Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth
Ein halbes Pferd im trauten Heim
Von Buhs umtobt, zugleich von Bravos umjubelt schließt Valentin Schwarz’ „Ring“ mit „Siegfried“ und „Götterdämmerung“. Lob verdienen Fantasie und Mut des Regisseurs, wenn auch immer mehr Enden seiner Neuerzählung lose flattern. Einhellig überflutet der Beifall das Ensemble und den Dirigenten.
Von Michael Thumser
Bayreuth, 2. August – Siegfried muss sterben, sonst gäbs den ganzen „Ring des Nibelungen“ nicht. Aber so? Statt am urwüchsigen Gestade des Vaters Rhein lässt der vielberufene „Held“ am Boden eines gammeligen Schwimmbeckens wenig heroisch das Leben. Klimawandelnde Erderwärmung hat das Freibad bereits im „Rheingold“ sengend bedroht. (Zu den ersten beiden „Ring“-Teilen siehe die auf dieser Unterseite folgende Rezension.) Drei Abende später, in der „Götterdämmerung“, widersteht dort nur noch eine Pfütze der Verdunstung; und der erfolglos in ihr angelnde Siegfried erliegt nicht etwa männlich einem Kriegerspeer in seinem wehrlosen Rücken, vielmehr prügelt ihn Hagen – einst Siegfrieds Kumpel, bis der ihn schnöde alleinließ, darum jetzt sein beleidigter Todfeind – mit bloßer Faust tot, an der ein Schlagring steckt. Dabei handelt es sich aber nicht um den Ring, der Richard Wagners chef d’œuvre den Namen gab. Mitsamt dem über den ganzen Vierteiler hin umstrittenen Gold hat Regisseur Valentin Schwarz das Geschmeide in ein Kind verwandelt, Siegfrieds Nachwuchs. Den Mord am Papa beobachtet es und rüttelt und betrauert ihn, nachdem er, sein Dasein beschließend, Reste von Sehnsucht nach der Mama herausgesungen hat.
Nicht selten, und so auch zurzeit auf Bayreuths Grünem Hügel, findet modernes Musiktheater zwei Mal statt: wie es sich gehört auf der Bühne, wo Tonkunst und Spiel die Geschichte erzählen; zum andern im Programmbuch, wo das Spiel erklärt werden muss. Denn allzu oft versteht sich heutzutage Theater nicht mehr von selbst. Auch nicht bei Schwarz, dessen „Ring“ im vergangenen Sommer im Festspielhaus herauskam: Ohne gedruckten Leitfaden blieben die sechzehn Stunden ein exponentiell zunehmendes Rätsel. Nicht als Nach-, sondern Neu-Erzählung entfernte Schwarz seine Fassung von Oper zu Oper immer mehr vom Original, was sie notgedrungen weiter und weiter der Nachvollziehbarkeit durchs Publikum entzieht. Im Programmbuch legt er einen roten Ariadnefaden durch seine „Assoziationsräume“, die ihm Andrea Cozzi sehenswert zeitgemäß in wandlungsfähigen Szenerien geschaffen hat.
Erdähnlich, gegenwartsnah
So tritt der wagnersche Stoff aus dem ihm angestammten „metaphysischen Raum“ heraus in eine neue, einigermaßen erdähnliche und gegenwartsnahe Realität. In ihr wandern nicht Tarnhelm und Ring als Symbole für Macht und Lieblosigkeit von Gestalt zu Gestalt, sondern von einer Generation zur nächsten das Unheil der modernen Menschheit, die an der Schöpfung und der eigenen Spezies Raubbau treibt. Den Kindern verstellen Machtgierige und Lieblose die Zukunft, die doch eigentlich ihnen gehört.
Den erst 34-jährigen Regisseur zeichnet ein unbändige Kreativität aus, wobei seine Umbrüche und Beigaben zu Wagners Urstoff sich zusehends weniger mit den Dialogen und Spielvorgaben des Dichterkomponisten vertragen. Immer steht irgendwo etwas befremdlich über, das unter Schwarz’ Überschreibungen nicht passt, hier knickt eine sonst strukturbildende Episode ins Neckische oder Dürftige weg, dort legt sich über ein farbig fabuliertes Detail wagnerscher Fantastik lähmende Blässe. Was aber, wenn es im „Siegfried“, dem weltendrückt mirakulösen Intermezzo des Ganzen, weder den durch Mimes Hütte tobenden Bären noch den besitzstandswahrenden Drachen mehr gibt und der zum Helden ausersehene Jungrecke das magische Schwert Nothung nicht schmieden darf? Viel Essenzielles bleibt nicht, wenn Schwarz aus dem Märchen das Märchen herausstreicht.
