F wie Fantasie
Alles andere als ein Notbehelf: Weil Klavierlegende Martha Argerich ihr Steingraeber-Konzert in Bayreuth hat absagen müssen, springen Yaara Tal und Andreas Groethuysen ein. Das weltberühmte Klavierduo überrascht das Publikum mit reizvollen Raritäten.
Von Michael Thumser
Bayreuth, 27. Juli – Schon drei Mal hat die Klaviermanufaktur Steingraeber & Söhne die weltberühmte Pianistin zu sich nach Bayreuth gebeten. Drei Mal kam was dazwischen; zwei Mal wars Corona. Heuer musste Martha Argerich wegen einer schweren Erkrankung absagen: Zwar habe die Ausnahmekünstlerin die Klinik verlassen können, ließ ihr Management wissen; allerdings rieten die Ärzte der 81-Jährigen zur Schonung, und Argerich hält sich daran. Am Sonntag hatte sie im Markgräflichen Opernhaus musizieren wollen, zusammen mit „friends“, unter ihnen ihr junger russischer Kollege Jura Margulis als Sozius in Duos an zwei Flügeln. Es wurde nichts daraus.
Das Konzert fand trotzdem statt: Man engagierte Ersatz. Obwohl in diesem Fall das Wort fast diskriminierend klingt: nach Lückenbüßern als Notbehelf. Davon indes kann bei Yaara Tal und Andreas Groethuysen wahrlich nicht die Rede sein. Die Israelin und der Deutsche, seit 1985 künstlerisch ein Paar, in aller Welt gefeiert und mit Preisen überhäuft, gehören unübertroffen zu den besten Gespannen ihrer Art.
Am meisten Ellbogenfreiheit bleibt jedem von ihnen, wenn sie, wie in Bayreuth nach der Pause, an zwei Flügeln Hand anlegen. Enger geht es in der ersten Hälfte des Abends zu, bei drei „Fantasien“ in f-Moll; dafür lassen sie sich nebeneinander vor nur einem Flügel auf zwei Bänken nieder. Bei Wolfgang Amadeus Mozarts „Fantasie für eine Orgelwalze“ (KV 608) müssen sie, wie Groethuysen erläutert, ihre vier Hände zwischen nur drei Oktaven unterbringen und auseinanderhalten. Dass ihr Urheber das kurios betitelte – in der Fassung Ferruccio Busonis dargebotene – Stück ursprünglich für die Walzen einer „Flötenuhr“, eines mechanischen Musikautomaten, in einem Wiener Wachsfigurenkabinett schuf, hört man ihm nicht an. Aus dem Spätschaffen, sogar dem Todesjahr stammend, hält es viel Düsternis bereit. Während einer kurzen Einleitung rüsten sich die Interpreten für eine Doppelfuge von barocker Strenge, die sie mit aufgeregten Trillern durch eine verwickelte Zwischenepisode unterbrechen. Dann, noch drängender, stürzen sie sich neuerlich in die nun noch heikler gesetzte Fuge, bevor sie die Schlusssequenz geradezu mit Grimm aufladen.
In aller Kürze, episch breit
Weiter die Räume, sensibler die Affekte in Carl Czernys Opus 226 aus dem Jahr 1829. Es beweist, dass der in Mozarts Todesjahr geborene Komponist, durch seine „Schule der Geläufigkeit“ als Klavieretüden-Drillmeister so verhasst wie unentbehrlich, mit etlichen seiner über 850 Arbeiten als hörenswert seriöser Tonsetzer gelten kann. Auf allen 88 Tasten der Tastatur, darum deutlich voller darf seine f-Moll-Fantasie intoniert werden. Beinah orchestral erschließt sich Tal die hohen Lagen, denen Groethuysen flexibel-tragfähige Bassregister unterlegt. Gemeinsam schließen sie leidenschaftlich die an Modulationen reiche Gefühlspalette auf, schieben aber auch entspannt ein fast behagliches Andantino dazwischen. Ihr gleichrangig luzider Anschlag vermeidet alle Verklumpungen des Klangs: Noch das heftige Presto gelingt völlig transparent.
In Czernys kaum je aufgeführtem Werk, sagt Groethuysen, werde „in kurzer Zeit viel abgehandelt“. Bei Schuberts umso bekannterer „Fantasie“ (D 940) von 1828 strebt das Geschehen indes „episch in die Breite“. Auch sie entstand in einem letzten Lebensjahr: „Es geht um Sehnsucht, Hoffnung, Resignation“, so der Pianist, der mit seiner Partnerin jene drei Begriffe zwanzig Minuten lang zum Programm macht. Behutsam zögerlich, fast sentimental formulieren sie das begehrliche Grundthema als Ausgangspunkt für eine Motivik verlangender Niedergeschlagenheit, die sie durch erwartungsvolle Momente vereinzelt aufhellen, aber nur, um bald mit akkordischen Schicksalsschlägen neuerlich kummervolles Dunkel über die Empfindungen zu breiten. Auch wo das Spiel bestimmt, sogar trotzig aufbegehrt, machen die beiden durch schier end- und bodenlose Pausen jeden Versuch einer dauernden Flucht ins Licht zunichte. In aller Schönheit stellen sie arglose Vorstellungen von romantischer Lieblichkeit gründlich infrage, durch die Gleichzeitigkeit von Träumerei und Tragik, die dem flehentlichen Ausgangsthema, bei seiner letzten Wiederkehr, die Gewissheit unabänderlicher Aussichtslosigkeit verleiht. Das hat, als Musik und als ihre Deutung, Größe.
Kleinteiliges Wechselspiel
Bei zwei Variationenfolgen deutlich leichteren Gehalts sitzen die Musikerin und der Musiker einander an zwei Instrumenten gegenüber – was sie nicht hindert, weiterhin siamesisch-zwillingshaft zu agieren und zu reagieren. Die eine Serie entwarf Mozart – wiederum im Jahr 1791, aber in F-Dur – über ein komisches Operncouplet von Benedikt Schack und Franz Xaver Gerl: „Ein Weib ist das herrlichste Ding“ (KV 613); im anderen Fall ließ sich Camille Saint-Saëns neun Veränderungen über das Trio-Thema aus dem Menuett von Ludwig van Beethovens Es-Dur-Klaviersonate opus 31/3 einfallen. Seit Jahrzehnten miteinander blind vertraut, sind sich Tal und Groethuysen in jedem gestalterischen Detail, allen Tempo- und Ausdrucksschwankungen, bei jeder rhythmischen Komplikation und jeder Aufspaltung in kleinteiliges Wechselspiel unauflösliche einig. Wo von ihnen Virtuosität verlangt ist, verwirklicht sie sich uneitel, stets synchron, fast makellos. Leichtherzig, aufmüpfig, pfiffig fassen sie die Effektstücke auf. Zwar nehmen sie Mozarts Moll-Eintrübungen, Saint-Saëns’ Trauermarsch-Assoziationen ernst; bei allzu gravitätischer Feierlichkeit aber scheint Ironie durch.
Weniger als Zugabe denn als mitreißendes Finale stellen Yaara Tal und Andreas Groethuysen den „Tourbillon“ einer französischen Komponistin des neunzehnten Jahrhunderts ans Ende ihres Programms. Wie ein fröhliches Unwetter schicken sie das attraktive Kunststück über 176 Steingraeber-Tasten. Von seiner Schöpferin wissen sie „nicht mehr als den Namen“ mitzuteilen: Marguerite Mélan-Guéroult. Der Titel der artistischen Pièce bedeutet „Wirbelwind“, und ihn kann man sich leichter merken: Es rauscht und braust und tost – ein Sturm, turbulent wie so manche Ausgeburt der Fantasie.
■ Nächster Auftritt des Duos Tal-Groethuysen in Bayreuth (mit teils identischem Programm) am 17. August um 19.30 Uhr im Rahmen der Wahnfried-Konzerte; Informationen im Internet: hier lang.
■ Die kommenden Veranstaltungen der Klaviermanufaktur Steingraeber und Söhne im Internet: hier lang.
Des Sommers Morgenröte
Auch heuer machen die Symphoniker dem Publikum in Hof mit sommerlicher „Klassik am Eisteich“ viel Freude. Als roter Faden schlängelt sich hörenswert die spanische Sonderform der Operette, die Zarzuela, durchs internationale, vor allem mediterrane Programm.
Von Michael Thumser
Hof, 8. Juli – „Zarza“, das spanische Wort, bedeutet auf Deutsch Dornbusch oder, sympathischer, Brombeere. Womöglich erhielt nach der süßen Frucht das Barockschlösschen La Zarzuela, bei Madrid in ausgedehnten Waldungen gelegen, seinen Namen, das heute die royale Familie des Landes bewohnt. Errichten ließ es König Philipp IV. 1627 als luxuriösen Standort für seine Jagdausflüge, mithin als Lustschloss, Ort der Freizeit, der Erfrischung nach hauptstädtischer Sommerhitze und der ländlichen Erholung von den Staatsgeschäften. Ein Ort der Musen war es auch – der leichten Muse: Die Zarzuela, die nationale Spielart des populären Singspiels, erklang hier im siebzehnten Jahrhundert erstmals zum Pläsier der höfischen Gesellschaft und etablierte sich vor allem nach 1850 als spanischer Anteil an der europäischen Gattung der Operette. Auch hier kams auf die Liebeshandlungen kaum an; Hauptsache, die Musik besaß Vehemenz, Herzschmerz und Humor.
Wieviel davon in ihr steckt, verriet am Freitag in Hof das sommerliche Konzert der Symphoniker in der Sport- und Freizeitanlage unterm Theresienstein: Bei der Neuausgabe der unterhaltsamen „Klassik am Eisteich“ legte die Zarzuela den roten Faden durch viele gefällige und einige umso anspruchsvollere Beiträge unterm Übertitel „’O sole mio“. Der stammt zwar aus dem neapolitanischen Italienisch, verweist aber ebenso wie die iberischen Piècen auf die vor allem südeuropäischen Schauplätze des Programms: auf die „mediteranée“, wie Dirigent Enrico Delamboye dazu sagt – das Mittelmeer. Und das gilt nun mal den Nordlichtern Europas als Traum-, Fantasie- und Sehnsuchtsort für Lebensleichtigkeit und sonnenheiße Muße.
Volksfestliche Vitalität
„La Revoltosa“, die Wilde, Boshafte, die ‚Störenfriedin‘, heißt eine Zarzuela von Ruperto Chapi. Er teilt mit anderen Vertretern der Gattung, so mit Federico Chueca und Gerónimo Giménez, Reveriano Soutullo und Juan Carbonell, das Schicksal, dass hierzulande kaum jemand von ihm weiß. Warum eigentlich? Delamboye – der sich enthusiastisch am Pult fast noch mehr auspowert als beim großartigen elften Abonnementkonzert des Orchesters zwei Wochen zuvor – bringt eine gar nicht arg fremde Musik zum Leben und Beben, Schmelzen und Scherzen, Schwelgen und Schwingen. Seinen pittoresk heftigen Impulsen folgen rasselnd die Trommeln, Becken, Pauken; hier zärteln schlichte Weisen, dort schraubt sich sentimentales Melos auf; nicht selten entfesselt sich volksfestliche Vitalität. Sogar Kastagnetten klappern vor lauter guter Laune, mit Pizzicati machen die Streicher den Bläserkolleginnen und -kollegen Dampf, denen, wie laut und ungestüm sie sich auch gerieren, die Puste nicht ausgeht. Es zeigt sich, dass die Operette Spaniens der deutschen und österreichischen an rastlosem Einfallsreichtum wie an seliger Empfindung nicht nachsteht – und dass sie sich hier und da vergleichbare Banalitäten erlaubt. Statt einer siebenundzwanzigsten „Fledermaus“ oder „Lustigen Witwe“ könnten einheimische Theater erstmals eine Zarzuela wagen; den Versuch wärs wert.
Denselben Namen, Zarzuela, trägt in Spanien übrigens eine Art Eintopf mit diversen Fischen und Meeresfrüchten – ein maritim-mediterranes Allerlei. Ähnlich sättigend entfaltet sich die Werkfolge des Konzerts als sommersüdliches Potpourri. Mit den Symphonikern studierte Delamboye auch Stücke aus Italien, Griechenland und Frankreich ein, sogar aus der Schweiz und England. Von selbst versteht es sich, dass die Musikerinnen und Musiker dem immer wieder begeistert applaudierenden Publikum Eduardo Di Capuas Gassenhauer „’O sole mio“ nicht vorenthalten. Noch eine Stufe trivialer klingt ein „sommerabendlicher“ Walzer des Elsässers Emil Waldteufel: „Soirée d’été“. Da spielt, schon wegen des auffallend effektvollen Arrangements, „La Mer“ nach Charles Trenets berühmtem Chanson in einer ganz anderen Liga. Wie still verliebtes Operettenglück intoniert das Orchester das kurze Intermezzo aus Umberto Giordanos Oper „Fedora“. Bei Mélanie Bonis’ „Gitanos“ hingegen schäumen seine Temperamente über wie im Rausch. Ausdrücklich wechselvoll indes tauscht Delamboye die Leidenschaften in drei vielseitigen Tanz-Miniaturen des Griechen Nikos Skalkottas aus.
Schönwetter über England
Allerdings, die Schweiz – ein Teil der „mediteranée“? Wohl kaum. Zwar deklarieren auch die munteren Moderationen des Dirigenten die alpine Eidgenossenschaft nicht zum Küstenland um; aber bei der „Pastorale d’été“ des Schweizers Arthur Honegger „umschlingt“ das Orchester die Zuhörerinnen und Zuhörer unwiderstehlich mit „des Sommers Morgenröte“, ganz so, wie es das Motto über der Partitur, ein Vers Arthur Rimbauds, vorschlägt. Eine Impression aus ländlicher Natur: Behaglich schlicht wiegt sie sich in schierer Schönheit.
Impressionismus reinsten Wassers, aus dem sogar vollständig meerumspülten, allerdings eher kühlen Britannien, wird während der kunstvollsten, am sublimsten interpretierten zehn Minuten des Abends laut, in der Tondichtung „Summer“ von Frank Bridge, dem bedeutendsten britischen Tonsetzer zwischen Elgar und Britten. Lose erst setzen die Symphoniker Motivfragmente über leisem Streicherweben zusammen, dann darf die Solo-Oboistin mit einer hypnotischen Kantilene hervortreten. Derart angeregt, erwachen auch unter den anderen Instrumenten zauberisch Tag und Licht, Vogelstimmen ergreifen hell das Wort, üppig blühen satte oder gebrochene Farben auf … Keine Hundstage in ungezähmt südlicher Natur imaginiert das Orchester, sondern sommerliche Augenblicke in einem exklusiven Landschaftsgarten der gemäßigten Breiten. Wer glaubt, in England gäbs nur schlechtes Wetter, irrt: Sommer wird es unter jedem Himmel, und scheint die Sonne hierorts auch nicht glühend, so doch kultiviert.
Letztes Konzert der Hofer Symphoniker vor der Sommerpause in der Region: 28. Juli, Schwarzenbach/Saale, Rathaushof, 19.30 Uhr, „Klassik an der Saale“ (Dirigent: Michael Falk)
Familienangelegenheiten
Mitglieder der Symphoniker versammeln sich in Stammbach und Hof zu Kammerkonzerten voller Harmonie: Ausdrucksvoll führen sie vor, wie wechselreich und doch geschlossen unterschiedliche Instrumentalbesetzungen agieren können.
Von Michael Thumser
Stammbach, Hof, 8. Juli – Wer passt mit wem zusammen? Eine der Grundfragen des Lebens und des Liebens ist auch eine der Musik. Im klassisch-romantischen Symphonieorchester pflegen die Register sich nolens volens einhellig zu mischen, in der Kammermusik allerdings, mit ihren mal ganz beschränkten, mal ausgreifend starken Besetzungen, kommt es sehr darauf an, wie die kombinierten Instrumente im Wortsinn zusammenstimmen. Urteilt vorschnell, wer etwa Posaune und Harfe eine gelingende Beziehung nicht gleich zutraut? Unbezweifelt hingegen gilt das Streichquartett als einträchtige Urfamilie der Gattung. Sofern aber ein weiteres Instrument sich zu ihm gesellen will, eine Klarinette zum Beispiel – nehmen die Vier es dann an Kindes statt an? Oder bleibt es fünftes Rad am Wagen?
Nicht im Hofer Kammerkonzert der Symphoniker am Sonntag; und nicht bei Wolfgang Amadeus Mozart, dessen singuläres Klarinettenquintett den krönenden Abschluss in der Hospitalkirche bildete. Genauso kompatibel schaltet sich das Fagott mit offenherzigen Streicherpartnern gleich, was François Devienne aufs Schönste bezeugte: Fast auf den Tag drei Jahre jünger als das österreichische Genie, schuf der Franzose – neben vielem anderem – drei Fagottquartette, die in Wohllaut und Faktur den Kammerwerken Mozarts achtenswert nahekommen.
Mit dem dritten in g-Moll eröffnen der Geiger Nikolai Katsarski, der Bratschist Josip Kvetek und Tamara Melikian am Cello das Programm, wobei sich Tonko Huljev mit seinem Fagott wie ein Solist an die Spitze der drei setzt. Freilich tut ers, ohne sich eitel vorzudrängen. Der schallenden Durchschlagskraft seines Instruments, zumal im hölzernen Interieur des alten, akustisch günstigen Gotteshauses, ist er sich bewusst. Tritt er auch phasenweise als Protagonist hervor, so fügt er seinen Impetus doch familiär dem Trio ein, das seinerseits die Kräfte gut einteilt, um im gewünschten Augenblick nicht nachzustehen. Als Klassik reinsten Wassers und lautersten Geistes fließt der Kopfsatz dahin, „con espressione“, wahrlich mit Ausdruck, der sich im Schlussrondo zu fröhlicher Ungehaltenheit intensiviert. Dazwischen, in der Romanze des Mittelsatzes, lässt Huljev sein Fagott zärtlich um die Sympathie der Streicher werben.
Und noch ein Liebeslied: im zweiten Satz aus dem „Souvenir des Florence“ von Pjotr Iljitsch Tschaikowski. Aus dem Streichsextett haben sich die Damen Gonaschwili und Yune, Ivanova und Melikian sowie die Herren Bonev und Shestiperov die beiden Mittelsätze ausgesucht. Wie einen gefühlig-sanftmütigen Gesang beginnen sie das Adagio cantabile, wie einen von Gitarrengezupf unterfütterten Herzensgesang; doch schroff unterbrechen sie ihn, geisterhaft flüchtig mit Momenten eisgrauer, eiskalter Panik. Ein ungeheuer starker Kontrast: Er bereitet auf die strenge Schwermut des russisch-folkloristisch grundierten Allegrettos vor, während dessen sich Gelegenheit findet, auch einmal die bei Symphoniekonzerten gern überhörten, hier von der famosen Petia Ivanova dominierten Bratschen bewundernd zu beobachten.
