gewaltigen Arm“ des Allmächtigen beschwört – und auf das sich später, deklamiert von vier Solisten, dem Chor und Dorothea Weser an der Orgel, ein Satz Giacomo Carissimis als frühbarockes Pendant bezieht. Noch weiter zurück in die Ferne, ins sechzehnte Jahrhundert nämlich, führen Philippe de Monte und Jacobus Clemens non Papa: Mit dem einen und seinem „Super flumina Babylonis“ („An den Flüssen Babylons“) kontrastieren die Vokalistinnen und Vokalisten feierlich entsagend die vorangegangene Ausdeutung durch den Romantiker Dvořák; mit dem anderen und dessen „Fremuit spiritu Jesus“ über die Auferweckung des Lazarus lassen drei Solistinnen und der Chor über tragischen Worten erhaben einen Auferstehungsgesang schweben.

     In eine Schlusssequenz leitet er über, die der Furcht vor ewiger Verdammnis dann doch eine elementare Zuversicht entgegensetzt. Aber genügt das, zm uns Geldmenschen zu „beruhigen“, womöglich „ungemein“? Zwischen zwei Sätze aus „Jesu, meine Freude“, der bekanntesten und bedeutendsten Motette Johann Sebastian Bachs, fügt der Kammerchor ergänzend eine sinngleiche Strophe des um eine Generation jüngeren Johann Friedrich Doles ein – in unverhofft tänzerischem Dreiertakt –; und schließlich bitten Chor und Orgel, mit dem „Veni, Sancte Spiritus“ des US-Amerikaners Morten Lauridsen aus dem Jahr 1997, den Heiligen Geist als „Heilsbringer“ und „Herzenslicht“ herbei: als „pater pauperum“, Vater der Armen. Auch hier, wie bei Bach, heißt das letzte Wort: „gaudium“, Freude. Vielleicht dürfen wir, obwohl bis zur Gedankenlosigkeit mit irdischen Glücksgütern gesegnet, doch noch darauf hoffen, dass zu den Wundern des Jüngsten Gerichts dereinst auch ein Nadelöhr gehört, weit genug, um nicht bloß die Kamele, Schwachen und Elenden hindurchzulassen.

■ Der Kammerchor Hof im Internet: hier lang.