Andererseits gehört zum verantwortungsvollen Umgang mit Kunst und ihren Hervorbringungen auch und gerade das Spielerische, der schwungvolle Versuch, und die Spiele der Kunst können da und dort selbst ein ansehnliches Scheitern ganz gut verkraften. Zugutezuhalten ist der blühenden Einfallskraft des Regisseurs, dass eine so grundstürzende Transformation eines derart komplex verästelten Plots gar nicht ohne Notzucht und Beschädigung, Verluste und Mankos vonstatten und schon gar nicht eins zu eins aufgehen kann wie eine geglückte Patience. Auf Valentins Habenseite steht segen- und fluchbringend jene Kühnheit, deren Konsequenz ihm auch heuer nach dem allerletzten Aufzug am Montag das Buh-Gebrüll wutschnaubender Wagnerianer eintrug.
Indes hielten der tumultuarischen Empörung nicht allein der Künstler und sein Team, zugleich auch helle Scharen johlend applaudierender-Bravorufer stand. Unbeschädigt gingen aus der akustischen Saalschlacht die Sängerinnen und Sänger hervor, einhellig bejubelt wie auch der finnische Dirigent. Der, Pietari Inkinen, bewahrt sich seine Tugenden aus den beiden ersten „Ring“-Dramen, indem er mit dem (in Blechbläseraktionen und Einsätzen auch schon mal unscharfen) Orchester die Singenden stützt und trägt, wenn nicht behutsam anschiebt. Leidenschaften hilft er zu kalkulieren, zwischen den Figuren offenbart er Unter- und Hintergründiges. Siegfried muss sterben; aber so? Szenisch bleibt der Trauermarsch für den Toten ärgerlich unillustriert, dafür scheint Inkinen aus dem Graben heraus laut das dunkle Geschick des ganzen Planeten beklagen zu wollen; bis er im schwelgerischen Ausklang des Zyklus instrumental für kaum weniger Licht sorgt, als die Bühne dies tut.
Mehr wunderlich als wunderbar
Auf ihr überwiegt das Wunderliche das Wunderbare. Den halbwüchsigen Siegfried – mit dünnem, langem Otto-Waalkes-Blondhaar – bespaßt Mime (Arnold Bezuyen) als Zauberkünstler beim Kindergeburtstag, für den sein Schützling längst zu groß ist. Fafner liegt nicht als Lindwurm in seiner Höhle, sondern in einer Nobellounge als greiser, übelwollender Pflegepatient auf dem Krankenbett, aus dem heraus Tobias Kehrer gleichwohl mit dem unerbittlichen Bass eines Ungeheuers tönt. Vom Feuer, wie ein Drache es zu spucken pflegt, ist nur etwas qualmende Glut im Kamin übriggeblieben. Als Geister-Trio gespenstern die drei Nornen durchs Kinderzimmer und rollen eine zur andern einen Autoreifen-großen Ring, der allerdings wieder nicht der Ring des Nibelungen ist. Hagen, in Gestalt des wuchtig finsterstimmigen, aber behäbigen Mika Kares, reagiert sich beim Boxtraining unlustig an einem Sandsack ab, um sodann in ein Phlegma zu verfallen, aus dem er noch mordend nicht recht herausfindet. Die Gibichmannen - also der lang und schwarz gewandete, wieder famose Chor - heben rote Germanenkrieger-Masken vor die Gesichter … „Weißt du, was Du sahst?“
Das muss sich im „Parsifal“ dessen töricht-unverständiger Titelheld fragen lassen. Beim Betrachten von „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ ist man oft genug versucht, die Frage mit Nein zu beantworten. Wer den Parsifal in Jay Scheibs Neuinszenierung dieses Sommers erlebt hatte (siehe auf dieser Seite unterm Datum 27. Juli), der begegnete ihm nun in der zweiten „Ring“-Hälfte als Siegfried wieder: Andreas Schager, in schier unfassbarer Vollform. Gesanglich durchquert er mit nur wenigen Spuren von Anfechtung das eine Drama, um im anderen so gut wie makellos durchs Ziel zu gehen. Das verdankt er einem technisch perfekt durchtrainierten Tenor von kultivierter Substanz, unantastbarer Haltbarkeit und sich entgrenzender Strahlkraft – wahrscheinlich der imposanteste Festspiel-Siegfried der vergangenen gut dreißig Jahre. Wenn auch unverkennbar in den eigenen Glanz, die eigene Wucht vernarrt, weiß der Künstler doch das eine wie das andere zu dosieren; dann tritt neben dem XXL-Format der Stimme auch ihre innere und wahre Größe ins Recht, als Schönheit und Tiefgang.