Spannung, keine Spannungen
Solch Sextett aus der Streicherfamilie geht in der Kammermusik schon fast als Großfamilie durch. Stehen also, wie gelegentlich im richtigen Leben, Entfremdung und Verwerfungen zu befürchten? Immerhin sitzen die Interpretinnen und Interpreten vorm Hospital-Altar arg eng beieinander, und Platz nehmend fährt Cellistin Melikian schon mal kurz den rechten Ellenbogen aus, um sicherzustellen, dass ihrem Bogenarm genug Platz bis zum benachbarten Violaspieler Bonev bleibt. Im Kollektiv indes, das die satte, teils orchestrale Leidenschaft des Werks voller Spannung, aber ohne Spannungen intoniert, herrschen solidarische Verbundenheit und eitel Harmonie.
Erst recht in Mozarts Klarinettenquintett, einem der unerreichten ‚Spätwerke‘ des erst 33-jährigen Tonsetzers: Legendär steht es im Ruf musterhafter Ausgewogenheit, „edler Einfalt“ und „stiller Größe“. Felicia Kern als hinreißende Klarinettistin im Verein mit einem Streichquartett aus Heloise Schmitt und Alex Köhn, Josip Kvetek und Young-Phil Hyun steht nicht an, es so behutsam wie engagiert an ebendiesen Schokoladenseiten zu fassen. Indem das Ensemble die Tempi bevorzugt gemäßigt wählt, findet es vom Kopfsatz an zu reichlich Innerlichkeit, die es durch subtile Verlagerungen des klanglichen Schwerpunkts wechselweise auf alle Instrumente verteilt. Weniger über allen als inmitten von allen entfalten sich Felicia Kerns noble, bedachtsam anhebende, weich ausklingende Bläserphrasen, als wär das Larghetto die Arie aus einer von Mozarts späten Da-Ponte-Opern.
Im freiherzig belebten Menuett droht der Zusammenhalt dann doch rhythmisch zu zerbrechen, bevor die Klarinette ihn nach ein paar Schrecksekunden neuerlich fest abdichtet. Verhalten burschikos, freilich ohne Leichtfertigkeit fassen die Künstler den Satz auf – was sich gut mit dem Variationen-Finale verträgt. Beflügelt wie ein Kinderlied legen die Fünf sein Thema dar, mit einem Schwung, der, bald intensiviert und bald gemäßigt, erhalten bleibt, wie stark- oder pastellfarben sich die Kolorite auch in der Folge unterscheiden. Einmal versenken sich die Musikerinnen und Musiker in getragen-dunkles Moll – aus dem sie ausgelassen wieder auftauchen, um das Werk, statt mit beliebigem Außenglanz, himmelslicht zu Ende zu bringen.
„Himmlische Klänge“ steht über dem Programm als Ganzem (das Tags zuvor bereits in der Stammbacher Stadtkirche erklang). Bei den geflügelten Miniaturmusikanten, wie sie als Grünhainichener Engelsfigürchen allwinterlich in vielen Weihnachtszimmern aufspielen, tun auch Posaune und Harfe mit. Aber verschwistern sich die beiden Instrumente, eingedenk ihrer optischen und tönenden Unterschiedlichkeit, auch im richtigen Leben? Als kleinste Besetzung des Abends steuern Felix Leibbrand und Christine Leibbrand-Kügerl, sie an der Harfe, er zwischen zwei Posaunen alternierend, vier gefällig romantisierende Stücke aus jüngster Vergangenheit bei: von Deborah Henson-Conant und Caroline Calvache, Sezen Aksu und Spiros Exaras. Ein Ruhepol im sonst anspruchsvollen Programm: Meditativ versunken, auch exotisch träumerisch breitet das Duo die eingängigen Piècen aus, in der ungefährdeten Balance zweier ebenbürtiger Vertrauter. Posaune und Harfe? Hier passen sie zusammen. Die Künstler sind ein Ehepaar.
Weitere Konzerte der Hofer Symphoniker in der Region:
■ 8. Juli, Hof, Städtische Kunsteisbahn, 19.30 Uhr, „Klassik am Eisteich: O sole mio“ (Dirigent: Enrico Delamboye)
■ 28. Juli, Schwarzenbach/Saale, Rathaushof, 19.30 Uhr, „Klassik an der Saale“ (Dirigent: Michael Falk)
Von versunknen schönen Tagen
Gemischte Stile, lebhafte „Affeckte“ – beim letzten Hofer Abonnementkonzert der Saison ergründen die Symphoniker: Wie romantisch ist die frühe Klassik? Wie gerät Altvater Bach in einen Ausflug Max Regers zum französischen Impressionismus?
Von Michael Thumser
Hof, 28. Juni – Nach 1945 wurde die Musik neu erfunden, und das gleich mehrfach. Eine der vielen, einander entgegentretenden Richtungen trachtete danach, alle Subjektivität des Komponisten, jede ‚romantische‘ Gefühlsregung auszuschließen; ein ungeheurer Einschnitt in die Traditionen, die etliche Jahrhunderte hindurch scheinbar unverbrüchlich gegolten hatten. Nun beachtete auch der formstrenge Johann Sebastian Bach objektive Regeln, nach denen er sein „Material organisierte“ – wie man das nach dem Zweiten Weltkrieg arg nüchtern nannte –; dennoch herrscht bei ihm und seinesgleichen kein Mangel an Affektausdruck. Sein gleichfalls komponierender Sohn Carl Philipp Emanuel war überzeugt, dass „ein Musickus“ die hörenden Gemüter „nicht anders rühren kann, er sey denn selbst gerührt“. Wenn das nicht romantisch ist. Wie sich dergleichen bewerkstelligen lässt, führten am Freitag die Symphoniker in Hof vor, nicht mit „Musick“ aus dem achtzehnten Jahrhundert allein, auch mit Romantik aus dem zwanzigsten.
Aber stimmt der Begriff denn? Max Regers „Romantische Suite“ aus dem Jahr 1912 heißt zwar so, aber sie klingt, zumindest stellenweise, sehr anders. In der St.-Michaelis-Kirche, beim elften und letzten Symphoniekonzert der Saison, verleiht Enrico Delamboye dem erlesenen, leider selten gegebenen Werk reichlich vom Nacht- und Waldzauber jener gefühlsseligen Kulturepoche; aber der Dirigent motiviert das Orchester, ihm mit hochentwickeltem Klangsinn und ausgefeilter Koloristik zu folgen – mit den Mitteln eines Impressionismus, wie er um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert von Frankreich aus die empfänglichen Ohren ganz Europas bezirzte. Dann wieder schieben die Posaunen, kaum merklich, ein notorisch ehrwürdiges Vier-Töne-Motiv ein: B-A-C-H. Manches also geht da durcheinander und passt doch raffiniert zusammen.
Der Suite sind drei Gedichte Joseph von Eichendorffs beigegeben, wenn auch nachträglich von fremder, nicht von Regers Hand. Aber sie beschreiben anschaulich, welche Bilder und Empfindungen der Komponist in seiner explizit als „Programmmusik“ geschaffenen Suite evozieren wollte. „Schöne Einsamkeit“ zwischen „Waldesseen“ und „Marmorbildern“: Still und weit breitet Delamboye am Beginn des eröffnenden „Notturnos“ Debussy-Reminiszenzen aus. Und auch wenn sich der Ensembleklang später konkretisiert, so inszeniert der Niederländer ihn doch schwebend und blühend, nicht in prangenden, sondern gleichsam pastellen sanften, allemal delikaten Farben.
Eine Art Sommernachtstraum
Über zarten Streichern lassen die Klarinettistin, die Flötistin, der Oboist ihre Soli und ihr Zusammenspiel wuchern und wehen. Kraftvoll sich steigernd, streben die Symphoniker Ausdrucksgipfeln zu, die der Dirigent jedoch stets zur rechten Zeit abfedert, um Übertreibung zu vermeiden. Auch im Mittelteil, einer Art Sommernachtstraum flatterhafter, Walzer tanzender Naturgeister, schließt er die nicht kompakte, doch komplexe Partitur zu staunenswerter Transparenz auf. Selbst klanglichen Ballungen erspart er allen Ballast, sodass im makellos agierenden Orchester die Tonarten in ihrem unaufhaltsamen Wechsel immer wundersam vage bleiben: nie stillstehend in der Magie ihrer Modulationen.
Wenn im Schlussteil wie ein „Aar“ die Sonne „auf die Höh’n steigt“, belebt der Dirigent zunächst noch einmal die berückend geheimnisvolle Abend-Atmosphäre des „Notturnos“. So macht er von vornherein vergessen, dass dem Tonsetzer die Inspirationen für den späteren Verlauf jenes Finale auszugehen drohten. Über Phasen ausgedünnter Substanz helfen die Symphoniker mit wechselnd dosiertem Nachdruck und vielen ausgefeilten Details hinweg. Endlich „bebt die Erde vor Wonne“ unter mächtigen Blechbläsermanifestationen: „Lass den Schlaf nun“, heißt es bei Eichendorff dazu, „lass die Sorgen!“ Dazu ruft Regers tonmalerisches Triptychon insgesamt auf, indem die Symphoniker es subtil abschattieren, am Ende aber blendend zum Leuchten bringen: ein Appell zum Optimismus, wie er sich, gerade in einer beklemmenden Gegenwart, „von versunknen schönen Tagen“ lernen und ererben lässt.
Enrico Delamboye „rührt“ sein Publikum, weil er „selbst gerührt“ ist: angerührt von der Musik. Innige Gefühle, und allemal romantische, regen sich lebhaft in ihm, das ist den fleißigen Armen, überhaupt dem in Aufregung versetzten Körper des freundlich lächelnden „Musickus“ anzusehen. Schon in der festlichen, schwungvoll festgefügten Ouvertüre zu Georg Friedrich Händels „Feuerwerksmusik“ am Beginn des Konzerts weisen sich seine heftigen, großzügigen Zeichen nicht als drakonische Forderungen, sondern als aufmunternde Herausforderung aus. Und wie der Mann am Pult steht ebenso der Solist des Abends nicht an, sich „selbst in alle Affeckte zu setzen, welche er bey seinen Zuhörern erregen will“, wie C.P.E. Bach es sich wünschte: Für dessen Cellokonzert in A-Dur nimmt Johannes Moser vor dem Orchester Platz, wo er alsbald seine solistischen Passagen begeistert mit den Triumphgesten eines siegreichen Florettfechters abzuschließen pflegt.
Selbstbewusst schmerzlich
Temperamentvoll, fast ungeduldig stürzt er sich in die Allegro-Ecksätze. Allerdings trifft sein ruppig-rauer Ton bald die Höhe, bald die Tiefe oft nicht genau, und manch einer seiner irrwitzig schnellen Läufe verflüchtigt sich in unklarem Gemunkel. Anders hingegen gelingt ihm der Mittelteil: tiefer, gründlicher. Sonor stimmt er mit seinem Instrument einen edlen Klagegesang an, nicht aber kleinlaut, gramgebeugt, gebrochen; sondern selbstbewusst tut er den Schmerz kund, wie eine Proklamation; wiegt sich doch gerade heutzutage „die Freude, das schöne leichtgläubige Kind“, eben nicht allenthalben friedvoll „in Abendwinden“, wie sie es im Eichendorff-Gedicht und in Regers verträumt-glorioser Suite tut. Beruhigung und Ruhe lässt Moser vollends erst in der Zugabe zu, nun aber elementar: Nur ein paar Minuten dauert die Sarabande aus Vater Bachs erster Cellosuite, aber in ihr beschwichtigt der Künstler alle widerstreitenden Gefühle, pochenden Befürchtungen, fiebrigen Bedürfnisse. Nicht dass er trügerisch Gemüt und Sinne narkotisierte; vielmehr bringt er wahren Frieden über sie, den zerrissenen, niederdrückenden Zeitläuften zum Trotz beherrscht, gesammelt, gleichsam erhobenen Haupts.
Weitere Auftritte der Hofer Symphoniker vor der Sommerpause in der Region:
■ 30. Juni, 19 Uhr, Lichtenberg, Frankenwaldsee, Konzert zur Einweihung der neuen Seebühne (Dirigent: Ivo Hentschel)
■ 2. Juli, Stammbach, Stadtkirche, und 3. Juli, Hof, Hospitalkirche, jeweils 19 Uhr, Kammerkonzert „Himmlische Klänge“
■ 8. Juli, Hof, Städtische Kunsteisbahn, „Klassik am Eisteich: O sole mio“ (Dirigent: Enrico Delamboye)
Saitenspiele im Kleiderschrank
Zwar mit einem Solo, doch keineswegs kleinformatig endet die Saison der Kulturwelten: In Helmbrechts wendet Evelyn Huber klassische Harfenkunst virtuos und vehement auf Jazz, Film- und Weltmusik an.
Von Michael Thumser
Helmbrechts, 17. Juni – Auch wer sich lauteren Herzens „für eine bessere Welt“ einsetzt, wird nicht pausenlos mit Erfolg belohnt, sondern muss gelegentlich Schicksalsschläge einstecken. Gut zwölf Jahre lang gehörte Evelyn Huber zur berühmten Weltmusiktruppe Quadro Nuevo um den Saxofonisten Mulo Francel – „mein Lebensmittelpunkt“, wie die Harfenistin vor einem Jahr der Süddeutschen Zeitung sagte. 2020 aber fühlte sie sich durch neu hinzugekommene Musiker an den Rand gedrängt. Erst kam der Bruch mit der Band, für beide Seiten schmerzhaft, dann kamen, katastrophal wie für alle Künstlerinnen und Künstler, die Corona-Jahre, die Stornierung vereinbarter Auftritte, der Stopp von Projekten.
2019 hatte Huber, zusammen mit Gregor Hübner und seinem Sirius String Quartet, noch die CD „Para un mejor Mundo“ produziert: Für eine bessere Welt . Wenig später sah auch sie sich mit einem Mal böse isoliert und ganz auf sich verwiesen. Gleichwohl verhehlte sie am Sonntag in Helmbrechts nicht, dem Virus dankbar zu sein; hätte sie doch ohne den Lockdown eine unerwartete Entdeckung nie gemacht: „Mein begehbarer Kleiderschrank daheim eignet sich hervorragend als Tonstudio.“ Links die Konzert-Outfits, rechts die Sportklamotten, dazwischen die Musikerin mit ihrem Instrument: „Das ergab eine perfekte Akustik“ – und reichlich Grund zur Freude. „Joy“ heißt denn auch ein Album, dass sie dort konzipierte, bis sie es mit der Philharmonie Salzburg und deren Dirigentin Elisabeth Fuchs endlich ins Werk setzen konnte. Unter anderem ist „Para un mejor Mundo“ darauf zu hören, jetzt symphonisch im XXL-Format. Durch die Pandemie zur Ruhe gekommen, nahm sich die Künstlerin obendrein vor, ihre Zuhörerinnen und Hörer in die Gegenrichtung mitzunehmen, in die neu erlebte Stille: Auf ihrem Album „Calm“ ist sie mit Musik der ruhigen Sorte zu erleben. Und durchweg als Solistin.
Nicht zusammenfalten
So wie jetzt als Gast der Kulturwelten bei deren Saisonabschluss in der Johanniskirche. Aus beiden Alben spielt sie Ausschnitte, allein in aller Ruhe und mit spürbarer Freude an der wiedergewonnenen Öffentlichkeit. Fast familiär nimmt sie Kontakt zum Auditorium auf, beantwortet Fragen zu ihrem Instrument („Vierzig Kilo schwer, und man kann es nicht zusammenfalten“), erzählt von sich und ihrer Musik. Die neigt zu beidem: Zu einer Heimlichkeit, die zwar nichts versteckt, aber viel verschleiert und ganz nah bei der Musikerin zu bleiben scheint; und zu einem vollgriffig-opulenten Sound, in dem Huber sich und ihr Publikum besonders „gern badet“.
Lang und blond fällt das Rauschgoldhaar über die Schultern der 52-Jährigen, für einen lieblich zupfenden Weihnachtsengel ist sie sich indes zu schade. Nicht zwar mit den Händen, aber mit den Fingern, durch Hornhaut abgehärtet, langt sie kräftig zu, schon beim sommerlichen Auftakt dieses sonnengetränkten Frühabends, bei einer Variation von „Summertime“. Bis sie die hypnotische Südstaaten-Melancholie dieses am häufigsten gecoverten Jazzstandards aller Zeiten aufgreift, lässt sie Orientalismen leise laut werden, bringt impulsive Rhythmen voran, räumt freizügig fantasierenden Passagen Platz ein wie einer Improvisation. Obendrein bereichert sie George Gershwins US-Gassenhauer mit Motiven aus einem Prelude von Henry Purcell, dem barocken „Orpheus Britannicus“.
Zusammengemischtes
Evelyn Hubers Stil ist die Mixtur der Stile; ihre Gemütsäußerungen, wiewohl immer freundlich, amalgamiert sie aus sehr veränderlichen Stimmungen. „Zusammengemischt“ – aus zwei in den Vereinigren Staaten gewachsenen Ideen – hat sie auch eine überschäumend lebendige, ein wenig verworrene Eigenkomposition, in der sie, zusammen mit ihrer Virtuosität, die vielfältigen Spielweisen der Harfe beeindruckend entfaltet; im klassischen Konzertsaal erlebt man das Instrument so nie. Zwischen Dämmerkühle und Fieberschüben: Die Gefühlstemperaturen der Stücke im Programm ähneln einander allmählich auffallend, und nicht jeder Beitrag gründet auf so belastbarer Substanz wie ein filmmusikalischer Doppelpack mit Themen aus Charlie Chaplins „Modernen Zeiten“ und Ennio Morricones „Es war einmal in Amerika“. Dessen sonores Sentiment unterstützt sie durch den beiläufigen Einsatz einer kleinen, rein elektroakustischen „EHC“-Harfe.
EHC: So lauten die Initialen ihres großen Vorbilds Deborah Henson-Conant. Deren dreisätzige Suite „Soñando en Español“ gibt es sowohl in einer Orchesterfassung (und, als Ersteinspielung, auf der „Joy“-CD) wie auch in der Soloversion, mit der Huber in Helmbrechts den Schwerpunkt setzt. „Träumen auf Spanisch“: Dabei trifft „Flamenco auf Barock“, verspricht sie; zuvor aber, im ersten Satz, führt sie eine Begegnung zwischen spätromantischer Harmonik und Gestik mit immer unbeherrschteren Rhythmen aus Lateinamerika herbei. Die Schwermut des Mittelteils löst sie vorübergehend in drängenden Optimismus auf. Der entfesselt sich schließlich im epochenübergreifenden Tanzfinale vollends, als Hubers trommelnde Hände das Stampfen ungezähmter Füße ersetzen.
Eine Handschrift, nie verlernt
Als Studentin und junge Frau erlernte sie klassisches Harfenspiel an Konservatorien und Hochschulen, bei berufenen Lehrerinnen und Lehrern, mit exzellentem Erfolg; eine Handschrift, die sie später, bei Jazz, Pop und Weltmusik, nicht verlernte. In der einen wie der anderen Richtung bewahrt sich das Instrument mit seinem stets ein wenig vagen Ton ein mystisches Geheimnis und schafft mit seinem hallenden Klang einen eigenen Raum um sich, losgelöst von äußeren Umständen und Umgebungen. Ob solistisch oder mit Orchester, ob vor Publikum oder im Kleiderschrank: Hubers Harfe ist sich selbst genug.
Wenn nur der Kopf heil bleibt
In Selb erinnert ein „Multimediakonzert“ der Hofer Symphoniker mit anspruchsvollen Kompositionen, mahnenden Texten und erschreckenden Bildern an die Weltkriege. Russlands Überfall auf die Ukraine unterstreicht die brennende Aktualität des Themas, obwohl das Konzept des Abends lang davor entstand.
Von Michael Thumser
Selb, 6. Juni – Er war Komponist, aber kein Schwelger oder Träumer, sondern sozusagen der „Neuen Sachlichkeit“ verpflichtet. Deshalb schrieb er schlicht: „Musiken“ – 1911 eine „Musik für Geige und Orchester“, 1912 eine „Musik für Orchester“ … Sein Verleger, die singuläre Hochbegabung des jungen Manns erkennend, versuchte alles, dessen Freistellung vom Kriegsdienst zu erlangen, indes vergeblich. Bevor Rudi Stephan an die ukrainische Front gebracht wurde, soll er sich von seiner Mutter mit den Worten verabschiedet haben: „Wenn nur meinem Kopf nichts passiert, es sind noch so viele schöne Sachen drin.“
Im weitgehend verdunkelten Rosenthal-Theater, auf der Projektionswand hinter den Hofer Symphonikern, stürzen sich Flugzeuge zum Angriff vom Himmel, Ruinen brennen, Geistliche segnen Waffen. Theater-Hof-Schauspieler Jörn Bregenzer, als empathischer Sprecher der Solist des Abends, trägt eine Variation des Vaterunsers vor, die das zweitausend Jahre alte Gebet Jesu dazu missbraucht, den Ersten Weltkrieg als himmlisch assistierten, „ehrlichen Streit“ zu rechtfertigen. Mirko Jelusich, damals etwa so alt wie Rudi Stephan, frömmelte in jenem „Vater unser 1914“: „Wir gehn in den Kampf, zum Letzten bereit / in Deinem heiligsten Namen. Amen.“
Sehr ruhig, energisch bewegt
Dann entfaltet sich auf dem Podium, zögerlich zunächst, Rudi Stephans „Musik für sieben Saiteninstrumente“, vom ursprünglichen Kammerformat ausgedehnt auf den Streicherchor der Hofer Symphoniker samt Harfe und Flügel, der Vortragsanweisung gemäß „sehr ruhig“, später „energisch bewegt“. Drei Jahre vor Kriegsausbruch entstand das ernsthaft-schöne Werk, im Frieden. Im Kontext des vergangenen Donnerstagabends aber konnte das (den Saal leider nur schütter besetzende) Publikum Verzagtheit und Beben heraushören, Klage und Erlösungssehnsucht, auch aufbegehrenden Protest, im „Nachspiel“ die schwermütige Suche nach Trost; bis Dirigent Johannes Klump im aufhellenden, sich entspannenden Zusammenklang auf ein immerhin kleines Licht am Ende des Tunnels verweist. Über die Leinwand stürmen derweil in sepiabraunen Filmsequenzen Infanteristen durch Haufen von Dreck, speien Geschütze Feuer, werden Gefangene abgeführt.
„Weltenbrand“ ist das ungewöhnliche Konzept betitelt, das mahnend zum Gedenken an zwei Weltenbrände, die Weltkriege des zwanzigsten Jahrhunderts, aufruft. Im Selber Kulturkalender stand das Konzert schon lang bevor Putins Armee die Ukraine mit Brand und Gewalt, Leid und Tod überzog; da war mit der brennenden Aktualität noch nicht zu rechnen, die das „Multimediakonzert“ nach dem 24. Februar gewinnen würde. Jetzt stellt sich erst recht die Brisanz der kenntnisreich ausgewählten Werke und Werkteile heraus, die Beziehungsdichte der Still- und Bewegtbilder und der durchdacht kompilierten Texte. Deren Vieltönigkeit findet in Jörn Bregenzer einen unpathetisch „sachlichen“, gleichwohl innerlich engagierten, weil zutiefst verständigen Interpreten (der überdies die selten gewordene Tugend pflegt, bei aller Unverkrampftheit vollkommen verständlich zu artikulieren).
Nicht immer gelingt es dem Dirigenten, die in unterschiedlichen Besetzungen musizierenden Symphoniker gleichmäßig spannungsvoll durch alle „Musiken“ des Programms zu führen. So fehlt es etwa seiner Darstellung des 1943 entstandenen dritten Streichquartetts von Viktor Ullmann, dem wohl bedeutendsten der in Theresienstadt internierten jüdischen Tonsetzer, an überzeugender Entschlossenheit. Umso bedenkenswerter die Bemerkungen des Komponisten aus seinen letzten Lebensjahren im „Vorzeige-Ghetto“ der Nazis vor seiner letzten Reise ins Auschwitzer Gas: Zwar, notierte Ullmann, stehe in dem Terrorlager „alles Musische im Gegensatz zur Umwelt“, gleichwohl habe er sich gerade hier in seiner Arbeit „stets gefördert, keineswegs behindert“ gefühlt. So weit stabilisiert sich das Orchesterspiel dann doch, dass es die Frage aufwirft, was an einer derart zeitgemäß und zunftgerecht ausgearbeiteten Partitur wohl als „entartet“ hat gelten sollen – und warum zum Beispiel der Kopfsatz aus Hans Pfitzners C-Dur-Symphonie nicht unter das Schandverdikt fiel.
Auf der „Gottbegnadetenliste“
Während jenes Stück erklingt, flackern im Bühnenhintergrund Nahaufnahmen von trutzigen oder leeren Wehrmachtssoldatengesichtern auf, Flugzeuge lassen Bomben hageln, Arme recken sich zum Hitler-Gruß. Der „Führer“ selbst hatte Pfitzner für „unersetzlich“ erklärt und Joseph Goebbels ihn auf die „Gottbegnadetenliste“ gesetzt. Damit galt Pfitzner als einer der erleuchtetsten Kultur-Exponenten der Deutschen, die aus den Selber Theaterlautsprechern der pathetische Singsang des einstigen Propagandaministers als „das auserwählte Musikvolk der Welt“ ausruft.
Die Musik Maurice Ravels liegt dem Dirigenten mehr. Mitreißend inszeniert er in „La Valse“ den Zusammensturz des „langen neunzehnten Jahrhunderts“: ein Totentanz, aber mit dem Schwung eines Wiener Walzers. Nicht sarkastisch bitter verzerrt Klumpp dies 1920 vollendete „poème chorégraphique“, sondern er rhythmisiert und akzentuiert es durchaus walzer-„selig“, nicht als Abrechnung, sondern als Abschied von einer alten, überalterten Epoche. Als der französische Komponist, ab 1916 Lkw-Fahrer einer Sanitätseinheit, mit einer Panne im Wald liegen geblieben sei, habe er – so berichtet mit seinen Worten Jörn Bregenzer – volle zehn Tage dort zugebracht, mutterseelenallein „wie Robinson Crusoe“, und sich in der dystopischen Halluzination einer „albtraumhaften Stadt“ und ihres „stummen Schreckens“ verloren.
Die Machbarkeit des Guten
Mit dem genauen Gegenteil, einer Utopie von der „Machbarkeit des Guten“ und dem Bekenntnis zu einer allumfassenden Menschenliebe, ruft der Rezitator Leonard Bernstein herbei. Die Symphoniker vertonen gleichsam die Glaubenslehre des großen jüdischen Musikers mit der dritten „Leonoren“-Ouvertüre Ludwig van Beethovens, den die Nationalsozialisten als „Kämpfer und Sieger“ in ihrem verderblichen Sinn denunzierten; nach 1945 freilich feierte ihn das sich erneuernde Deutschland mit weit mehr Recht als Propheten eines unzerstörbaren Humanismus. Zu glühendem Freiheits-Optimismus treibt Johannes Klumpp das Orchester an, das seine kämpferische Impulsivität mit den Signalen einer Ferntrompete unterstreicht. Nach einem triumphalen Tutti-Aufschwung siegt unwiderruflich das Gute. Ein Hirngespinst? Ein Zukunftstraum.
In der Ukraine, 1915, nur zwei Wochen nach der Ankunft an der Front bei Tarnopol, rissen die Schmerzensschreie von Verwundeten allzu grausam an den Nerven des unfreiwilligen Infanteristen Rudi Stephan in seinem Schützengraben. „Ich halts nicht mehr aus“, schrie er plötzlich, sprang auf; und sank sogleich zusammen, jäh von einem Schuss getötet. Getroffen wurde sein Kopf mit all den ungeschriebenen „schönen Sachen drin“.
Musica Bayreuth
Bachs behände Bespaßungen
Vier Ouvertüren – Orchestersuiten – des barocken Musikgenies haben sich erhalten, und das Münchener Bachorchester spielt alle vier am Stück. Manch einem mögen die Tempi übereilt erscheinen; mit ihnen aber bläst das Ensemble alle Altertümelei aus den Partituren heraus.
Von Michael Thumser
Bayreuth, 1. Juni – Wenn in einem Opernhaus eine Ouvertüre erklingt, dann darf in ihrem Gefolge gewöhnlich mit einem ausgewachsenen Musikdrama gerechnet werden. Im prachtvollen Theater der Markgräfin Wilhelmine wars indes jetzt anders: Die Oper fehlte, dafür gabs „Ouvertüren“ satt, gleich vier am Stück. So nannte Johann Sebastian Bach seine Orchestersuiten, die er vermutlich zwischen 1717 und 1725 in Köthen und Leipzig schuf. Das Münchener Bach-Orchester trug sie am Sonntag der Musica Bayreuth bei, komplett, als Zyklus – und setzte erfreulich alles daran, durch teils extrem straffe Tempi alle vermeintliche Altehrwürdigkeit und jedes altbackene Pathos aus den Partituren auszustreichen und herauszublasen.
Während der Pause macht denn auch so manche Stimme im plaudernden Publikum Bedenken geltend: Könnte ein bisschen weniger Geschwindigkeit nicht doch zu einem Quäntchen mehr Tiefgang führen? Und, sozusagen, zu mehr ‚Tanzbarkeit‘? Denn um Tänze handelt sichs nun mal in solcherart barocken Satzfolgen, deren Modelle Bach und seine Zeitgenossen mehr oder weniger abwandelnd von der höfischen Musik des französischen „Sonnenkönigs“ Ludwig XIV. und seines composer in residence Jean-Baptiste Lully übernahmen. Dass Hansjörg Albrecht, als Leiter des Ensembles, dessen Kopfzahl auf höchstens dreizehn beschränkt, fördert die Durchsichtigkeit der Interaktionen, wodurch sich Bachs polyphone und kontrapunktische Künste, in ihrer Meisterschaft und Harmonie vor, neben und nach ihm kaum je erreicht, nachvollziehbar erschließen. Gleichzeitig aber kanns dem Orchester oft nicht schnell genug gehen. So sehr die high speed-Passagen die Bravo rufenden Hörerinnen und Hörer auch mitreißen - manchen der Musiker erschweren sie eine ungetrübte Intonation und reibungslose Artikulation. Woran das Kollektiv allerdings keinen Takt lang auch nur leise zweifeln lässt, ist sein auch sichtbarer Spaß an der Virtuosität und seine hellwache Inspiration.
Ein Enthusiast an der Laute
Dabei gehen zwei Herren mit exquisitem Beispiel voran. Die Theorbe schnallt sich ein vom Scheitel bis in die Fingerspitzen begeisterter Enthusiast um, der die Musik, auch wenn er gerade nicht dran ist, Takt für Takt erlebt, fühlt, mitdirigiert. Gemeinsam mit dem amtierenden Orchesterleiter, der in eigentümlich unbequemer Haltung am aufgebockten Cembalo agiert, unterfüttert der Lautenist die basso continuo-Gruppe mit einem feinen, warmen Flimmer-Klang.
In der Bläserreihe macht der famose Fagottist nicht minder Freude, ein noch junger Könner, der namentlich in den Ouvertüren Nummer eins uns vier makellos kultivierte Baritontöne zu wunderbar gerundeten Phrasen modelliert. In der ersten Suite verbündet er sich mit den beiden Oboen und dem Englischhorn zur forschen concerto-Gruppe, die, befeuert von der impulsiven Laute, dazu den Geigen und der Bratsche, bei pizzicato-Passagen die Musik mit einem geradezu jazzigen drive vorantreiben.
Der behände bis fliegende, wenn auch nicht flüchtige Vortrag verleiht den zu drei Vierteln in Dur-Tonarten stehenden Zyklen immer wieder eine Launigkeit und Burschikosität, die das Herz aufhellt und erfrischt. Aber ein paar intime Haltestellen gibt es zwischen den offiziös festlichen Aufzügen hier, den wilden Fahrten dort dann doch, sogar eine ziemlich ausgedehnte Oase der Rast und Erbauung: das (nicht „die“!) „Air“ der zweiten Ouvertüre. Da nehmen sich mit einem Mal alle für ein paar Minuten zurück, als gälte es, feinfühlig das Adagio einer Symphonie zu entfalten. Von Noblesse und Charme getragen, fließt die vielgehörte, doch nie ausgediente Kantilene dahin, in den Wiederholungsteilen von der Laute, wenn auch leider nicht sehr hörbar, mit zärtlichen Arabesken umkräuselt – im Verlauf der beschwingten Werkfolge ein diskreter Ehrenplatz für eine der bis heute schönsten Eingebungen der Musikgeschichte.
Rennen ohne Sieger
Zwei Mal in D-Dur stehen die am stärksten besetzten Zyklen drei und vier, in denen zwei Trompeter und eine Trompeterin frohsinnig schmettern und eine Paukerin ordentlich trommeln dürfen: „Réjouissance“ heißt, wie ein Fazit, der letzte Satz der letzten bachschen Suite – „Freude“. Klugerweise aber trennt Hansjörg Albrecht die beiden triumphalen Satzfolgen durch die zweite in der Paralleltonart h-Moll, im Bayreuther Vergleich die dezenteste von allen. Kommen die anderen gut ohne Flöte aus – hier tritt sie als Protagonistin vors Ensemble, personifiziert in einer spieltechnisch ungemein wendigen, atemtechnisch bewundernswert trainierten Interpretin, deren Name im Programmblatt unverdient verschwiegen wird.
Schade, denn nach der Todestrübnis der gravitätischen Einleitung legt sie sich gleich mit Drall und Effet noch in die steilsten Kurven. In der Sarabande nutzt die Künstlerin einen der besagten Ruhepunkte des Abends für die zarte Klage einer bis ins Pianissimo versinkenden Elegie. Dagegen entfesselt sie in der finalen „Badinerie“ – was Scherzerei bedeutet – ein rasantes Rennen, wenn das auch nicht in einen Wettlauf ausartet und keine Sieger kennt: gehen doch alle zugleich durchs Ziel; ein Bravourstück fürs Orchester insgesamt, erst recht für die Solistin. Gerade diese Ouvertüre glückte dem Tonsetzer so perfekt, als hätte er ein Modell für das Flötenkonzert ‚als solches‘ vollbringen wollen. Er hat kein weiteres geschrieben.
■ Nächstes Konzert der Musica Bayreuth: 2. Juni, Das Zentrum (Äußere Badstraße 7a), Europasaal, 19.30 Uhr, „Concerto a tempo d’umore“ (Musik-Comedy) mit dem Orthemis Orchestra (um 10 Uhr ebendort Schülerkonzert).
■ Das Festival und sein Programm im Internet: hier lang.
Musica Bayreuth
Irgendwas kommt immer raus
Das zweitwichtigste Festival der Stadt – neben den Wagner-Festspielen – vereint seit Langem Klassik und Pop. Nun hatte es das international besetzte Sheridan-Ensemble zu Gast, das dabei mit optimalem Beispiel vorangeht.
Von Michael Thumser
Bayreuth, 28. Mai– Was sie „hier eigentlich machen“, das wüsste sie bisweilen selber gern, gibt die Ensembleleiterin lächelnd zu. Aber allzu lang an der Frage herumrätseln mag Anna Carewe auch wieder nicht, lieber geht sie mit ihren sieben Gefährtinnen und Partnern beherzt ans Werk. Dazu füllen sich, wenigstens während des ersten Sets, die prunkenden Palast-Kulissen auf der Bühne des Markgräflichen Opernhauses mit der Farbe eines schimmernden Saphirs, als umgäbe die blaue „Venusgrotte“ des verewigten Königs Ludwig in Schloss Linderhof die bravouröse Truppe.
Magisches Licht für einen langen ruhigen Fluss: Das Metier Anna Carewes und des Sheridan-Ensembles ist der musikalische Cross-over, die Vermischung von Klassik und Pop. Daran versuchen sich viele; die Sheridans aber „machen“ es nicht in der inflationären, anbiedernden Weise unzähliger rock meets classic-Events, sondern dem Ursprungssinn gemäß: balancierend auf kaum merklichen Übergängen. Das Oktett – sieben Instrumentalisten und eine Sängerin – amalgamiert Musik, welcher Provenienz auch immer, durchaus anspruchsvoll, stets unterhaltsam, spieltechnisch hinreißend, im Ausdruck bewusstseins- und gemütserweiternd.