In der Intrigenschmiede
Zum Gegenteil, nämlich zur Eindimensionalität, verurteilt ihn hingegen die Inszenierung. Indem Valentin Schwarz alles Märchen- und Sagenhafte, Fantastische und Irreale ausmerzte, verkleisterte er auch Ingredienzen wie das Wahrheitsserum und den Vergessens-Trank. Die Liebe des Protagonisten zu Brünnhilde (im „Siegfried“ mit ausgreifendem, aber ungemein innigem Vibrato: Daniela Köhler) geht dahin, bis er am Beginn der „Götterdämmerung“ der längst dysfunktionalen Beziehung vollends den Rücken kehrt und die einst entflammt Begehrte („Erwache, sei mir ein Weib!“) mit dem gemeinsamen Töchterchen kaltherzig sitzen lässt. So freilich büßt die notorische Heldenrolle ihre moralisch notwendige Gebrochenheit ein: Ein Schuft, trinkfest und hemdsärmelig, bleibt der von Schwarz abgedankte Heros und darf, obwohl er böser Intrigenschmiederei Hagens und der Gibichungen erliegt, nicht auch als unschuldiges Opfer untergehen. Andererseits wusste der Regisseur gerade jenen Gibichungen eine attraktive, weil satirisch abstoßende Metamorphose zu verpassen: Wie die ekligen Fernseh-Geissens führen Gunther und Gutrune eine feierwütig hohle Großprotzensippe an, er ein degenerierter Vollproll, sie in ihren Designerroben seine lenkbare Schnepfe. An Stimme fehlt es weder Aile Asszonyi noch Michael Kupfer-Radecky; stark hingegen lässt der Geschmack des Geschwisterpaars zu wünschen übrig: Von einer Luxusreise haben sie sich allerlei Plunder mitgebracht, darunter die hintere Hälfte eines lebensgroßen Pferds als Mega-Nippes fürs traute Luxusheim.
Das letzte Wort gebührt weder dem Ermordeten noch seinen Mördern, auch nicht den Rheintöchtern als melodisch modulierenden Mahnerinnen (wie schon im „Rheingold“ die Damen Novak, Houtzeel und Schröder) – sondern angemessenerweise Brünnhilde. In der „Götterdämmerung“ stemmt wieder, wie in der „Walküre“, die kernig-robuste Catherine Foster die Körper, Geist und Seele vollständig fordernde Rolle, und sie verleiht ihr bis in ihren – leider unpassend pathetisch, zugleich lachhaft abstoßend in Szene gesetzten – Schlussgesang und besonders in ihm bezwingende Leuchtkraft und dominierenden Charakter. Trotzdem behauptet sich neben der buchstäblich überragenden Fülle ihrer künstlerischen Körperlichkeit ein agiles Rauschgoldengelchen von vielleicht sieben Jahren, Brünnhildes und Siegfrieds Tochter, nicht bloß publikumswirksam süßer Sidekick und puppenpossierliches Beiwerk, sondern in allen Aufzügen, ja fast allen Szenen präzis und bedeutungsvoll dabei mit staunenswerter Stimmig- und ungekünstelter Auffälligkeit. Den Namen der Kleinen sucht man auf dem Programmzettel umsonst, unbekannt bleibt er mithin wie die Zukunft der Menschheit, für die das Kind steht.
Die Bayreuther Festspiele im Internet: hier lang.
Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth
Der Familienbenutzer
Vor einem Jahr lief das Publikum Sturm gegen Valentin Schwarz und seinen sehr frei erzählten Nibelungen-„Ring“. Wer ihn heuer sieht, mag an manchen Zwangsmaßnahmen Anstoß nehmen. Zugleich aber motiviert sein anregend waghalsiger Realismus zum kritischen Nachdenken über die Zeitläufte.
Von Michael Thumser
Bayreuth, 29. Juli – Zu den vielen Verbrechen und Verfehlungen, von denen Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ voll ist – Täuschung und Betrug, Erpressung und Ehebruch, Raub und Mord … –, kommen seit dem vergangenen Jahr auf Bayreuths Grünem Festspielhügel mindestens zwei bis drei weitere hinzu. Im ersten Bild des „Rheingolds“ lässt Regisseur Valentin Schwarz ein Kind entführen. Und in der „Walküre“ kommt Siegfried im Unterbauch Sieglindes nicht inzestuös während ihrer „Wonnemond“- und Liebesnacht mit Bruder Siegmund zustande; vielmehr verdankt er sich, wies scheint, ihrer Vergewaltigung durch den verhassten Ehegatten Hunding. Der Eigenbrötler, beim stimmlich und sprachlich notorisch großartigen Georg Zeppenfeld kein grimmiger Bär, sondern ein schmaler Soziopath, schwingt sich so zum Vater ausgerechnet jenes Helden auf, den sich Obergott Wotan zur Rettung von Welt und Walhall wünscht.
Doch halt. Götter und Helden, Himmelsburg und die ganze Germanen- und Keltensagen-Staffage gibt es in diesem „Ring“ gar nicht. Im Sommer 2022, in seinem ersten Jahr, wollten Buhgewitter des Publikums den Regisseur und sein Team für seine von Grund auf diesseitig und heutig ausgelegte Inszenierung zerschmettern und verlangten schon gleich nach dem ersten, dem „Vorabend“ nach Absetzung der ganzen vierteiligen Produktion. Zwölf Monate und zahllose Medien-Verrisse später ists völlig anders: Diesmal lassen sich die Zuschauenden – in deren Reihen am Mittwoch und Donnerstag, bei der Wiederaufnahme von „Rheingold“ und „Walküre“, zum ersten Mal seit Menschengedenken Festspielhaussitze frei blieben – die radikal realistische Neu-Erzählung gefallen (ob bis zum Weltende in der „Götterdämmerung“ am Montag, bleibt abzuwarten) und überschütten die Sängerinnen und Sänger sowie den musikalischen Leiter Pietari Inkinen mit Fluten tosenden Jubels. Die Ovationen trafen die einen wohl über Gebühr, den anderen mit Fug und Recht.
Leibesfrüchtchen
Schon wenn, ganz zu Beginn, unterm Dirigat des 43jährigen Finnen der Vater Rhein wie ein mütterlich alles erschaffendes Urmeer sich aus dem Graben erhebt, ist Staunen erlaubt. Denn in einer Videoprojektion entpuppen sich zwei organische Strünke binnen Kurzem als die Nabelschnüre von Zwillingen im Mutterschoß. Nicht aber Siegmund und Sieglinde, Wagners Lieblingsgeschwisterpaar, hängen daran, sondern, zunächst noch niedlich und friedlich, Wotan und Alberich. Zu Brüdern erklärt der Regisseur die beiden, zu Leibesfrüchten eines Ursprungs. Zu Leibesfrüchtchen: Alsbald gehen sie einander blutig ans Leder, Alberich kratzt Wotan ein Auge aus, und Wotan entmannt den kleinen Nebenmann dafür.
Kastriert und postnatal sinkt Wagners Nachtalbe bei Olafur Sigurdarson in den Grimm, die unerfüllte Geilheit und Gier eines grandios finsterstimmigen Ganoven ab. Wotan hingegen mausert sich – ja, zu was für einem? Andrea Cozzi und Andy Besuch als Szenograf und Kostümbildner versetzen ihn und seine müßiggängerische, smart casual oder stylisch gekleidete oder festlich herausgeputzte Entourage in eine elegante, weich gepolsterte, geschmeidig sich verwandelnde Luxuswohnwelt mit Herrenzimmeratmosphäre. Hat es Wotan also zum steinreichen Kapitalisten auf den Goldminen und Mienenfeldern eines rücksichtslosen Neoliberalismus gebracht? Oder managt er, gleichfalls ein Schurke, die organisierten Verbrecher einer geschniegelten „Familie“? Einen sportlich-narzisstischen Alt-Beau stellt der (textlich weitgehend unverständliche) Tomasz Konieczny während des „Rheingolds“ in der Rolle vor.
Unwiderruflich einsam
Dann, in der „Walküre“, verengt sich der ausdauernde, aber gutturale, bisweilen sprechgesangliche Bass des Polen, der seine Ausstrahlung, mit Leidenschaft agierend, jedoch noch steigert: Indem Wotan seiner Lieblingstochter und engsten Gefolgsfrau Brünnhilde (Catherine Foster, in der Ekstase gut bei Stimme, im Piano, zumal bei leisen Phrasenanfängen brüchig ungenau) das Verdammungsurteil spricht, verdammt er sich selbst. Und indem der Regisseur „Wotans Abschied“ in Brünnhildes Abschied ummünzt, lässt sie den Patriarchen mitleiderregend auf ausgeleerter Bühne in selten so verzweifelt, so unwiderruflich gesehener Einsamkeit zurück. Letztlich hat Fricka, die rechthaberische Gattin Wotans, dies veranlasst: weil sie recht hat damit, auf geltendes Recht zu pochen – daran lässt die in der „Walküre“ überwältigende Christa Mayer keinen Zweifel zu.
Von Brüdern und Schwestern, von Kindern und vom fatalen Erbe, das vorangehende Generationen ihnen für die Zukunft aufbürden, weiß Valentin Schwarz Dunkles zu berichten. Mutig, weil ohne Rücksicht auf Sperrigkeiten und Ruckeleien, stülpte er dem Wagner-Original seine nicht in allen, doch entscheidenden Ansätzen originelle Eigenversion über. Die erscheint, allen Verzerrungen, Brachialeingriffen und ins Unstimmige tendierenden Zwangsmaßnahmen zum Trotz, im Doppelsinn bedenklich: an manchen Stellen arg fragwürdig, gleichwohl in schöpfungs- und menschenvernichtenden Krisenzeiten wie den gegenwärtigen unbestreitbar von Belang.