In die Stadt und ihr Weltkulturerbe lud sie die Musica Bayreuth ein, das nach – oder richtiger neben – den Wagner-Festspielen bedeutendste tonkünstlerische Ereignis der Stadt. Seit Langem baut und überschreitet das Festival auch Brücken zwischen den Kulturepochen, auf dass die Stile einander durchdringen. Demonstrativ passte sich am Mittwoch das Sheridan-Ensemble, das zwar in Berlin sitzt, aber international besetzt ist, in das Konzept ein. Allerdings verstehen die Künstlerinnen und Künstler „Konzept“ nicht als bindendes Programm und klar umrissenen Plan, eher als Skizze und Entwurf. Fixiert haben sie vor dem Konzert immerhin die Abfolge der Kompositionen, Musik von Claudio Monteverdi, Georg Friedrich Händel oder György Ligeti, von Miles Davis, Sting oder Radiohead. Fest steht ferner, dass alle Episoden aus einer Grundhaltung der Behutsamkeit hervorgehen sollen: Vieles bleibt beschaulich leise, manches gar gerät wie in Trance. Gleichwohl bringt die strömende Ruhe des langen Klangflusses nicht zwingend Stille hervor. Denn auch ruppig und robust kanns zugehen, in rauen Reibetönen und befreiter Atonalität, stechenden Dissonanzen oder langgezogenen Glissandi offenbaren sich sowohl die Stoßkraft des schrägen Tons wie auch sein Humor. Doch selbst das Laute lärmt nicht.
„Jeder Auftritt verläuft anders“
Trotz der bühnenbreiten Aufstellung der Musikerinnen und Musiker schwankt ihr Zusammenhalt in keinem Augenblick. Trotzdem: „Jeder unserer Auftritte verläuft anders“, sagt Anna Carewe, was auch daran liegt, dass die Interpreten gelegentlich die kollektive Improvisation wagen. Dann entfalten jede und jeder von ihnen ebenso autonom wie kooperativ eigene Erfindungsgaben, die sie in Bereiche weit jenseits der in Klassik und Pop weitgehend üblichen Harmonik entführen. Nach einer Weile freilich kehren alle in den ursprünglichen Zusammenhang und -halt zurück, als fädelten sie sich auf einer gemeinsamen Schiene ein.
„Chacona, Lamento, Walking Blues“ überschrieb die Truppe ihr in Bayreuth präsentiertes Programm: Darin geht sie der „Geschichte einer sich immer wiederholenden Basslinie“ nach, den Modifikationen einer bestimmten Tonfolge als Tiefenfundament oder Grundmuster, die sie in Stücken aus fünf Jahrhunderten aufspürt – ein Mosaik, wenn nicht eine Legierung aus Variation und Fantasie. Sie entdecken die „Linie“ in einer Chaconne von Antonio Bertali aus dem siebzehnten Jahrhundert und in einem Ricercar aus Johann Sebastian Bachs „Musikalischem Opfer“, anscheinend aber auch in Songs und Instrumentals von Richard Rodgers und Lorenz Hart, in „Sweet Dreams“ der Eurythmics, im „Hotel California“ der Eagles. Das barocke Zirpen des Cembalos mischen die Sheridans mit der fülligeren Artikulation des klassisch-romantischen Konzertflügels, den Ton der Geige, vibratolos nach Art der Alten Musik, mit dem nachhallend-pulsierenden Swing und Jazz des Vibrafons. Beispielhaft verlaufen und verwischen so die Grenzen zwischen Klassik und Pop und lösen sich bis zur Bedeutungslosigkeit auf: in Wohlgefallen.
Sehenswerter Zwitter
Aus Finnland, Australien, Deutschland stammen die Musiker, nicht zuletzt aus England wie Anna Carewe mit dem stramm-sonoren Celloton und ihre Schwester, die hingebungsvoll emotional singende Mary. Spektakuläres tragen zwei Saitenspieler bei: Mit stoischer Miene zupft Steven Player die Barockgitarre, bis es ihn nicht länger hält und er, seines vorgerückten Alters ungeachtet, mit Spring- und Stampftänzen schalkhaft aus sich herausgeht. Sein Kollege Andreas Arend hat die voluminöse „Lyra polyversalis“ auf den Knien, ein im Wortsinn „vielseitig verwendbares“ Instrument wohlgemerkt eigener Erfindung. Der sehenswerte Zwitter aus Gitarre und Gambe wird horizontal gehalten und entweder mit der unbewehrten Hand oder dem Bogen gespielt. Einen bedeutenden Anteil des jubelnden Applauses heimst Oliver Bott ein, der artistische Beherrscher des Vibrafons: Mögen auch die Mitglieder des Ensembles an Musikalität und Meisterschaft einander gleichkommen, so ragt doch er mit seinen stupenden Soli als faszinierendster Akteur heraus.
Aber das muss beim nächsten Auftritt, je nach Ort, Ensemblegröße und Instrumentalbesetzung, keineswegs erneut so sein. „Bei jedem Mal ist es anders“, erzählt die leutselige Anna Carewe dem euphorischen Bayreuther Publikum, „aber es kommt immer irgendetwas raus, das wenigstens interessant ist.“ Das kann man wohl sagen.
■ Das Sheridan-Ensemble im Internet: hier lang.
■ Nächstes Konzert der Musica Bayreuth: Sonntag, Markgräfliches Opernhaus, 19.30 Uhr, Bach: Die vier Orchestersuiten. Münchner Bach-Orchester, Dirigent: Hansjörg Albrecht.
■ Das Festival und sein Programm im Internet: hier lang.
Auf dem Wasser wandeln
Mit Musik des zwanzigsten Jahrhunderts bereiten die Symphoniker ihrem Hofer Publikum einen der faszinierendsten Konzertabende der Saison. Der fabelhafte Gast am Pult und die famose Trompetensolistin sind beide noch sehr jung und doch schon shooting stars ihres Metiers.
Von Michael Thumser
Hof, 24. Mai free jazz – Zwei Mal fällt die Musik mit der Tür ins Haus. Ein Mal tritt sie auf leisen Sohlen ein. Zwei Mal spielt das Orchester in voller Stärke. Ein Mal schnurrt es zu einer „Kombo“ – wie Mantijn Dendievel sagt –, zusammen: Dann gehören nur Bläser, ein Kontrabass, Harfe und viel Schlagwerk mit Klavier dazu. Für Dendievel, im Hofer Festsaal Gast am Pult der Symphoniker bei ihrem zehnten Symphoniekonzert, stellten sich am Freitag komplexe Aufgaben: zwei Mal Kurt Weill, ein Mal André Jolivet – macht zusammen drei auf je eigene Art höchst anspruchsvolle Werke des vergangenen Jahrhunderts. Für Weills subtile Instrumentationen galt es einen genuinen Platz zu finden zwischen Spätromantik und Klassischer Moderne; in Jolivets klein besetztem zweitem Trompetenkonzert hingegen erkennt der Dirigent den „Versuch, free jazz auszukomponieren“. Derart weit auseinanderliegende Pole zum Ganzen zu runden und einen sensationellen Konzertabend daraus zu formen, dafür ist Dendievel gerade der richtige Mann.
Ein fast erschreckend junger Mann. 27 Jahre ist der Belgier erst alt – ein shooting star seines Metiers. Zum vierten Mal steht er an diesem Abend vor den Symphonikern, mit denen er sich 2018 erstmals eindrucksvoll vorstellte: Bei einem Abend mit vier „Maestros von morgen“ fesselte er mit leidenschaftlicher Körpersprache und passionierter Aufgewühltheit, aber ebenso durch Phasen fast regloser, umso spannungs- und erwartungsvollerer Präsenz. Damals kündigte sich ein Maestro von heute, mag sein ein Pultstar von morgen an. Im vergangenen Jahr gewann er den internationalen Deutschen Dirigentenpreis, ab dem heutigen Dienstag nimmt er an der Finalrunde der ersten International Conducting Competition in Rotterdam teil. Zwischendurch fand er Zeit, in Hof ein Ausnahmeprogramm zu erarbeiten und in Ausnahmequalität vorzuführen.
Regung statt Erregung
Zu Letzterer tragen das exquisit eingestellte Orchester und, vom Publikum mit nicht weniger Beifall überschüttet, die Solistin bei. Selina Ott offenbart eine dem Dirigenten gleichrangige Musikalität, allerdings erscheint sie neben seiner hohen, straff gespannten und dynamischen Gestalt zaghaft wie ein Mädchen bei „Jugend musiziert“. Dabei dürfte sie ruhig stolzgeschwellt an die Rampe treten, siegte sie doch 2018 im extrem fordernden Musikwettbewerb der ARD mit Jolivets zweitem Trompetenkonzert. Wie sie das machte, lässt sich in Hof erleben.
Leise Sohlen: Konzentriert, ganz in sich gekehrt wartet sie die unheimliche Einleitung des leis rasselnden Schlagzeugs, des zwielichtig sich einmischenden Klaviers und Kontrabasses ab – dann wirft sie sich unerwartet aufgeregt, wenn auch mit Dämpfer im Instrument, in die aufflammende Debatte. Jene „Sordine“ nimmt sie erst am tumultuarischen Kehraus des Satzes aus dem Trichter; davor hat sie bewiesen, dass ihr von Natur aus vorlautes Instrument keineswegs immer plärren, johlen, quäken muss. Für Temperamentsausbrüche solcher Art nutzt sie das von Schlagzeug-Gewittern durchdrungene Finale. Ihr großes Talent für Tiefsinn und Vielschichtigkeit, für Regung statt Erregung verwirklicht sie hingegen gedankenverloren im Mittelteil. Stets brillant, setzt ihr Spiel üppige Energien frei oder hält sie, vielfältig expressiv, makellos in Schach. Eine Top-Künstlerin; nur ein wenig forscher sollte sie auftreten, nicht hochnäsig, aber erhobenen Haupts.
Prägnante Zeichen
Da ist Matijn Dendievel von anderem Schlag. Er kennt den Schauwert seiner Pult-Aktionen, aber auf Show setzt er nicht. Was er anzeigt und -weist, trägt in sich den Sinn prägnant wirksamer Zeichensetzung. Entsprechend reagieren die Symphoniker: hochgespannt, zu äußerster Akkuratesse motiviert. Ein PR-Foto zeigt Dendievel, wie er seinen Taktstock auf dem Zeigefinger balanciert – empfindliches Symbol für seine bestechenden Stärken: Eine liegt in der scheinbaren Leichtigkeit seiner Präsentationen; eine weitere in den lebendig wechselnden Gewichtungen und Schwerpunkten, die er zwischen den Orchesterstimmen immer neu ausgleicht; noch eine andere liegt in seinem Gespür, mit dem er die Waage hält zwischen der unmittelbaren Plastizität des Klangs und dessen zwischen Emphase und Versenkung schillernden Ausdruck.
Mit Kurt Weills Musik zum Schauspiel „Der Silbersee“, sechsteilig in eine Suite gefasst, beginnt der Dirigent das Programm: indem er, durch reichliches Trommel-Gerassel, zum ersten Mal mit der Tür ins Haus fällt. Von einem Dieb und einem Polizisten handelt Georg Kaisers Drama, die sich befreunden, gemeinsam vor Verfolgern fliehen und, wohlgemerkt im Frühling, über das zugefrorene titelgebende Gewässer in eine lichte Zukunft entkommen. Nicht Eiseskälte, aber objektive Kühle lässt Dendievel intonieren, wenn sich über bebendem Trauermarsch-Rhythmus Oboe und Klarinette, Fagott und Sologeige erheben.
Das Eis trägt
Gelegentlich verschafft sich der (vermeintlich) ‚typische‘ Weill-Ton der „Dreigroschenoper“ oder des „Mahagonny“ Geltung. Oder der Dirigent schaltet ein Quantum Wiener-Neujahrskonzert-Atmosphäre dazwischen, mit der Kaffeehaus-Herzigkeit zweier walzernder Sologeigen. Schwungvoll wie Zirkusmusik könnte die Suite mit dem fünften Teil aufhören, fügte sich nicht, weit wesentlicher, ein melodisch getragenes Endstück an. Das Orchester, bei unliebsam-stoisch voranschreitendem Metrum, untertönt es zunächst tragisch, dann dröhnen zerschmetternd schwere Tutti-Akkorde. Schließlich aber entführt Dendievel es in eine Elegie von befreiender Anmut und Leuchtkraft. Was besagt das im Frühjahr gerade dieses Jahres, in dem einem schon mal das Blut gefrieren kann? Vielleicht dies: Es ist das Eis, was den Menschen erlaubt, auf dem Wasser zu wandeln.
Ruppig rüttelnd, hitzköpfig vehement auch der Auftakt zu Weills zweiter Symphonie. So minuziös hat sich der Dirigent mit der verzweigt-vertrackten Partitur vertraut gemacht, dass er bei der Aufführung des grandiosen Dreisätzers auf sie verzichten kann. Weit lässt er die Symphoniker das Melos des Kopfsatzes ausbreiten, während, später, beim Ausbruch des Finales, die Töne schwärmen dürfen wie Scharen von Insekten. Reizbare, beinah ungezähmte Lebensgeister befreit Dendievel aus den Musikern, subtil aber weiß er ihre Spannkraft zu dosieren. So kommt, zum Beispiel, eine durchaus beseligende Episode zustande – wäre da nur nicht das hartnäckige brenzlige Kammerflimmern der mit Springbögen traktierten Geigen.
Dunkel der Mittelsatz, in dem Solocello und Posaune noble Machtworte sprechen. Fahle Farben der Resignation schüttelt Martijn Dendievel im letzten Satz ab, vor allem in einem zackigen Marsch von militaristischer Bösartigkeit. In einer Stretta voller grimmiger Fantastik lassen Dirigent und Orchester die Symphonie eskalieren. Am Anfang fiel die Musik mit der Tür ins Haus. Zum Schluss will sie mit dem Kopf durch die Wand.
■ Der Deutschlandfunk hat das Konzert aufgezeichnet und strahlt es am 14. Juni um 20.03 Uhr aus.
■ Nächstes Konzert der Symphoniker in Hof: am 24. Juni um 19.30 Uhr in der St.-Michaelis-Kirche; Werke von Händel, C.P.E. Bach und Reger; Johannes Moser, Cello; Dirigent: Enrico Delamboye. Konzerteinführung um 18.30 Uhr. Informationen im Internet: hier lang.
Ein Mädchen wie ein Sommertag
Mit „Quartonal“ hat das Forum Naila ein prominentes A-cappella-Ensemble zu Gast. In Bad Steben entfalten die Herren in gekonnter Vierstimmigkeit die Urform neuzeitlicher Polyphonie, was ihnen sowohl mit edlem Ernst als auch mit Schabernack gelingt.
Von Michael Thumser
Bad Steben, 24. Mai – Gern singen sie von der Liebe, besonders innig von einer, die sich in Luft aufgelöst hat. „Sie hat mir Treu versprochen, gab mir ein Ringlein dabei“, klagen die Vier mit der männlichen Empfindungsfülle trainierter Kehlen, doch „sie“, die unbeständige Geliebte, hat „die Treu gebrochen, das Ringlein sprang entzwei“ und das Herz des verlassenen Liebeskümmerlings gleich mit. So leid- und lustvoll geht es zu im Eichendorff-Gedicht, das unterm Titel „In einem kühlen Grunde“ populär und in Friedrich Silchers (mit „Untreue“ überschriebener) Vertonung von 1825 berühmt wurde. Bevorzugt solchen Sujets widmeten sich, mit tränenfeuchter Hingabe, die „Liedertafeln“ des neunzehnten Jahrhunderts; so hießen Gemeinschaften von Laien mit gefühlvollem Innenleben und großer Passion für den Gesang. Wenn solche Chorlieder heutzutage allen Ernstes auf einem Podium erschallen, wie am Sonntag in Bad Steben– muss einem das dann nicht notwendig reichlich aus der Zeit gefallen vorkommen?
Darf es schon. Muss es aber nicht. „Zur Frustbewältigung“, scherzen die noch ziemlich jungen Herren im Kurhaus, wenden sie den schmelzenden Harmonien des Strophenlieds ihre vielfältig wechselnden Gemütsbewegungen zu. Von gestern sind die Vier keineswegs. „Quartonal“ nennen sie sich, seit sie – frühere Chorknaben aus dem norddeutschen Uetersen – sich 2006 zusammentaten. Auf zweierlei verweist der schöne Name: Zum einen geht es dem Ensemble um sublime, dabei nachvollziehbare Beziehungen zwischen den Tönen und Harmonien, die es kunstreich formt und entfaltet; und es geht um Vierstimmigkeit, ausdrücklich also um die Urform neuzeitlicher Polyphonie. Die aber muss nicht zwingend ergriffen, gramerfüllt und zart besaitet klingen.
Menschenrecht auf Meinungsfreiheit
Sie taugt auch für den Appell, so in „Die Gedanken sind frei“, jener öffentlichen Erklärung des Rechts auf freie Meinung, mit der, gleich zu Beginn, die Interpreten Stellung zu nehmen scheinen zur derzeit allgegenwärtigen Erosion der Demokratie. Sie taugt ebenso für streng gesetzte Weisen aus der Renaissance wie Ludwig Senfls melancholisch wiegendes, zärtlich werbendes „Ach Elslein, liebes Elselein“; nicht anders zum „Feuerreiter“ Eduard Mörikes in Mathieu Neumanns weit jüngerer Komposition: Ihren szenischen Ereignis- und Wechselreichtum steigern die Sänger bis zum Alarmismus.
Mirko Ludwig und Jo Holzwarth, Christoph Behm sowie Sönke Tams Freier – zwei Tenöre, ein Bariton, ein Bass: Sie sind sich selbst genug. Die knapp achtzig, vom einladenden Forum Naila wieder köstlich bewirteten Zuhörerinnen und Zuhörer an den Tischen im prachtvollen Saal dürfen staunen, dass vierstimmige Arrangements, sofern sie wie hier weitgehend einwandfrei intoniert und klar deklamiert werden, geradezu füllig klingen können. Zumindest fast immer: Beim artistischen, hochkomischen „Comedian Medley“ nach berühmten Liedern der Comedian Harmonists – von Jonathan Mummert mit Anleihen bei Alter Musik und Fuge als Stilmix wunderbar zurechtgemacht – fällt der Unterschied zur Liniendichte der unvergessen-legendären, fünf- bis sechsstimmigen Vokaltruppe dann doch auf. Umgekehrt passt zu „Küssen kann man nicht alleine“ die näselnde Schnöseligkeit des selbstherrlichen Solisten Max Raabe besser als der wohlarrondierte Viergesang von „Quartonal“. Schadet nichts: „Der Herrgott“, singen sie, „drückt ein Auge zu“; machen sie doch dem überschwänglich klatschenden Publikum in beiden Fällen großen Spaß mit den fast schon philosophischen Nonsenstexten – grandios gereimter Schabernack.