Kidnapping im Kinderhort
Um im Konzept zu bleiben, modellierte Schwarz sogar und zuallererst das Zentralsymbol der Tetralogie, das Gold, ins kindlich Körperliche um. Als vielleicht achtjähriges Kerlchen tritt es auf, nicht indes als Goldjunge, sondern als Rotzbengel, der sich zerstörungswütig schon mal als der erprobt, der er einst sein soll: Hagen, Alberichs Sohn. Ziehsohn, um genau zu sein: Denn der entmannte Dieb, um sich Nachwuchs zu verschaffen, kidnappt den Kurzen kurzerhand aus einem im Freibad planschenden Kinderhort. Gegen solchen Berserker wird später Siegried, auch wenn ihn der heftige Hunding nötigend gezeugt haben sollte, schwerlich siegen können: viel zu sanft seine leibliche Mutter Sieglinde - die mit hochfrequent tremolierendem Sopran lieblich girrende Elisabeth Teige -; und viel zu romantisch der zart-zärtliche Bruder Siegmund, der sie und ihr Baby rettet, als wär es sein eigenes: Klaus Florian Vogt. Sein Chorknabentenor versteht sich endlich dazu, Linien statt einzelner Töne zu singen, wenngleich er im baritonalen Register substanzlos versackt.
Während auf der Bühne in solcher Weise die Mythologie des Bayreuther „Meisters“ wie Unkraut ausgejätet wird, drängt aus seinem „mystischen Abgrund“, dem Graben, seine Orchestermusik in Reinkultur hoch, so wie von ihm gemeint: bildstark, doch nie als Ersatz für die Bilder der Bühne, erzählend und die Erzählung atmosphärisch erweiternd und erhöhend, durch plastischen und poetischen Eigenwert packend, dabei den Singenden stets auch Schutzmaßnahme, Vehikel und Halt. Dort, wo der Dirigent die Vitalität vollends entfesselt, wird sogar mokanter Humor möglich: Wohl nie und nirgends sonst gerieren sich Brünnhildes Walküren-Schwestern, von Inkinen vogelwild orchestriert, so verwöhnt und selbstverliebt – als Klientinnen einer schneeweißen Schönheitsfarm, von einer aufgekratzten Prosecco-Seligkeit, der die Bandagen auf den ‚gemachten‘ Gesichter nichts anhaben können. Und vom „Feuerzauber“ (der in den Instrumenten lodert und glüht) ließ der Regisseur gerade mal ein Kerzenflämmchen übrig.
Undefinierbare Kleinteile
Dergleichen sitzt, es sagt was aus. Anderes, wie der schlichtweg unterschlagene „Einzug“ der Luxusleute in Walhall, versandet szenisch in läppischem Getändel. Unverkennbar zwar gehört Valentin Schwarz’ Liebe der Personenregie. Doch namentlich der Gebrauch vieler Requisiten und überhaupt ihr Sinn bleiben unerklärlich; nicht zuletzt darum, weil die Inszenierung ein Manko perpetuiert, das den musikdramatischen Vierteiler seit seiner Uraufführung dramaturgisch belastet: Für den titelgebenden Finger-Ring, das winzige, aber zentrale Geschmeide liebeloser Macht, sind die Werke, die Bühne und das Auditorium eines Opernhauses viel zu groß. Bei Schwarz gehören zum Zubehör aber nicht nur Schusswaffen, die Speere und Schwerter ersetzen, oder zwei Stricknadeln, mit denen Sieglinde (auch wenn mans lieber nicht sähe) ihr Ungeborenes abzutreiben trachtet, oder ihre Unterwäsche; auch etliche Kleinteile werden verwendet, undefinierbar in ihrer Art und ihrem Zweck: Kindermalereien eines immer gleichen Sujets etwa oder, überall, Pferdefiguren. Grane hingegen, in Wagners Fiktionen Brünnhildes im Bühnen-Off bleibendes Ross, erscheint hier als Mann, Deckhengst des Vollweibs, leibhaftig.
Über derlei leitmotivische Gegenstände dominiert eine gleißende Pyramide in schachtelgroßem Würfelgestell. Was es mit ihr auf sich hat – wer weiß. Soll sie, wie ein gemeinsamer Nenner, die Sphären und Sippen des Reichtums und des Raubes, des lichten Verlangens und des finsteren Verbrechens kryptisch verknüpfen? Im Schöner-Wohnen-Ambiente Wotans steht sie herum und taucht ebenso in Hundings schlecht elektrifizierter Behausung auf. Sinnfrei erinnert sie an den unvergesslichen „Familienbenutzer“ des unsterblichen Loriot und behält, wie ihre riesigen Schwestern aus dem alten Ägypten, ihr Geheimnis für sich.
■ Über die Aufführungen von „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ berichtet ho-f voraussichtlich am 2. August.
■ Die Bayreuther Festspiele im Internet: hier lang.
Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth
Handgranaten zur Erlösung
Der neue „Parsifal“ auf dem Grünen Hügel wagt nicht viel. Zur Saisoneröffnung schob sich, als Ersatz für plausibel deutende Ideen, entbehrliche augmented reality mittels Spezialbrillen vor die Augen von 330 Besuchern. Alle zweitausend aber durften musikalisch vier Sternstunden erleben.
Von Michael Thumser
Bayreuth, 27. Juli – Um Bewusstsein und Wahrnehmung zu erweitern, kann man sich mit Meditation oder Alkohol oder chemischen Substanzen behelfen. Oder man setzt sich eine Brille auf. Nicht irgendeine. Sondern eine von der Art, wie sie die Bayreuther Intendanz an den hinteren Sitzreihen in Richard Wagners Festspielhaus für 330 der fast zweitausend Besucherinnen und Besucher hat installieren lassen.
Wer sich am Dienstag während der Eröffnungspremiere der neuen Spielzeit die sehr speziellen Gläser vor Augen und sich an sie gewöhnt hatte, wurde mit augmented reality, AR, versorgt: mit erweiterter Wirklichkeit. Bei Benutzung spult sich zusätzlich zum Geschehen auf der Bühne und vor ihr luftig ein dreidimensionaler Bilderreigen, zur Bilderflut sich steigernd, ab, nicht zuletzt tierischen Ursprungs: Glühwürmchen und Flatterfalter aus Nacht und Tag, sterbende Schwäne mit Pfeilen in den übersprudelnden Herzen, Pferd und Fuchs, Lamm und Klapperschlangen, in den Klapperschwanz sich beißend, ganz zum weihevollen Schluss eine Friedenstaube im flackernden Nimbus des Heiligen Geistes, die allerdings nur am unteren Bildrand die Flügel breiten darf. Lange bevor der neue „Parsifal“ am Dienstag das Licht der Bühnenwelt erblickte, waren die Feuilletons zahlloser Medien voll mit Spekulationen über Jay Scheibs Inszenierung und mit Interviewäußerungen von ihm. Dergleichen pflegt die Erwartungen festspielhaushoch zu steigern. Ernüchtert fragt sich der Besucher nach sechs Premierenstunden: Braucht es das?
Denn genau – also ohne AR-Brille oder unter ihren Rändern hindurch – betrachtet, erweist sich die Produktion als im Grunde konventionell. An den Gestaden eines Wasserbassins von wechselndem Format errichtete Bühnenbildnerin Mimi Lien fürs Erste einen Quellstein von kristalliner Gestalt, hoch und schlank und wie Chrom glänzend. Später bewohnt Zauberer Klingsor, im rosa Anzug und wie ein Alt-Germane aus Wagners „Ring“ mit Hörnerhelm (Jordan Shanahan, stimmlich schwarz vor Wut, gleichwohl präzis), kein Zauberschloss, sondern einen gleichfalls rosa glühenden Höllenofen neben einer Art Staumauer, die Parsifal als Eroberer senkrecht hinunterläuft. Schließlich ist, wie nach apokalyptischer Totalverheerung, die Gralssphäre aus dem ersten Aufzug zur Endzeitlandschaft ausgetrocknet, aus den schöpfungsvernichtenden Tagen des Tagebaus steht als rostende Ruine noch eine Art Grabungsbagger herum. Nicht in einem sakralen Saal zelebrieren die Rittermönche das Abendmahl, sondern unter einem weiten Lichtstrahlenkranz wie unter einem riesig über ihnen schwebenden Heiligenschein. Anstelle eines Kelches wird als Allerheiligstes ein blauschwarzer Kristall enthüllt: Amfortas – der mit weicher Männlichkeit ergreifend leidende Derek Welton – vergießt darüber Eigenblut aus seiner unheilbaren Wunde.
Fromme Tableaus, feierliches Schreiten
Jede spektakuläre Geste solcher Art ist hochwillkommen. Denn viel tut sich und tun die Mitwirkenden nicht. Regisseur Scheib hat ihnen und dem Werk zwar das gottesdienstliche Priestertum einigermaßen ausgetrieben, nicht aber dem genius loci die vom verewigten Wolfgang Wagner gepflegte Vorliebe fürs fromme Standbild und Tableau, für feierliches Schreiten und die Positur. Dass der erklärsüchtige Gralswächter Gurnemanz mit seinen schier endlosen Auslassungen und die Handlung überhaupt dennoch vorankommen, verdankt sich zwei zentralen Umständen: zum einen der perfekten Stimme des unübertrefflichen Georg Zeppenfeld und seiner weniger salbungsvollen als mitmenschlich abgeklärten Rollengestaltung; das Publikum am Dienstag, das mit lauten Ovationen zumindest fürs Ensemble nicht sparte, bejubelte mit Fug und Recht besonders ihn.
Das andere Verdienst darf sich Pablo Heras-Casado anrechnen. Bei seinem Hügeldebüt macht der 46-jährige spanische Dirigent nicht einen Augenblick den Eindruck der Unsicherheit. Durch angezogenes Tempo ventiliert er lebendig die staubige Weihe des „Bühnenweihfestspiels“. Den Stimmen lässt er allen Raum, den sie brauchen. Und mit dem hochpräsent farbstarken Orchester deckt er eine Nuancenbreite ab, die sich vom kammermusikalischen Accompagnato über die Frühlingssehnsucht des „Karfreitagszaubers“ bis zum Gralsglockengeläut der wuchtigen Verwandlungsszenen erstreckt.