Vor allem nach der Pause, am hals- und zungenbrecherischsten in „Ein Jäger längs dem Weiher ging“ nutzen sie derlei Gelegenheiten für Blödelei und Ausgelassenheit, und selbst dabei geht ihnen ihre staunenswerte rhythmische Gleichzeitigkeit nicht verloren. An anderer Stelle nehmen sie ihre Gestaltungsfreude zu Ironie und Schläue zurück. Und auch der kultivierte, delikate Ernst ist ihnen nicht fremd, der ihnen sogar im Softrock-Klassiker „Hard to say I’m sorry“ melancholisch, schuldbewusst und erfreulich unsentimental gelingt, nicht anders als in Wenzel Heinrich Veits Ballade über den „König von Thule“ nach Goethe oder in Heines „Loreley“.
Französisch, Englisch, Platt
Ansehnlich in die Breite geht ihr Repertoire, was nach Vielsprachigkeit verlangt: Gleichfalls auf Englisch stimmen sie shakespearesche Verse an, zunächst klassisch-romantisch in einem seriös verliebten Chorsatz von Cecil Armstrong Gibbs, anschließend poppig schwingend und schwärmerisch in einer Komposition von Matthew Harris, die den Liebreiz eines Mädchens mit einem Sommertag vergleicht. Auf Plattdeutsch, mit der „Lütt Möw“, schwören die Künstler ihrer küstennahen Heimat herzschmerzlich unverbrüchliche Liebe. Im alten französischen Kinderlied „Au clair de la lune“ verbreiten sie durch Bernd Hans Gietz’ anheimelnd schlichten Wohllaut Abendfrieden, mit Joe Dassin schlendern sie verschmitzt über die „Champs-Élysées“ und probieren mit dem Renaissancemeister Clément Janequin die Variationsmöglichkeiten des „Chant des Oiseaux“, des Vogelgesangs: Die „königliche Singdrossel“, die Nachtigall, der „Meister Kuckuck“ messen sich in formvollendet stilisiertem Durcheinander.
Den hier noch vornehmen Trubel entfesselt das Quartett am Ende possierlich aufgeregt, endlich exzessiv in Jürgen Bischoffs Volkslied-Bearbeitung von der federviehischen „Vogelhochzeit“ von Amsel und Drossel. Neuerlich ein Volkslied von vorgestern. Indes: aus der Zeit gefallen? Alles Mögliche mag sich ändern, die Vögel aber, sagen die Vier von „Quartonal“, sangen im sechzehnten oder neunzehnten Jahrhundert so, wie sie es heute tun.
Nächste Veranstaltung des Forums Naila: 25. Juni, Naila-Dreigrün, Scheune, 19 Uhr: Hundling - bairische Liedermanufaktur zwischen Reggae, Folk und Rock'n’Roll. Informationen im Internet: hier lang.
Wie man den Krieg auslacht
In Oberkotzau ist Georg Friedrich Händels bedeutendstes Werk in zweierlei Gestalt zu erleben: Erst breitet ein literarisch-theatraler Abend die Entstehungsgeschichte des „Messias“ aus. Später erklingen die Teile zwei und drei des populären Oratoriums attraktiv kammermusikalisch in einem nachösterlichen Passions- und Freudenkonzert.
Von Michael Thumser
Oberkotzau, 28. April – Ein Mann, ein sogenannter Großer, fühlt sich ganz unten und ganz klein. Georg Friedrich Händel, der Hüne aus Deutschland, körperlich ein Schwergewicht wie auch in seiner Kunst, hat mit seinen Kompositionen die Engländer hingerissen. Doch jetzt scheint seine Zeit vorbei. Die Londoner interessieren sich für andere, geringere Meister, Gläubiger belagern tagsüber sein Haus, das er nur nachts noch zu verlassen wagt. Selbst dann holt er, anders als früher, nicht mehr „von jedem Spaziergang eine Melodie, ein Thema heim“. Zu allem Übel wirft ihn ein Schlaganfall zu Boden, und ein pessimistischer Arzt orakelt: „Vielleicht können wir den Mann erhalten. Den Musikus haben wir verloren.“
Händel aber gibt sich nicht verloren. Das Libretto für ein neues Oratorium gerät ihm unverhofft in die Hände und vor Augen, und sein unbezwingbarer „Wille“ regt sich neuerlich. „The Messiah“ steht schlicht über dem Text, der über Geburt, Leiden und Erlösertat Jesu Christi meditiert, und Händel spürt, dass das messianische „Wunder der Auferstehung“ bei ihm selbst die „Lähmung des Leibes“ bezwingen und seiner „Seele Heilkraft und Trost“ bringen werde. Jedes Wort greift in den sich aufrappelnden Tonsetzer „ein wie mit unwiderstehlicher Macht“, eine „Opferflamme“ in ihm entzündend, die „aufschlägt bis in den Himmel“, „Antwort gibt auf diesen herrlichen Ruf“ und die „Lust am Schöpfertum“ mit dem Lob des allmächtigen Schöpfers verschmilzt. „Nie“, schrieb Stefan Zweig, „nie hatte Händel so gelebt, so gelitten in Musik.“
Ein ziemlich ‚rundes‘ Jubiläum
Der „Messias“ ist Händels bedeutendste Schöpfung. Der „Messias“ in Oberkotzau ist ein Projekt. Warum wohl spielte das Oaratorium ausgerechnet in der bei Hof gelegenen Marktgemeinde und gerade in der Woche nach Ostern eine so prominente Rolle? Vielleicht, weil es fast auf den Tag genau vor 280 Jahren im irischen Dublin zum allerersten Mal erklang? Kein so richtig, doch immerhin ziemlich ‚rundes‘ Jubiläum. Gleichviel, in der Kirche St. Jakobus entfaltete sich das Ausnahmewerk nicht erst am vergangenen Sonntag in einem Konzert, sondern zuvor schon, am Ostermontag, in seiner spirituellen Hintergründigkeit als literarischer Stoff. Der berühmten Musik widmete der Dichter Stefan Zweig eine seiner vierzehn „Sternstunden der Menschheit“: „Georg Friedrich Händels Auferstehung“. Zweigs Prosa mag in ihrem leidenschaftlichen Pathos heute nicht mehr leicht verdaulich anmuten; durch ihre emphatische Musikalität beeindruckt sie gleichwohl.
Das Gospel-Art-Studio aus Feldkirchen bei München hat die „historische Miniatur“ in eine dramatische Stunde verwandelt. Mirjana Angelina breitet sie beim Gastspiel in elf Szenen eines von ihr erarbeiteten (und schon seit 2001 aufgeführten) Monodramas aus. Als Händels Haushälterin erzählt die Schauspielerin von der bodenlosen Niedergeschlagenheit des frustrierten, physisch hinfälligen, in seiner Kreativität blockierten Tonsetzers; und davon, wie ein göttlicher Blitzschlag der Inspiration den „phoenix musicae“ doch wieder aus der Asche der Todesbetrübnis befreit. Das oratorische Meisterwerk wird feuereifrig angepackt und binnen 24 Tagen vollendet, „das Wunder des Willens war vollbracht wie einst von dem gelähmten Leibe das Wunder der Auferstehung“. Welcher Tag taugte, um das Mirakel zu feiern, besser als der Montag des österlichen Auferstehungsfestes?
Bitte keine Stichwaffen
„O Glück, die Pforten waren aufgetan, Händel fühlte, er hörte wieder in Musik.“ Die Pforten von St. Jakobus öffneten sich am Sonntag, um nun auch die Musik hör- und fühlbar werden zu lassen. Bei der überlaufenen Uraufführung in Dublin, am 13. April 1742, waren die Besucherinnen gehalten, des zu erwartenden Gedränges wegen nicht die seinerzeit üblichen, ausladenden Reifröcke zu tragen, die Herren sollten sperrige Hieb- und Stichwaffen zu Hause lassen. In Oberkotzau sind solche Maßregeln nicht nötig. Keine fünf Dutzend Menschen finden sich ein – und erleben die Aufführung wie einen Spiegel ihres kleinen Kreises: Denn kein Chor breitet sich mächtig aus, kein Festorchester nimmt vor dem Altar raumgreifend Platz. Gerade mal neunköpfig sind Mitglieder des Kammerorchesters Musica Juventa aus Halle angereist, und je zwei junge Damen und Herren teilen sich sowohl in die Solo- wie die Chorstücke. Als Tenor ist Peter Potzelt dabei – der Initiator des Konzerts gehört zum Opernchor des Theaters Hof, hält aber, als gebürtiger Quedlinburger, Verbindung zur Musikszene Mitteldeutschlands: Von dort, vom Rundfunkchor des MDR in Leipzig, kommen die Sopranistin Lisa Rothländer und die Altistin Lena Bendzulla; Potzelts Kollege Tobias Germeshausen vom Würzburger Theater komplettiert die Gruppe als baritonaler Bass.
Dass sich in Händels „sacred grand oratorio“ das „Erhabene, Großartige und Zarte“ magisch verbänden – wie ein Rezensent der Dubliner Weltpremiere rühmte –, das spüren die Interpreten in Oberkotzau merklich auch, wo sie, nach der Ouvertüre zum dreiteiligen Gesamtwerk, dessen Abschnitte zwei und drei im englischsprachigen Original darbieten. Die kleine Besetzung des Instrumentariums schafft Gelegenheit für kammermusikalische Intimität, die dem nicht so sehr plastisch-szenischen wie seelentiefen Geschehen gut ansteht. Freilich wird dadurch jede spieltechnische Lässlichkeit, jeder Sündenfall der Intonation sogleich offenbar wie am Jüngsten Tag. Beherzt spielen die von Matthias Erben angeführten Musikerinnen und Musiker auf und erlauben sich ungeachtet ihrer geringen Zahl keine Schwächlichkeit. Doch sollte zutreffen, was Stefan Zweig über Händel fabulierte, dass nämlich der „cholerische Deutsche“ jeden „zu hohen oder zu tiefen Achtelton“ unwillig verteufelte – es gäbe reichlich Gelegenheit für seinen „Berserkerzorn“.
Freispruch zu Ostern
Weit weniger hätte er Gründe gefunden, gegen die Vokalisten zu fauchen. Über gut entwickelte junge, zugleich substanzhaltig reife Stimmen verfügen die vier und führen sie in den solistischen Passagen weder bescheiden noch gar mit Furcht, wohl aber mit einer natürlichen Mäßigung, die eitle Hoffart und Vermessenheit ausschließt. Das versetzt die Sängerinnen und Sänger in die Lage, sich auch in den Chorpartien gleichgewichtig und mit hellen Ohren füreinander zusammenzutun. Bekenntniskräftig nehmen sie zunächst an den Passionsmartern des unschuldig geprügelten und gekreuzigten Jesus Anteil, um sodann in bald andächtiger, bald aufgeregter Aufrichtigkeit den Christus und Gottvater für den österlichen Freispruch von eigenen Erdenfreveln zu lobpreisen.
Schmerzlich schildern sie die Wunden des Gefolterten, um gleich danach die Freude darüber zu bekunden, sich als „Schafe“ des „Herrn“ wohlbehütet zu wissen. Hell und herzlich gibt sich die Sopranistin in „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ der vielleicht schönsten Melodie des Werkes hin. Durch dessen gewiss heikelsten, rhythmisch vertracktesten Chor, „Lasst uns die Bande zerbrechen“, eilen die vier leichtfüßig virtuos. Und wenn sie auch die „Amen“-Schlussfuge, eines vermurksten Einsatzes wegen, fast zum Einsturz bringen, so glückte ihnen zuvor doch eine andere („Er trauete Gott“) makellos und federnd zügig. Das weltbekannte „Halleluja“, als Zugabe wiederholt, bejubeln die Zuhörer zweimal stürmisch, stehend: eine fulminante Huldigung, mit Pauken und Trompete schmetternd.
So auch, wie im Triumph, fast mit Vergnügen, marschiert im Orchester der Krieg herauf. „Warum denn rasen und toben die Heiden im Zorne, und warum halten die Völker stolzen Rat?“, bangt widersprechend der Bass. „Die Kön’ge der Welt stehn auf, und die Fürsten entflammen in Aufruhr.“ Tröstlich begütigt zwar der Tenor: „Der da thronet im Himmel, er lacht ihrer Wut; der Herr spottet ihres Grimmes.“ Trotzdem fragen sich auch fromme Christenmenschen seit Wochen, wie sich unter solchem Bibelwort Wladimir Putins unmenschlicher Eroberungsfeldzug erklären lässt. „Wenn Gott für uns ist, wer könnte uns schaden?“, versichert die Sopranistin. Ist Gott also nicht „für“ die Ukrainerinnen und Ukrainer? „Behold, darkness shall cover the earth“, zitiert Stefan Zweig aus dem „Messias“, die stimulierende „Sternstunde” Händels durchleuchtend, „noch deckt Dunkel die Erde, noch wissen die Menschen nicht um die Seligkeit der Erlösung.“ Noch nicht. Falls es dafür eines Wunders bedarf: Bitte bald!
Alle Saiten der Seele
Erstmals nach zwei Corona-Jahren tritt die Hofer St.-Michaelis-Kantorei wieder mit großer Chorsymphonik vors Publikum. Kirchenmusikdirektor Georg Stanek lässt durch Mozarts Requiem mächtig die Posaunen des Jüngsten Gerichts schallen.
Von Michael Thumser
Hof, 20. April – „Und traurig klingt der Schlussakkord in Moll …“. Müssen sie so sein, die Moll-Tonarten: in jedem Fall Signale für Betrübnis, Gram und Jammer? Auch dass sie Scherz, Sarkasmus, ironische Bedeutung ausdrücken, kommt vor in der Musik. Aber nicht an diesem Abend: In c-Moll schrieb Joseph Martin Kraus eine 1783 entstandene Symphonie, die am Karfreitag das Passionskonzert in der St.-Michaelis-Kirche eröffnete, in d-Moll steht dessen Hauptwerk, Wolfgang Amadeus Mozarts acht Jahre jüngeres Requiem.
Am Pult der Hofer Symphoniker lässt Georg Stanek die breite Introduktion zum ersten der drei krausschen Sätze mit einer Schmerzlichkeit intonieren, als sollte das Orchester mit den in engen Sekundabständen geführten Modulationen „alle Saiten der Seele erschüttern“ (wie ein dem Komponisten befreundeter Musikkritiker einst schrieb). In den chromatischen Dissonanzen jenes Larghettos scheinen sich, dem Feiertag gemäß, die Seelen- und die Körperqualen des Gekreuzigten schier erstarrend kundzutun. Dann löst der Dirigent die Lähmung mit zügiger Entschlossenheit im Allegro auf, und die Musikerinnen und Musiker folgen ihm, wie wenn sie Protest erhöben.
Ein Protest gegen den Tod
Österlichen Protests: einen gegen den Tod? Den hatte Mozart, wiewohl ein junger Mann, als „wahren Endzweck unseres Lebens“ zu akzeptieren gelernt, wie er 1787, vier Jahre vor dem Requiem und seinem eigenen Ende, an den todkranken Vater Leopold schrieb; mehr noch: Den „besten Freund des Menschen“, den „Schlüssel zu unserer wahren Glückseligkeit“ erkannte der Tonsetzer in ihm. Zwar nahm Mozart, nach Auskunft seiner Frau Constanze, die Religion nicht sonderlich ernst; gleichwohl schuf er mit dem legendenumwobenen Fragment seiner Totenmesse „das wohl Höchste, was die neueste Zeit für den kirchlichen Kultus aufzuweisen hat“; so bewundernd urteilte der romantische Erzähler E.T.A. Hoffmann in seiner Rolle als hochqualifizierter Musikpublizist über das Lebensendwerk seines Idols. „Glühendste Andacht“ und „heiligste Verzückung“ hörte Hoffmann aus dem – namentlich von Franz Xaver Süßmayr komplettierten – Werk heraus. Fast durchweg in diesem Sinn, nachdrücklich und affirmativ, fasst Georg Stanek gemeinsam mit dem Orchester und der St.-Michaelis-Kantorei das Werk auf: Den für nuancierte Klanggestaltung akustisch ungeeigneten Kirchenraum füllt er bekenntnishaft mit einer Grundhaltung des Appells und des Impulses.
„Tuba mirum spargens sonum …“: Nicht eine Posaune sprengt da „mit Wunderlaut“ die Gräber der Toten – es sind ihrer drei, und gehörig verschaffen sie sich Geltung. In der Episode des Werks, das mit jener Zeile anhebt, tritt Solobassist Igor Storozhenko mit schwarzer Stimmkraft in den Dialog mit einem der Instrumente. Alle drei untertönen, ja durchdringen weite Teile der gesamten Aufführung und verschaffen dem Jüngsten Gericht so gleichsam allzeitige Allgegenwart.
Eingangs hingegen geleiten die Holzbläser und die Streicher wie schreitend die toten Seelen zur Ruhe, mit einer Polyphonie und in schattigen Farben, mit denen der dirigierende Kirchenmusikdirektor an den düsteren Auftakt der Symphonie von Kraus erinnert. Durch klangliche Geschlossenheit und Akkuratesse überzeugt der Chor, nicht zuletzt in den bald starken, bald zarten, nie gellenden Höhen der Soprane. Gegen das zahlenmäßige Missverhältnis zwischen Frauen- und Männerstimmen – nur jeweils sieben Tenöre und Bässe wirken im breit aufgestellten Ensemble mit – helfen wiederum die Posaunen, nicht einfach stützend, sondern geradezu untermauernd.
Hölle und Verklärung
Der vokalen Leichtigkeit in den Verfolgungsjagden der Fugen – deren eine die Kantorei gleich im „Kyrie“ mit Schwung absolviert – tut das Ungleichgewicht wenig Abbruch. Auch schickt das Dutzend Herren (zusammen mit zwei ‚tiefergelegten‘ Damen) im „Confutatis“ die Sünder mit angemessen betonter Härte zur Hölle, während die Frauen in „demütigen“ Weisen zart die Verklärung vorwegnehmen, die den Gesegneten im Himmel bevorsteht. Solche nach Lösung und Befreiung drängenden Spannungskräfte entfaltet der Chor wiederholt fesselnd, so auch, wenn er, nicht lange nach dem von Panik aufgewühlten „Rex tremendae“, im „Lacrymosa“ das Bedürfnis des Menschen nach „Erbarmen“ und „ewiger Ruhe“ im Tod eingesteht; oder im „Agnus Dei“: Halb schuldbewusst bedrückt intoniert er die Passage, halb befreit aufatmend.