Das wissen die Aktricen und Akteure zu schätzen und zu nutzen. Im Mittelaufzug, dem naturgemäß sinnlichsten, stofflichsten, löst sich sogar die Starrheit über die innere Bewegung hinaus in Körpersprache und Mienenspiel auf, das sich durch hohe Videoleinwände noch in den hinteren Sitzreihen zu erkennen gibt. Jetzt trifft der zwar kraftvolle und wohllautende, aber nicht durchweg treffsichere, auch nicht immer unangestrengte Andreas Schager als Titel-„Tor“ und -held mit Elīna Garanča als Premieren-Kundry zusammen – ein Tête-à-Tête, das für die Opernfigur günstiger ausfällt als für den, der sie verkörpert. Denn zwar erkennt Parsifal auf Kundrys Lustmatratze, wie von Wagner vorgeschrieben, seine Person und Mission, erleuchtet wie durch einen Blitz durchs Herz. Doch die Strahlkraft der lettischen Künstlerin, ihr zum Alt tendierender, bei allem Volumen nie überzeichnender Mezzo mit seinen vielen, vielfältig seelenvollen Tönen und Tönungen bestätigt, dass Schagers Charisma in dieser Rolle nicht hinreicht. Dazu singt und wirkt Garanča viel zu verführerisch als Klingsors Liebesdienerin, viel zu mütterlich als Parsifals Orientierungshelferin, als „Sünderin“ schuldbewusst bis zum reuigen Aufschrei.
Mögen der Zaubergarten-Gefolgschaft Kundrys, den Blumenmädchen, gesanglich auch ein paar Härten unterlaufen, so klingen die Männer des notorisch fabelhaften Chors dafür umso homogener, im pathetischen Piano sowohl wie bei forderndem Forte kultiviert. In hellen Gewändern (Kostüme: Meentje Nielsen) formieren sie sich zur Skulpturengruppe, weitgehend bei denkmalhafter Unbeweglichkeit, während vor dem Auge des Betrachters Astwerk kreiselt, Bäume wachsen oder stürzen, Dornbüsche brennen, Vogelscharen schwärmen; freilich nur vor Augenpaaren, vor denen die AR-Brille digitale Imaginationen zaubert. Wer solcher Sehhilfe entbehrt, also etwa 1650 Zuschauende, blickt vier Stunden lang in eine – vor allem für Bayreuther Verhältnisse – eigentümlich überbelichtete Szenerie; die korrekten, deutlich abgeblendeten Sichtverhältnisse stellen sich erst durch die dunklen Gläser her. Mit ihrer Hilfe gibt es – zum Beispiel – kriechende Skelette und wirbelnde Totenschädel mit lachhaft klappenden Gebissen zu sehen, pumpende Herzen und Wasser, dann Blut sprühende Hände, Schemen dicker Männlein und schlanker Weiblein, eine Reizflut bunter Vegetation und puppenhafter Pflanzenmenschenwesen mit Anleihen bei Hieronymus Bosch, ein Meer von Plastikmüll (namentlich eine bis zum Schlussvorhang nervtötend hartnäckige Einkaufstüte), Elektronikbauteile und Batterien, Kipplaster und brennende Traktoren. Statt Klingsors Schloss bricht gar der Zuschauerraum des Festspielhauses in sich zusammen.
Torkelnd, tanzend, taumelnd schiebt sich das Virtuelle vor die Bühne, deren Staffagen es nach links und rechts breit, doch gleichgültig „erweitert“, und kann als Strom ungehemmter Assoziationen so ziemlich alles oder nichts bedeuten. Zum In- und Gehalt des Dramas trägt es wenig bei, verstellt aber oft die Sicht auf den realen Spielraum und lenkt plakativ die Aufmerksamkeit vom Wesentlichen, von Musik und Ereignis, ab. Oder gibt gefallsüchtig vor, das Wesentliche zu sein: Offenkundig interessierte sich der 53-jährige US-amerikanische Regisseur mit seinem AR-Designer Joshua Higgason mehr fürs augenwischende Beiwerk als für die Interpretation des Originals. Was Jay Scheib demonstrieren will, teilen beinah ausschließlich die Schlusssequenzen mit: Während zum allerletzten Abendmahl imginäre AR-Sturmgewehre und Handgranaten durchs Haus segeln, bricht „Erlöser“ Parsifal den kristallinen Gral in Stücke. Der Mensch, soll das wohl sagen, verantwortet höchstpersönlich seinen hinfälligen Planeten, zum Besseren hilft ihm kein Himmel, die Hölle bereitet er sich selbst.