Weniger vereinzelt als im Ensemble glänzen die Solisten. Neben dem früheren Symphoniker-Oboisten Igor Storozhenko sind dies die Theater-Hof-Altistin Stefanie Rhaue mit ihrem kultiviert fülligen, farbsatt nuancierenden Alt und Corinna Schreiter, die ihren natürlich hellen Sopran jugendlich frisch bis in die Spitzentöne führt; sich in solcher Nachbarschaft zu profilieren, fällt dem Tenor Benedikt Nawrath nicht immer leicht. Im „Recordare“ teilt sich das Quartett in zwei gleichgewichtige Duos auf – Sopran und Tenor, Alt und Bass –, um sich im „Benedictus“ umso enger und inniger zu verbinden: ein makellos schöner Moment. „Alle Saiten der Seele“ schwingen auch hier, diesmal freilich, statt vor Todesangst bebend, im einverständigen „Lob“ für den, „der da kommt im Namen des Herrn“. Über die Grabes- triumphiert die Lebensnähe.
Im letzten Teil der Symphonie von Joseph Martin Kraus hat sich dieser Sieg schon angekündigt: Nach den Gesten der Trauer im Kopfsatz und seinem harschen Einspruch gegen die Gewalt des Todes wiegelte der Dirigent die Musikerinnen und Musiker im Final-Allegro zu fiebrigem Elan, unruhigem Tatendrang auf – eine unsanfte Auferstehung. Ostern (könnte dies besagen) ist nicht nur reine Freude; nicht in diesem Jahr.
Für Ohren, Bauch und Schritt
Keine Tanzmusik, aber Tanz-Musik: Ausnahmslos Kompositionen aus Lateinamerika stehen auf dem Programm des achten Hofer Symphoniker-Konzerts. Ein Weltmeister des Bandoneons aus Norwegen, der sensationelle Per Arne Glorvigen, breitet Verve und Wehmut seines Instruments aus.
Von Michael Thumser
Hof, 5. April – Schon die Titel klingen wie Musik: „Huapango“, „Conga del Fuego Nuevo“, „Aconcagua“ … So heißen drei der Kompositionen, mit denen die Symphoniker bei ihrem achten Hofer Konzert einen lateinamerikanischen Abend füllten, einen Abend del fuego: einen „des Feuers“. Das Publikum, das den Festsaal der Freiheitshalle am Freitag gut füllte, ging gleichen Sinnes mit: Durch brandenden Applaus, schallenden Jubel, dröhnendes Getrampel drückte es dem Orchester, dessen conductor in residence Hermann Bäumer und dem phänomenalen Solisten seinen Überschwang aus.
Aconcagua: Das Wort hat nicht immer mit Musik zu tun. Diesen Namen trägt Südamerikas höchster Berg, der sich nahe der chilenischen Grenze in den Anden Argentiniens erhebt. Aus jenem Land stammte Astor Piazzolla, der dem fast siebentausend Meter hohen Koloss 1979 ein Konzert für Bandoneon widmete – eines, das ihn sujetgemäß auf dem Gipfel seiner Einfallskraft und Komponierkunst zeigt; und eines, in dem Per Arne Glorvigen das Lieblingsinstrument des weltberühmten, 1992 gestorbenen „Tango-Königs“ durch alle Weiten und Breiten seiner Möglichkeiten führt.
Sein Instrument ist, wie er leutselig in Hof mitteilt, ein „regionales Erzeugnis“: Nicht weit entfernt, in Carlsfeld bei Klingenthal, entstand es vor fast hundert Jahren. Typisch freilich ist es für Lateinamerika: eine im Vergleich zu einheimischen Akkordeons kleine Abart der Handharmonika, nicht mit Tasten, sondern beidseitig mit Knöpfen zu spielen. Ein Instrument, bei dem Klappern zum Handwerk gehört: Unter seine oft scharfen, wenn nicht gepfefferten, aber auch gern mal süß säuselnden Äußerungen schiebt sich das Rappeln der Knöpfe, das Schnaufen des Balgs. Den vielfach gefältelten, sich dehnenden, stauchenden, aufbäumenden Luftsack bezähmen die Hände des weltmeisterlichen Norwegers wie eine schwer zu bändigende Riesenraupe. Während das Orchester und Hermann Bäumer rhythmisch schroffe Unter- und Hintergründe entwerfen, wendet sich der 58-Jährige, im Verein mit ihnen, allen Hauptmerkmalen des von Piazzolla auf die enthusiasmierte Welt gebrachten „Tango Nuevo“, des neuen Tangos, zu: der kurz angebundenen Anzüglichkeit und Aggression, dem Sexismus, der Sentimentalität.
Schüsse aus der großen Trommel
Dabei sieht das Gesicht des Musikers ganz ruhig aus, ernst, aber gelassen souverän; sein Körper indes, mit zuckenden Bewegungen, illustriert deutlich die Zerrissenheit und das Feuer der Ecksätze. Der eine fällt aufgebracht mit der Tür ins Haus; der andere führt mit einem dumpfen Schlag der großen Trommel, aus der spätere Entladungen wie Schüsse knallen, in neuerliche Exaltationen, wobei die Schenkel des Solisten stampfend die perkussive Wucht vermehren. Dissonanzen, Cluster sogar verleihen dem Geschehen ein gerüttelt Maß an Widerborstig-, ja Bedrohlichkeit, ohne die gefühlige Geschmeidigkeit dort zu unterdrücken, wo die Musik sich verlangsamt oder beinah innehält. Über weite Strecken löst und befreit sich das Bandoneon vom Orchester, mit dem Per Arne Glorvigen zwar denselben Harmonieplan verfolgt, freilich nur, um sich das Melos mit Trillern und Prallern, Doppelschlägen und anderen nervösen Figurationen wie improvisierend zu eigen zu machen.
So auch im Mittelsatz. In dem besinnt er sich vollends auf die doppelte Verwandtschaft des Bandoneons: Den Streichinstrumenten steht es klanglich nah, während sein Ein- und Ausatmen dem der Lunge ähnelt. Einleitend zieht sich der Interpret mit einem langen Solo in eine sozusagen leidenschaftliche Introvertiertheit zurück, um sich sodann im kammermusikalisch agierenden Orchester den Konzertmeister und die Harfenistin, das Solocello und den Flügel als wechselnde Kontaktpartner auszusuchen. Mit einem verzweifelten Reibelaut – nicht Missklang, aber Dissonanz – beendet das Bandoneon die Meditation, und jetzt zeichnet sich Wehmut auch im Gesicht Glorvigens ab. Mehr noch, geradezu Schmerz, wird darauf bei einer Zugabe sichtbar, die aus seiner Feder stammt: Darin erinnert er an „Valeria“, ein kleines Mädchens, das mit seinen Eltern aus einem Krisengebiet (ähnlich der Ukraine) floh, aber im rettenden Grenzfluss ertrank. Als Totenklage intoniert er das Stück, aufbegehrend wie unter einer Peinigung.
Gurken-Geraspel
Umso unverstellter die Zuversicht, zu der sich die übrigen klangvoll titulierten Musiken des „feurigen“ Abends aufgekratzt bekennen. In der vierten Suite aus den (insgesamt neun) „Bachianas Brasileiras“ von Heitor Villa-Lobos spielen die Streicher, dann die Bläser erst noch gezügelt auf den Inspirator Johann Sebastian Bach an, bevor die Musikerinnen und Musiker sich in der anschließenden „Ária“ bald elegisch, bald aufgepeitscht auf die Folklore Südamerikas besinnen; in der abschließenden „Dansa“ entfesseln sie aus sich überkreuzenden und durchmischenden Tonarten und Rhythmen ein quirliges Volksfest. Erst recht infiziert der mexikanische Komponist Arturo Márquez mit seiner „Conga del Fuego Nuevo“ und dem bunten Episoden- und Stimmungsreichtum des „Danzon Nr. 2“ das Orchester mit einem Tanzfieber, für das die Kleiderordnung – Frack, Hosenanzug, Kleid – reichlich overstyled erscheint. Bei José Pablo Moncayos „Huapango“ dürfen die Trompeten gellen und die Posaunen orgeln, die Trommel und die Pauken donnern, die Guiro-„Gurke“ raspeln und das übrigen Schlagwerk scheppern –spätestens jetzt könnte man sich die Damen und Herren geschlossenen Auges unter den breiten Sombreros einer Mariachi-Kapelle vorstellen. In die Beine fährt ihre Musik dem Publikum insofern, als es danach hingerissen mit den Füßen trampelt.
„Conga“, „Danzon“, „Huapango“: Tanz-Musik, nicht Tanzmusik. Nicht für biegbare Leiber, die einander schmiegsam nachgeben, ist sie in diesem Fall bestimmt, so übergriffig, glutvoll oder lärmend sie auch ihre Sinnlichkeit bloßlegt. Sondern auf und in die Ohren zielt sie, von dort aus auf den Bauch – mehr als auf den Kopf – und allemal den Schritt.
Nächstes Konzert der Symphoniker in Hof: am 29. April um 19.30 Uhr im Festsaal der Freiheitshalle; Werke von Beethoven (Symphonien 4 und 5, 1. Klavierkonzert); Solist und Dirigent: Christian Zacharias. Konzerteinführung um 18.30 Uhr. Informationen im Internet: hier lang.
Ein Schatz an Menschlichkeit
Mit einem Friedenskonzert bekunden die Stadt Hof, die Symphoniker und das Theater sowie zwei große Jugendensembles ihre Solidarität mit der kriegsverheerten Ukraine. Im Zentrum steht ein grandioses Orchesterwerk, halb Schlachtengemälde, halb Friedensvision. Ein etwa 700-köpfiges Publikum spendet reichlich Applaus und Geld.
Von Michael Thumser
Hof, 29. März – Unruhiger Schlaf, nervös und nur so obenhin, weil selbst durch die Bewusstlosigkeit die Hiobsbotschaft tönt: Die Welt ist aus der Ordnung geraten. Gleich darauf, unversehens und doch erwartet, Alarm. Sekundenschnelles Hochschrecken zu verstörter, angsterfüllter Wachheit. Dann, stürmisch, die heillose Eile einer mühsam geordneten Flucht … Bilder eines Frühmorgens in Mariupol? Oder aus einer anderen der bombardierten Städte in der von Wladimir Putin mit Krieg überzogenen Ukraine?
Nein, es sind, ‚nur‘, Tonbilder: der Anfang eines grandiosen, erschütternden Orchesterwerks. So beginnt Arthur Honeggers dritte Symphonie: unruhig und angespannt vor Todesbangigkeit, nervös auffahrend, Lärm schlagend, antreibend. „Dies irae“ steht über dem ersten Satz, der einen „Tag des Zorns“ schildert: Weltende, Jüngstes Gericht. „Symphonie liturgique“ wird das dreisätzige Werk genannt, das der Schweizer Komponist 1946 unterm Eindruck des Zweiten Weltkriegs vollendete. Aber eine Liturgie, einen rituellen Gottesdienst also, zelebriert es gar nicht, sondern versinnbildlicht (den Worten seines Schöpfers zufolge) „die Auflehnung des modernen Menschen gegen die Flut der Barbarei, der Dummheit, des Leidens“, einen „Kampf im Herzen des Menschen zwischen dem Verzicht auf die blinden, ihn einzwängenden Mächte und dem Drang nach Glück, Friedensliebe und der göttlichen Zuflucht“. Mit größerem Recht könnte in diesen Wochen keine Musik im Zentrum eines „Friedenskonzerts“ stehen.
Offenheit statt Ausgrenzung
Zu dem waren am Freitag etwa 700 Besucherinnen und Besucher in die Hofer Freiheitshalle geströmt und füllten das Große Haus bis hoch auf die Tribünen hinauf. Kurzfristig organisiert – und trotz aller Eile mustergültig schlüssig konzipiert – hatten es die Symphoniker und das Theater im Verein mit der Stadt Hof, deren Oberbürgermeisterin Eva Döhla sich in ihrer Ansprache programmatisch zu einer humanistischen Kunst, speziell zur „Kraft der Musik“ bekannte, um „für den Frieden und das Ende des Krieges“ zu werben. „Offenheit statt Ausgrenzung“: Schon hat die Stadt 650 geflohene Ukrainerinnen und Ukrainer zu Gast, „bald werden es 700 sein“. Ihnen flute von Institutionen wie aus der Bevölkerung eine Welle der Anteilnahme und Zuwendung entgegen, während Hilfskonvois Versorgungsgüter an die Grenzen des überfallenen Landes transportierten. So offenbare sich, sagt Döhla warm dankend, „ein großer Schatz an Menschlichkeit“. Zu dem kommt eine erkleckliche Summe guten Geldes hinzu: An Spenden brachte der Benefizabend 13.281 Euro; und, nicht zu vergessen, dreißig britische Pfund.
Krieg in der Ukraine heißt: Krieg hier – in Europa. An die Europamelodie aus dem Finale von Beethovens Neunter erinnert die Oberbürgermeisterin und an Schillers Vision, die (stumm) der Hymne zugrunde liegt: „Alle Menschen werden Brüder.“ Döhla, bewundernd: „Was für ein Traum!“ Ein Traum, was sonst. Aber auch eine Hoffnung? Sie in Erfüllung gehen zu lassen, sind alle Generationen aufgerufen, nicht zuletzt die junge, die heute schon Anspruch auf eine lebensfähige Welt in einem lebenswerten Morgen erheben darf. Zwei Jugendensembles, beide von Benjamin Sebald geleitet, eröffnen denn auch das Programm. Mit einem aufrüttelnden Schlag, dann sehnsüchtig schwungvoll versammelt das Symphonische Blasorchester die friedliebende „Jugend der Welt“ unterm „Olympic Fire“ (so der Titel von Michael Geislers Komposition): ein Signal des Optimismus. Mit „Lascia ch’io pianga“ blickt das Jugendsymphonieorchester wenig später auf die bittere Realität, indem es die Worte der berühmten Händel-Arie, auch wenn sie in John Glenesk Mortimers Instrumentalarrangement unhörbar bleiben, in feierliche Melancholie übersetzt: „Lass mich mit Tränen mein grausames Schicksal beklagen …“
Aus der Tiefe
Das grausamste Schicksal heißt Krieg. Mancherlei Klagelaute lassen sich während des neunzigminütigen Konzerts vernehmen, ebenso Beherztes, Erfrischendes, Aufmunterndes. Gleichwohl sammelt sich der Ernst der Lage am greifbarsten in Arthur Honeggers „liturgischem“ Schlachtengemälde, dem Hauptwerk des Abends. Die nichts beschönigende Tiefgründigkeit der Symphonie spürt Hermann Bäumer als Dirigent der Symphoniker in zahllos aufleuchtenden Facetten und verhüllendem Schreckensdunkel ungemein eindrucksvoll auf. Gleichsam militärisch im Kopfsatz die Kommandos der Streicher, das Drohen, Dröhnen, Drängen der Blechbläser; Zornesballungen und Zusammenstürze; pulsierende Schilderungen von Gewaltsamkeit: Für Heroismus und Pathos erkennt Bäumer dabei, sehr zu Recht, keine Gelegenheit.
„De profundis clamavi“, „aus der Tiefe rufe ich“, heißt der zweite Satz nach einem Psalmwort aus der Alten Bibel; zugleich scheint sich das Orchester darin auf ein Jesuswort des Neuen Testamentes zu besinnen: „Wenn du betest, geh in dein Kämmerlein und schließ deine Türe zu und tu es im Verborgenen“ – flehentlich wie einen frommen Sermon stimmt es dies jenseitig schöne Adagio an, entrückt von der zerrissenen Welt, aus der dann freilich doch das Geschützdonnergrollen der Großen Trommel herüberdringt und die getroste Hingabe beängstigend infrage stellt. Vollends ins Inferno führt Bäumer Orchester und Publikum mit dem Finale: als zöge neuerlich die Kriegsmaschine barbarisch gellend am Horizont herauf. Doch sie unterliegt am Ende wundersam, ganz so, wie es bei den biblischen Propheten heißt: „nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch den Geist des Herrn Zebaoth“, mithin klanglich sakral in überirdischer Verklärung.
Einheit in der Vielfalt
„Dona nobis pacem“ ist jener Schlusssatz überschrieben, „gib uns Frieden“. Hier geht die uralte Bitte schon mal erlösend in Erfüllung; um anschließend von Solo- und Ensemblestimmen aufgenommen und bekräftigt zu werden. In Felix Mendelssohn Bartholdys Hymne „Hör mein Bitten“ erweicht Inga Lisa Lehr, vom Orchester und dem Opernchor des Theaters, jetzt unter Ivo Hentschel, begleitet, den Himmel mit ihrem hell beseelten, fraulich vibrierenden Sopran. „Verleih uns Frieden“ insistiert vertrauensvoll der Chor in einer kurzen Choralkantate Mendelssohns, in der die Instrumental- und Menschenstimmen in formvollendeter Polyphonie verschmelzen: Einheit in der Vielfalt, Offenheit statt Ausgrenzung. Im „Agnus Dei“ und „Dona nobis pacem“, der sündenbekennenden Friedensbitte an das „Lamm Gottes“ aus Johann Sebastian Bachs h-moll-Messe, versenkt sich Stefanie Rhaue mit putz- und schutzloser Ergebung in die Natürlichkeit ihres mütterlichen Alts; auch emotional kommt er aus der Tiefe, wie Honeggers Adagio-Satz: „de profundis“.
Als die Türme des New Yorker World Trade Centers unterm Anflug islamistischen Terrors fielen, reagierten die Hofer Symphoniker mit der Aufführung von Leonard Bernsteins zweiter Symphonie: „The Age of Anxiety“, „Das Zeitalter der Angst“. Gut zwanzig Jahre sind derweil vergangen, aufgepeitschte wie aufklarende. Seit Menschengedenken ist jedes Zeitalter eines der Angst und eines der Hoffnung.
Ein Eindruck von Ewigkeit
In drei Werken aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts demonstrieren die Symphoniker in Hof die Unauslotbarkeit des Meeres und des Todes. Der Gesangssolistin Kateřina Kněžíková spendet das vergleichsweise überschaubare Publikum regen Beifall.
Von Michael Thumser
Hof, 15. März – Er sei „eigentlich zum Seemannsleben bestimmt gewesen“, ließ Claude Debussy einen Musikerfreund wissen. Ob dem wirklich so war, bleibe dahingestellt. Dass er aber, wie er bekannte, „die See stets leidenschaftlich geliebt“ habe, kann niemand bezweifeln: In „La Mer“, seiner größten Orchesterschöpfung, huldigt er emphatisch der schrankenlosen Weite und Kraft des „unzerstörbaren“ Elements, auf dem „tausend Flotten keine Spur hinterließen“, wie der deutsche Schriftsteller Sten Nadolny in seinem großartigen Seefahrerroman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ schrieb: „Das Meer sah jeden Tag anders aus und blieb sich darin bis in Ewigkeit gleich. Solange es das Meer gab, war die Welt nicht elend.“
In Hof, wo die Symphoniker Debussys „drei symphonische Skizzen“ im großen Haus der Freiheitshalle akribisch ausbreiteten, hörte sich jeder Satz „anders“ an, und doch blieben sie sich „gleich“ im suggestiven Ausdruck von Urwüchsig-, Unbändig- und Unausschöpflichkeit. Zum flächigen Großgemälde fasste Dirigent Johannes Wildner die Trias zusammen, zugleich aber warf er in ihr plastische Reliefs von bald stillen, bald bewegten Wasserspiegeln, von Wellen und Wogen auf. Zu Beginn des ersten Teils stellen die Musikerinnen und Musiker mit Klangbildern von anbrechendem Tag und leichtem Sichregen der Luft die Frage jeder Dämmerung: Ists noch dunkel oder schon hell? Dann nimmt die Musik Fahrt auf wie ein Segler unter einer frischen Brise.
Die Entdeckung der Langsamkeit
Aber nicht mit illustrativer Programmmusik lässt der Dirigent das – am Freitag weitgehend hervorragend disponierte – Orchester von hoher See und ihren Gestaden erzählen. Vielmehr übersetzt es, indem es unstete Reflexionen, flüchtige Flairs, salzig herbe Luft- und nebelgraue Lichthüllen entwirft, gültig den „Impressionismus“ der Partitur, auch wenn Debussy das Wort nicht gern hörte. An Pauke, großer Trommel, Gong treiben die Schlagwerker den grandios auskomponierten Wind an, durch voluminös hallende Tiefentöne weisen zwei Harfenistinnen in die End- und Bodenlosigkeit des Weltmeers. Im Fortissimo der letzten Takte setzt das Tutti der Symphoniker die Gewalt von Brechern und Brandungen frei, vernehmlich eine gute, weil kreative Gewalt. Die See, meinte Debussy, sei „in der Natur recht eigentlich das, was uns wieder in unsere Schranken verweist“. Gut täte Wladimir Putin daran, hin und wieder einen Nachmittag an einer Küste zu verweilen. Die Welt wäre zurzeit weniger „elend“.
Die Entdeckung der Langsamkeit: Großen Romantikern wie Anton Bruckner und Pjotr Tschaikowsky gelang sie in genialen Adagio-Sätzen. Fünf Teile sollte Gustav Mahlers zehnte Symphonie umfassen, doch nur den Kopfsatz konnte er vor seinem Tod 1911 weitgehend ausführen: ein riesiges Adagio, das seinesgleichen sucht, eine fertige Symphonie für sich, vollendetes Weltabschiedswerk, Schlussstück, Lebensfinale. Gleichwohl positionieren die Symphoniker es am Anfang ihres siebten Symphoniekonzerts und stellen auf diese Weise das Thema für den Abend auf: Dessen drei Werke sind sämtlich auf je eigen- und einzigartige Weise wie geschaffen, einen Eindruck von Ewigkeit zu vermitteln. Ewige Ruhe ist es in Mahlers Fall, und bei Johannes Wildner gerät sie noch tiefer, abgeklärter als beim Komponisten selbst.
„Leb wohl, mein Saitenspiel“, trug Mahler, neben anderen Rätselzeilen, verzweifelt in die Partitur ein. Solistisches Saitenspiel der Bratschen führt in das Adagio und seine Aura der Entsagung und Erlösung ein, die Wildner als Grundton des ganzen Satzes ungebrochen beibehält. Mit einem ergreifenden Pianissimo lässt er 25 Minuten später den Schluss ausatmen und verwehen, und selbst den unheilschwangeren Höhepunkt, einen dissonant aufgetürmten, mit Urgewalt ausbrechenden Neunton-Akkord, münzt er vom brachialen Symbol der Apokalypse um in eine fast beiläufige Aufwallung. Mit tiefer Umsicht und weiten Bewegungen spannt Wildner die koloristische Bandbreite so weit aus wie den sich zwischen höchsten und tiefsten Registern entgrenzenden Tonraum. Den durchsichtigen, unschuldigen „Naturlaut“ sucht er in ihm, nicht so den Schmerz des Komponisten, an die Volkstümlichkeit früherer Mahler-Symphonien erinnert er und wiegt mit ihnen Momente des unheimlich Grotesken auf, um filigrane Klangbalance und Harmonie ists ihm zu tun, mehr als um Klage und Katastrophe, den Gestus peinvollen Verzichts meidet er, um einverständig Erlösung zu bekunden: Verklärung.
Ausweg ins Überirdische
Ihr, dem getrosten Ausweg ins Überirdische, geht auch Kateřina Kněžíková in den „Vier letzten Lieder“ von Richard Strauss mit stiller Zuversicht entgegen. Die Sopranistin sprang für Mojca Erdmann ein, die krankheitshalber kurzfristig hatte absagen müssen, und erntete vom leider nicht allzu zahlreich erschienenen Publikum starken Beifall dafür. 39 Jahre alt ist die Tschechin – im Großvateralter hingegen, 84-jährig, schuf Strauss 1948 seine berühmtesten Orchestergesänge. Auch in ihnen: weite Räume. Am überzeugendsten durchmisst Kněžíková sie mit der wohllautend festen, substanziellen Mittellage ihres beseelt, doch nie exaltiert vibrierenden Soprans, der in den Tiefen allerdings an Kraft verliert und in den Höhen gelegentlich forciert erscheint.
Dirigent Wildner lässt ihr mit dem Orchester nicht kleinlaut den Vortritt, sondern bettet sie weich in flutende, ausgeklügelte Klangvarianten, ummantelt sie farbenschillernd, trägt sie sicher. Wiederholt unterstützen Solohorn und Konzertmeistergeige Kněžíkovás Melos, dem sie, wiewohl vor allem auf der Opernbühne daheim, keine dramatischen, sondern wohlweislich lyrische Impulse verleiht. Um die Facettenvielfalt des Abendlichen und Abschiednehmens in den Versen vollends auszuschöpfen, reicht ihr Gesang in seiner ausdrücklichen Beherrschtheit zwar nicht hin. Dass aber eine noch junge Künstlerin diese späten Lieder vorträgt, die nichts von Todesangst zu sagen wissen, macht sie umso glaubwürdiger: Da ist das Alter bloß Müdigkeit, der Tod zum Schlaf geworden und der vergangene Sommer des Lebens zu einer Jahreszeit, die wiederkehrt.
Nächstes Konzert der Symphoniker in Hof: am 1. April um 19.30 Uhr im Großen Haus der Freiheitshalle; Werke von Márquez, Piazzolla, Villa-Lobos und Moncayo; Solist: Per Arne Glorvigen, Bandoneon. Dirigent: Hermann Bäumer. Informationen im Internet: hier lang.
Die Gespenster habens eilig
Die Hofer Symphoniker wünschen gute Nacht. Den Interpretinnen und Interpreten, die sowohl solistisch wie in wechselnden Kammerbesetzungen musizieren, spendet ein 190-köpfiges Publikum gehörig Beifall.
Von Michael Thumser
Hof, 26. Februar – Was Wachstum und Blüte der urbanen Zivilisation von der Nacht übrig ließen, darf man für ziemlich erbärmlich halten: Kunstlicht macht die Nacht zum Tage, der „Lichtverschmutzung“ wegen erkennt der Blick in den Himmel kaum einen Bruchteil der zahllosen Sterne, die sich den Altvorderen im Dunkeln offenbarten. In den Künsten symbolisiert die Nacht oft die Schwärze des Verderbens – so wie jenes, mit dem Putins Russland die Ukraine seit der Nacht zum Donnerstag überzieht –, sie ist der Zeit-Raum der Angst, des Wahnsinns und des Bedrohlichen, des Ungeists und der Teufelei. Genauso aber steht sie für Geheimnis und Meditation, Zauber und Phantasma, Sehnsucht und Liebe, Schlummer, Traum ... Der Musik war und ist die Nacht gelegentlich die liebste Tageszeit, Tonsetzer wie Schönberg („Verklärte Nacht“) und Debussy („Trois Nocturnes“), de Falla („Nächte in spanischen Gärten“), Szymanowski („Das Lied von der Nacht“) oder Othmar Schoeck („Sommernacht“) gaben sich ihren Atmosphären mit orchestraler Inbrunst und Erregung hin.
Die Hofer Symphoniker widmeten ihr am Donnerstag einen ganzen kammermusikalischen Abend voller „Nachtmusik“. Versteht sich, dass sie den 190 Zuhörerinnen und Zuhörern im Festsaal der Freiheitshalle Wolfgang Amadeus Mozarts „Kleine Nachtmusik“ nicht vorenthielten; doch hoben sie sich, in stark begrenzter Streichorchester-Besetzung und von Konzertmeister Lorenzo Lucca am ersten Pult unauffällig, aber straff geleitet, dies wohl populärste Klangwerk zum Thema als Rausschmeißer bis zum Schluss auf. Dann freilich ließen sie es gehörig sprudeln, imponierend klangreich und auf stabilem Bass-Fundament, mit heiterem Vorwärtsdrang im Anfangs-Allegro und verschmitzter Gemessenheit in der Romanze, betont trittfest im saloppen Menuett und im Kehraus des Finalrondos unbeschwert betriebsam.
Lobrede an den Himmel
Durch und durch anders der Beginn des Programms: Da steht ein einziger Musiker auf dem Podium, Alan Korck, und könnte leicht etwas verloren wirken – hätte er nicht, als wärs zum Schutz, sein Horn bei sich. Mit variablem, leicht tremolierendem Ton, sacht sich wölbenden, in zartem Piano auslaufenden Phrasen, zwischen Signalrufen, behänden Koloraturen, Momenten der Selbstbesinnung wechselnd, breitet er das wohl bewährteste Solostück des Horn-Repertoires aus. „Laudatio“ hat es der 2013 gestorbene Bernhard Krol betitelt, der es nicht als festliche Lobrede auf einen verdienten Mitmenschen schuf, sondern als fromme Preisung des Allmächtigen. Zugrunde legte er ihm eine gregorianische Choralmelodie für das „Te Deum“: „Dich, Gott, loben wir …“ – die verschattete Welt kann in diesen Tagen ein bisschen Gottvertrauen gut gebrauchen.
Solistisch tut sich gleichfalls Birgitta Kurbjuhn hervor, sie indes nicht mutterseelenallein, sondern von Streichern und Cembalo getragen. In Antonio Vivaldis Konzert „La notte“ (die Nacht, RV 439) tauscht die Flötistin die lang gehaltenen Triller des Anfangs-Largos gegen die flatterhafte Ungeduld eines geschwinden Prestos aus; „Fantasmi“ ist der Abschnitt überschrieben, „Gespenster“, und die habens eilig, weshalb die Künstlerin ihnen Beine macht. Nicht viel später versenkt sie sich in kurzen, aber tiefen „Schlaf“ („Il sonno“), wie beklommen, aber ruhig durch mancherlei Tonarten mäandernd. Aufgeregt erwacht, tut sie sich mit der Primgeige Elena Gonashvilis zusammen, die ihre Unternehmungslust teilt.
Ebenso hat Ruth Munzert den Schauplatz ganz für sich, weitgehend einsiedlerisch, indes auch sie nicht völlig verwaist. Denn für eine Weile tritt ihr Mann Steffen Munzert an ihre Seite, um sich mit ihr „Sous le ciel de Paris“, unterm Himmel von Paris, der abgeklärten Lebens- und Liebeslust einer Chanson-Melodie (von Hubert Giraud) zu widmen, die Juliette Gréco oder Édith Piaf von den Fünfzigerjahren an mit ihren Stimmen weltberühmt machten. Als Solistin hingegen mischt Ruth Munzert Zärtlichkeit und gelegentlichen Nachdruck in einem „Nocturne“ von Michail Glinka, das unter ihren Fingern serenadenhaft zum schlichten Liebeslied gedeiht. Weit komplexer lässt sie ein „Lied in der Nacht“ folgen, das „Chanson dans la nuit“ der franko-amerikanischen Harfenlegende Carlos Salzedo, eine impressionistische Fantasterei, die sie in eine teils duftige, teils somnambule, mitunter sogar tänzerische Aura taucht, bis sie das aparte Gespinst sich ins Formlose auflösen und wie einen Hauch verwehen lässt – die verführerischsten Minuten des Abends.
Dämmerstimmung
In der Musik hat die Nacht ihr eigenes Genre, das Nocturne, das etwa bei Frédéric Chopin gehäuft, aber, auch anderweitig, wie bei Glinka, und dann oft an bedeutsamer Stelle auftritt. So im zweiten Streichquartett Alexander Borodins: Eine Musikerin und drei Musiker der Symphoniker lassen das Nachtstück auf den – so gefühl- wie spannungsvoll, im Mittelteil dramatisch aufgefassten – Kopfsatz des Werkes folgen. Die weitläufige Kantilene dieses auch separiert vielfältig bearbeiteten und vielgespielten Andantes holt Alexey Shestiperov schmachtend aus der sonoren Mittellage seines Cellos hervor, von Synkopen aus Hyejin Yunes zweiter Violine und der Bratsche Anton Bonevs sacht vorangeschoben, bis Primgeiger Alex Köhn es in hohen und höchsten Geigentönen aufnimmt und erwidert.
Mit einer feier-, nicht lebensabendlichen Dämmerstimmung füllen die Interpreten den Festsaal, lassen aber keine Müdigkeit hören. Empathisch bezeugen sie die diskrete Angeregtheit einer Liebe, wie Borodin sie bekennend für seine Frau Jekaterina empfand; zum zwanzigsten Jahrestag ihrer Verbindung hat er ihr das schöne Werk gewidmet. Sein Tonfall romantischen Werbens bekräftigt auch in Hof: Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da.
ACHTUNG: Der für den 26. März im Großen Haus der Freiheitshalle angekündigte Abend „Star Wars in Concert" muss auf das kommende Jahr verschoben werden.
Nächste Konzerte der Symphoniker in Hof:
■ 11. März, Freiheitshalle, Großes Haus, 19.30 Uhr: 7. Symphoniekonzert (Musik von Mahler, Strauss und Debussy) mit Mojca Erdmann (Sopran) Johannes Wildner (Dirigent).
■ 13. März, Freiheitshalle, Festsaal, 11 Uhr: „Ich bin doch nicht taub!“, Beethoven-Kinderkonzert mit Kerstin Klaholz (Moderation) und Michael Falk (Leitung).
Bestattung im Sturm
Christian Zacharias nicht als Pianist, sondern als Dirigent und tiefenkundiger Beethoven-Experte am Pult der Hofer Symphoniker: Nach der „Eroica“ durchqueren er und die Geigerin Alexandra Conunova das Violinkonzert mit vielschichtiger Empfindsamkeit. Das Publikum bejubelt beide.
Von Michael Thumser
Hof, 22. Februar – Alles in allem: sehr schön, jedenfalls ungewöhnlich, wenn auch zu lang. So etwa lassen sich die Stimmen aus dem Publikum und den Konzertberichten grob zusammenfassen, die nach den Uraufführungen von Ludwig van Beethovens dritter Symphonie und seinem Violinkonzert 1805 und 1806 laut wurden. Längst urteilt man anders: Im Klassik-Kanon sind beide Werke fest verankert, ihre Extravaganzen in puncto Form und Dauer gelten längst als Norm, und auch die Symphoniker, Christian Zacharias als ihr Dirigent und die junge Geigerin Alexandra Conunova bestätigten in der Hofer Freiheitshalle ein- und ausdrucksvoll, wie aussagestark sich die außerordentliche Schönheit der Kompositionen während zweier Jahrhunderte behauptete.
Christian Zacharias, der berühmte Pianist, als Dirigent? Und Schönheit, in jeder Beziehung? Bereits 1992 wechselte der bald 72-jährige Musiker vom Flügel ans Pult, verließ es seither nicht wieder und hat erklärtermaßen Lust, zu dirigieren, „bis ich neunzig bin“. Allerdings überzeugt er wohl am meisten, wenn er das eine mit dem anderen verbindet, wie er es beim nächsten Beethoven-Abend in Hof am 29. April tun wird: Dann leitet er die Symphoniker beim ersten Klavierkonzert als Solist vom Flügel aus. Am Freitag hingegen trat er gleichsam ungeschützt vor Orchester und Publikum, und das sah weniger bedeutend aus. Lässt sich in seinem Fall von Schlagtechnik sprechen? Auf den Taktstock verzichtend, vertraut er allein den Händen, die er gern lässig in Bauch- und Nabelhöhe an den schlaffen Armen schlenkern lässt. Überhaupt mangelt ihm erkennbare Körperspannung. Umso mehr erstaunen die Impulse, die er trotzdem den wachen, ehrgeizigen Musikerinnen und Musikern zu geben weiß. Wenn schon nicht seiner Erscheinung, so doch seinem Gefühl und Verstand hat Zacharias die Partitur Detail für Detail einverleibt. Seine Musik ist, man darf es ruhig so allumfassend sagen, schön. Sehr sogar. Und zu lang? Gar nicht.
Aus einem Heldenleben
Denn mit feinen wie signifikanten Farben, sinnstiftenden Betonungen und Gewichtungen, deutlichen, indes nie lähmenden Akzenten, plausiblen Hell-Dunkel- und Laut-leise-Kontrasten leuchtet er die „Eroica“ aus. Ein Heldenleben gilt es zu schildern: „Per festeggiare il sovvenire di un grand’uomo“, um das Andenken eines großen Menschen zu feiern, schuf Beethoven das Ausnahmewerk, dem, wollte es sich einer leicht machen, auch mit pointiertem Pathos einigermaßen effektvoll beizukommen wäre. Zacharias hingegen versenkt sich von Anfang an in Gedankentiefen, was spätestens die komplexen Durchführungsteile des ausgedehnten Kopfsatzes, ihre Intensität und Transparenz erweisen. Aufs Genaueste folgt ihm das Orchester mit auffallender Leichtigkeit und einem teils filigranen Zusammenwirken.
Dem Trauermarsch des zweiten Satzes geht der Dirigent in Grabesdunkel auf den Grund – eine geziemend ‚heroische‘ Trauerfeier, pfeift doch dazu Sturm Zeynep misstönend zweistimmig um die Ecken der Freiheitshalle, an der er geräuschvoll rüttelt. Der solcherart meteorologisch aktualisierten Totenklage setzen die Musiker flirrend flink die markante Munterkeit des Scherzos entgegen. Partnerschaftlich wechseln sich die Streicher in der Führung mit den Holzbläsern ab, bis im Trio statt des Sturms die drei Hornisten blasen: begierig zur Jagd. Mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks, doch fern von seiner Seelenlosigkeit bringt Zacharias den Satz zu Ende, um im Finale und seinen Variationen noch einmal ganz auf artikulatorische Vielfalt zu setzen: Die Überhöhung zur schallenden Apotheose scheut er nicht, lässt aber auch schon mal vier Solisten delikat als Streichquartett agieren. Ein Überraschungseffekt; und weit mehr: Verweis auf ein Verständnis des Symphonischen, das sich vom Vollton bis zur Kammermusik erstreckt.
Der Plan geht auf
Wenn schon draußen Orkanböen toben: nimmt dnn Alexandra Conunova das Violinkonzert im Sturm? Wohlweislich nicht. Natürlich erkennt die Geigerin eine seiner Besonderheiten darin, dass Beethoven nicht erst den Mittelsatz des Larghettos, sondern bereits das Anfangs-Allegro (ma non troppo, aber nicht zu sehr) sozusagen als langsamen Satz konzipiert hat. Folglich kommt es von Beginn an sehr auf Spürsinn und Sparsamkeit, Nachdenklich- und Einfühlsamkeit an. Dafür wählt die 32-jährige, in Moldawien geborene Künstlerin einen diskret lebendigen, sacht schmelzenden Ton, dem sie ein spürbar sensitives, indes unübertriebenes Vibrato angedeihen lässt. So fremd ist ihr plakative Virtuosität, dass mit ihrer Beteiligung Christian Zacharias’ offenkundiger Plan aufgeht: das Werk als „symphonisches Konzert“ erklingen zu lassen, als eines mithin, in dem der Stellenwert der Solistin und der des Orchesters einander die Waage halten.
Demgemäß ergibt sich keine Gelegenheit für sportliche Temperamentsausbrüche; freilich hat Conunova auch gar keine Lust darauf. Eine gewisse Grandezza liegt in ihrem Gestus, doch keine Großsprecherei, Zartheit beschwichtigt ihre Expression, doch keine Weichlich- oder Weinerlichkeit. In Pianopassagen mag ihr Spiel eingangs ein wenig dünn anmuten, doch selbst dies untermauert nur, dass Energie, Glut, Feuer bei ihr aus dem Innern kommen.
Die Zeit steht still
Der Kadenz des ersten Satzes verleiht sie durch unbeirrte Durchsichtig- und Durchhörbarkeit bei gleichzeitiger Motorik und Dichte Substanz. Im Larghetto glättet sie ihre Diktion zu natürlicher Schlicht- und anspruchsvoller Einfachheit, wie rastend auf einer Fläche tönender Stille; fast scheint es, als hielte die Zeit an, die einem gleichwohl nicht lang wird. Bis die Geigerin mit einem sanften Ruck ins Finalrondo eintritt; reich schattiert Alexandra Conunova dort ihre Gesten ab, wiegt sich in naiver Träumerei, äußert gelinde Mahnungen, aber auch so manchen inständigen Appell. Spielerisch, hier und da ironisch bricht sie Beethovens Erhabenheit und die Vornehmheit des Klassizismus mit einem Quantum Ungezwungenheit, wie sie ihren jungen Jahren zukommt.
Das Publikum jubelt, trampelt und ruft Bravo. Das tut es bei den Symphonikern, ihren Solistinnen und Solisten oft und gern. Und bei Beethoven sowieso.
Aus der Luft gegriffen
Ein Musiker aus dem katholischen Neuötting in der evangelischen Hofer Stadtkirche St. Michaelis: Mit staunenswerter Kenntnis der Stilgeschichte und starkem Ausdruckswillen erweist sich André Gold als Meister der Orgelimprovisation.
Von Michael Thumser
Hof, 16. Februar – Wer Kirchenmusik zunftgerecht betreiben will, tut nicht genug, wenn er im Gottesdienst an der Orgel manierlich zu Chorälen präludiert und die singende Gemeinde mit passenden Akkorden begleitet. In ihm muss sich zugleich belebend ein Bedürfnis regen, festgelegten Notentexten zu entkommen, um spielend der eigenen Intuition zu folgen, zusammen mit der Bereitschaft, sich offen und wahrhaftig mitzuteilen – in der Improvisation.
Vom italienischen improvviso leitet das Wort sich her und bedeutet, dass ein Künstler, eine Künstlerin plötzlichen Einfällen folgt, um dem Publikum Unvorhergesehenes zu bieten. Für Kirchenmusiker und -musikerinnen gehört diese hohe Kunst so unverrückbar zum Kern ihrer Ausbildung, dass sie an Hochschulen in Masterstudiengängen unterrichtet wird. Und freilich reichen, um sie am Ende mustergültig auszuüben, gute Lehrer und eigener Lerneifer allein nicht aus. Erst überdurchschnittliche Begabung und tiefe Einfühlung in die spirituelle und tonsprachliche Ideenwelt vergangener Epochen, ein verlässlicher Strom der Inspiration und der Mut, es ungeschützt ‚drauf ankommen‘ zu lassen, machen den ambitionierten Improvisator zum Meister seines Fachs. Viel also, sehr viel ist verlangt von ihm. André Gold vereint dies alles imponierend in sich. Beispielhaft offenbarte er am Sonntag in Hof das höhere Wesen der Improvisation: Klang-Sinn, aus der Luft gegriffen.
Intime und vehemente Gesten
Um die diesjährigen Heidenreichtage in der evangelischen St. Michaelis-Kirche abzuschließen, reiste der 42-Jährige aus Neuötting an, wo er seit 1999 als Kirchenmusiker an der katholischen Stadtpfarrkirche St. Nikolaus amtiert. Als er in Salzburg und München studierte, hatte er den Schwerpunkt, statt auf die Orgel, auf die Orchesterleitung gelegt – und arbeitet heute eng mit mehreren kleineren und großen Instrumentalensembles sowie etlichen Chören zusammen. So, kann man sagen, spielt er auch die Orgel: nicht genügsam nach den Tasten tastend; vielmehr erweist er sich – ob mit intimer, ob mit vehementer Geste – an den drei Manualen und dem Pedal der Heidenreichorgel geradezu als ein Dirigent, der über jedes der 63 Register mit ihren knapp viertausend Pfeifen souverän regiert.
Improvvisamente, im Sinn von unvorbereitet, setzt sich Gold natürlich nicht auf die Orgelbank. Genau durchdacht hat er sein Programm, das er festlich, mit vitalem, gar optimistischem Schwung mit einem Präludium Dietrich Buxtehudes (BuxWV 137) eröffnet. Erwartungsgemäß hat er Johann Sebastian Bach im Programm, die „Magnificat“-Fuge BWV 733 in besonnenem, ja erhabenem Fließen und mit Prophetenworten aus den Pedal-Bässen. Gleichsam ungeduldig verwandelt er das Anfangs-Allegro aus Carl Philipp Emanuel Bachs vierter Orgelsonate in eine hastige, zusehends zerrissene Toccata. Wiederum nüchtern meditierend fügt er wenig später ein Choralvorspiel von Johannes Brahms an; zu dem er schließlich mit der „Festival Toccata“ des Briten Percy Fletcher einen umso ungetrübteren, affirmativ-festlichen Widerpart kreiert. So reist Gold chronologisch durch die Epochen vom Hoch- und Spätbarock bis an die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert, und alles hat (was an der Orgel immer besonders schön zu sehen ist) buchstäblich Hand und Fuß.
Was aber sein Gastspiel zur Attraktion macht, ist sein Stegreifspiel. Zum einen setzt er auch hierbei seine kontrastierende und oft überraschende, fein- und farbsinnige Art der Registrierung ins Werk. Zum andern greift er selbstbewusst, kundig und geschmackvoll auf wechselnde Zeitstile der älteren und jüngeren Orgelmusik zurück, um sie dem eigenen ausgeprägten Ausdruckswillen einzupassen. Altmeisterlich die erste Improvisation - durch ihre Polyphonie: Den Choral „Er weckt mich alle Morgen“ legt er ihr zugrunde, wobei seine geläufigen Finger um den in notengetreuer Schlichtheit durchtönenden cantus firmus behände Figurationen von sprudelnder Ausgelassenheit kräuseln.
Die Entschlusskraft der Dekonstruktion
Hingegen schlägt er zur Gesangbuch-Melodie von „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ einen weit sachlicheren, spröderen Ton an, vielleicht aus der Schule Hugo Distlers oder Paul Hindemiths. Dem Lutherlied „Ein feste Burg“ nähert er sich, als Katholik, mit der Entschlusskraft der Dekonstruktion: Die kämpferisch-erzprotestantische Melodie zerbricht er, um die Fragmente mit sonoren oder glitzernden Hüllen zu ummanteln, bis er sie schallend zu einem bitonalen, kühn dissonanten Chaos geradezu zermalmt. Ein Moment musikalischer Ökumene; auch ein spielerisches, ironisches Stück Gegenreformation? Ein Stück zum Staunen jedenfalls.
Als Glanzstück des Programms adaptiert er die Herrnhuter Losungstexte des Konzert-Sonntags aus dem Propheten Maleachi und der Johannes-Offenbarung. An den unverwechselbaren Harmonien, der opalisierenden Koloristik, dem schwebenden Gestus der Orchester- und Orgelschöpfungen Olivier Messiaens orientiert der Künstler hier seine von einer Phase zur nächsten höchst veränderlichen, immer substanziellen, zudem ausnehmend spannenden Eingebungen. Und er mischt ins Orgelspiel seinen hörenswerten Bariton, mit dem er Gottes Jüngsten Tag und die Wiederkehr des Messias ankündigt: „Wer wird bestehen, wenn er erscheint?“ Aber auch: „Ich werde mit ihm das Mahl halten.“ Ernste Mahnung, trostreiche Verheißung: Nichts davon greift André Golds sakraler Erfindungsgeist zufällig aus der Luft.
Widerstrebende Elemente
Anna Vinnitskaya beim fünften Hofer Konzert der Symphoniker: Ausdrucksmächtig und technisch perfekt überwältigt die gefeierte russische Pianistin das Publikum mit Rachmaninows Paganini-Variationen.
Von Michael Thumser
Hof, 25. Januar – „Ich wollte wie Orpheus singen“, sang Reinhard Mey mit zarten Zweiundzwanzig in seinem allerersten Chanson. Zur Gitarre, wie Orpheus zur Lyra, sang er, und damit bringt einer wohl auch schon mal „Felsen selbst zum Weinen“.
Mit gerade mal achtzehn Jahren kam Anna Vinnitskaya nach Hamburg und brachte bereits eine perfekte Spieltechnik mit. Die hatte sich die jugendliche Pianistin in Russland erworben, in Rostow am Don, als früh- und hochbegabte Studentin des Rachmaninow-Konservatoriums. Eine Elevin der „Russischen Schule“ also; aber auf die oft rüde Wucht und dröhnende Vollgriffigkeit jener nationalspezifischen Variante der Klavierinterpretation, auf die berüchtigte „Pranke“ also ließ sie sich nicht ein. Sie lernte, erzählte sie einmal, „wie man das ‚Schlaginstrument‘ Klavier zum Singen bringt“.
Dabei bleibt die Künstlerin, die seit 2009 in der Hansestadt als Professorin lehrt, dem Namenspatron ihrer ersten Ausbildungsstätte treu: Zwar finden sich in ihrem Konzert- und CD-Repertoire große Namen von Bach bis Gubaidulina; zu Sergej Rachmaninow aber kehrt sie gerade in diesen Jahren gern zurück. Mit seiner Rhapsodie über ein Thema von Paganini aus dem Jahr 1934 riss sie am Freitag in der Freiheitshalle das Publikum beim fünften Hofer Konzert der Symphoniker hin: Die Dame ist eine Sensation und wurde denn auch mit Getrampel gefeiert.
Nicht nur, weil sies fingermechanisch einfach drauf hat. Einer Pianistengeneration gehört sie an, die sich schon in jungen Jahren technisch an allerhöchsten Standards messen lassen muss, und die erfüllt die 39-Jährige unermüdlich, griffsicher, treffergenau bei zu Mikrosplittern aufgelöstem Arabeskenwerk ebenso wie bei rasenden Oktavpassagen. So prompt absolviert sie haarsträubendste Schwierigkeiten, dass sich die Hörerin, der Hörer ganz auf die wunderbare Transparenz und Verwandlungsfähigkeit ihres farbenstarken, in der abgestuften Verteilung von Druck und Kraft frappierend vielseitigen Anschlags konzentrieren darf. Faszinierend hält sie das Gleichgewicht zwischen zärtlicher Empathie und zupackender Emphase, Virtuosität und Wehmut, zwischen Antithesen also, aus denen sich die Gemütsverfassung gerade dieses Komponisten tonsprachlich so berührend wie mitreißend speist.
Alles im Gleichgewicht
Im ‚symphonischen‘ Gleichgewicht auch bleiben, unter Hermann Bäumers Dirigat, Klavier und Orchester; das sah der pianistisch und instrumentatorisch gleichermaßen kundige Komponist so vor. Gleichwohl versagt die Interpretin dem energiegeladenen Augenblick den Nachdruck nicht; im selben Moment ist aber schon Neugier auf den nächsten Klang zu spüren, und der kann sich umso verletzlicher oder nobler oder diskreter in den Mantel der Symphoniker einschmiegen. Während Toccata-artiger Variationen, in denen Vinnitskaya das Klavier als „Schlaginstrument“ in Anspruch nimmt, erlaubt sie sich noch bei kleinsten Noten keine Flüchtigkeit; aber auch jeder Bravourgeste und Verlockung zu überspannter Exaltiertheit geht sie souverän aus dem Weg. Mit der berühmten achtzehnten Variation wiederum – auch in ihrer Auslegung blühend-inbrünstiger Gipfelpunkt des grandiosen Werks – will sie nicht sentimental das Herz erweichen, sondern „singt“ mit dem Klavier in selbstverständlicher Schönheit. Falls es so etwas gibt.
Im selben Sinn gibt sie sich der Zugabe hin, der „Arabeske“ von Robert Schumann – und leitet mit ihr über zum rein orchestralen Hauptwerk des Programms nach der Pause, zu Schumanns dritter Symphonie. Nach all den erregenden, erschütternden, erfüllenden russischen Impulsen kann es kein Kinderspiel sein, nun noch mit der treudeutschen „Rheinischen“ zu punkten. Tatsächlich kommt sie an diesem Abend vergleichsweise formell daher. Hermann Bäumer entwirft weniger eine wechselreiche Reihe von Naturbildern, vielmehr affirmiert er, zumal in den Eckteilen, das bekannte pompöse Bild vom „Vater Rhein“, mit der Sommerheiterkeit des majestätischen Kopfsatzes, auch im Scherzo, das er freundlich fließen lässt, auch im folgenden biedermeierlichen Pastorale.
Zum Steinerweichen
Immer wieder allerdings imponieren das Hofer Hörnerquartett und das schwere Blech mit großartigen Ensemblesätzen und gravitätischen Chören – Kraftzentren der Darbietung insgesamt, mithin auch des vierten Teils. Den überschrieb Schumann mit „feierlich“; der Dirigent zelebriert ihn mit exponierten, makellosen Bläserchorälen als Requiem, weniger aber mit der katholischen Weihe eines deutschen Doms als mit der Abgründigkeit, mit der Modest Mussorgski in den „Bildern einer Ausstellung“ spricht: „cum mortuis in lingua mortua“, mit den Toten in der toten Sprache. Unwillkürlich wandern da die Gedanken zurück an die Paganini-Variationen, in denen Rachmaninow an drei Stellen den mittelalterlichen Kirchengesang des „Dies irae“ und mit ihm den apokalyptischen „Tag des Zorns“ herbeizitierte. Aber freilich, Schumanns Symphonie geht, wie die Rhapsodie, gut aus.
Schon das erste Werk des Abends, „Orpheus“, hat ein „unwiderstehliches Licht über widerstrebende Elemente“ geworfen: So schilderte Franz Liszt selbst seine verklärte Tondichtung. Der titelgebende griechische Poet, so sagt die Sage, entriss durch den berückenden Zauber seiner Musik die Gattin Eurydike dem Tod und dem Totenreich, mit Liedern, bei denen selbst Steine in Tränen der Rührung zerflossen. Wie die Klanggemälde, die der Komponist den Herren Tasso, Mazeppa und Prometheus widmete, hätte auch aus diesem ein dramatisches Heldenepos werden können. Doch spannen Liszt und mit ihm Dirigent Bäumer in diesem Fall eine Atmosphäre aus, die ungeachtet ihrer Sonorität von Konflikten beseligend frei bleibt. Zuallererst ist das den zwei Harfenistinnen zu danken: Mit hallenden Arpeggien durchweben sie den großen Liebesgesang des mythischen Lyra-Virtuosen. Nicht zuletzt in Melismen der begehrlichen Konzertmeistergeige, des Solocellos gewinnt er Gestalt. Einmal füllen die Symphoniker fast überschwänglich den Saal mit prangendem Forte; ein andermal beben die tiefen Streicher furchtsam und verhalten. Mit Recht: Die Überlieferung erzählt ja auch, wie Orpheus seine Geliebte schließlich doch an den Hades verliert, darüber aber schweigt Franz Liszts Musik sich aus. „Orphisch“ schließt sie: mystisch, geheimnisvoll.
Der Sage nach landete der hartnäckig fort und fort tremolierende Kopf des enthaupteten Troubadours in einem Fluss, dann in der Ägäis. Seinem heuer 80-jährigen Kollegen Reinhard Mey blieb dies Schicksal erspart: „Meine Lyra trag ich hin, / bring sie ins Pfandleihhaus“, sang er 1964, „wenn ich wieder bei Kasse bin, / lös ich sie wieder aus.“
Nächstes Konzert der Symphoniker: am 18. Februar im Großen Haus der Hofer Freiheitshalle, Musik von Beethoven (Eroica, Violinkonzert) mit Alexandra Conunova (Geige) und Christian Zacharias (Dirigent). Das Orchester im Internet: hier lang.