Keine überraschende Erkenntnis: als Deutung vordergründig wie die Brillenbilder aus der Irrealität, mit denen der Regisseur das Weihespiel Wagners, das Generation für Generation immer unverkennbarer aus der Zeit fällt, modernistisch verbrämt. In Wahrheit sah und sieht sich die Wirklichkeit seit abertausend Jahren auch ohne Gimmicks, Cybertricks und Gadgets allenthalben durch Erzählungen und Erdichtungen, Fantasien und Fiktionen „erweitert“, um Unermessliches bereichert, über alle Grenzen ausgedehnt: durch die Kunst, die Künste. Durch eine so weltfremde wie die Oper zumal.
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Philosophie des faulen Zaubers
Erst ein notgeiler Dorfrichter, jetzt ein alternder Platzhirsch: Nach Kleists „Krug“ bringt das Theater Hof mit Verdis „Falstaff“ auch eine komische Oper über einen übergriffigen Sexisten heraus. Gespielt und gesungen wird famos, namentlich vom großartigen Gregor Dalal in der Titelrolle.
Von Michael Thumser
Hof, 6. Juli – Fat shaming geht gar nicht und passiert trotzdem Tag für Tag. Jemanden seines Körperumfangs wegen zu mobben, war und ist von Grund auf niederträchtig. Heutzutage, wo über die Hälfte der Deutschen als übergewichtig gelten muss, fühlen sich mehr und mehr Zeitgenossen und -genossinnen abschätzig beäugt, und nicht jeder Mann im XXL-Format hat so viel Größe, sich mit der wissenschaftlich abgesicherten Erkenntnis zu ermutigen, dass so manche erfahrene Frau Liebhaber mit runden Bäuchen wegen deren Ausdauer im Schlafzimmer zu schätzen weiß.
Ist Falstaff einer von der Sorte? Jedenfalls behauptet ers. In William Shakespeares Komödie über „Die lustigen Weiber von Windsor“ führt der alte Bock seine Leibesfülle als Garanten für seine Qualitäten als Deckhengst wortgewandt ins Treffen, nicht ganz so deftig zwar in Otto Nicolais romantischer Opernversion – dafür aber auch in der commedia lirica des greisen Giuseppe Verdi, seinem letzten und vielleicht auch schönsten Werk. Als Titelheld streicht sich der hinreißende Gregor Dalal wohl- und selbstgefällig über seinen Wanst: „Wie gut, mein alter Bauch, dass ich dich pflegte“, denn namentlich um „dieses Prachtgebäudes“ willen, so wähnt der pompös paus- und glutbäckige Schluckspecht altersgeil, sticht er „die Jugend aus“; „all die hübschen Frauen geraten gleich in Aufruhr“ und „reißen sich“ um ihn.
Solo und pleite
Weil dem, versteht sich, nicht so ist, taugt die Oper zum Genuss. Erlesen wird im Theater Hof gesungen und famos gespielt. Dass Falstaff sich gründlich irrt, weist ihm in Nilofar K. Münzings bunt-burlesker, einfallsreich nimmermüder Inszenierung so kess wie klug ein schalkhaftes Damenquartett mit Nachdruck nach. Inga Lisa Lehr führt es in der Rolle der Alice an, mit höhenluftig trillerndem Sopran, und weiß mit Franziska Rabl als Busenfreundin Meg und deren tiefergelegtem Mezzo, einem Alt fast, eine treuherzige Verbündete an ihrer Seite. Den beiden Schönen aus der gehobenen Bürgersphäre hat Falstaff, der lüsterne Lord, gleichlautende Liebesbriefe zugeschickt. Er will die beiden, kurz gesagt, rumkriegen. Und er will ihr Geld.
Denn er ist solo und auch pleite, was sowohl seiner Rolle als Lebemann wie als Verschwender widerspricht. Gegen seine Pascha-Pläne wird ein Intrigennetz gesponnen, in dem sich der fette Verführer tatsächlich fängt, auf Britta Lammers’ jugendstilig ansehnlicher, die Handlung wie eine Oscar-Wilde-Komödie in die 1890er-Jahre transponierender Bühne sogar buchstäblich. Es zuzuziehen, helfen des Dicken eigene Diener treubrüchig mit – Markus Gruber und Michael Rudzinski, zwei wie Max und Moritz –; auch die Mrs. Qickley der abgefeimt vergnügten Stefanie Rhaue im maskulinen Marlene-Dietrich-Anzug mischt sich nach Kräften ein. Und natürlich gehört, im eigenen Interesse, Nannetta, Alices Tochter, zum Komplott, will sie doch unbedingt, wenn auch unstandesgemäß den Gärtner heiraten: Yvonne Prentkis und Minseok Kims wohllautendes Süßholzgeraspel mutiert, dreist umtönt von den Listen der Verschwörerinnen, fast zur Parodie.
Alices Gatte, der reiche Whiskybrenner Ford, muss nicht lang fürchten, die Gemahlin könne ihm Hörner aufsetzen. Im Zauberwald trägt Falstaff sie schon selbst, aus freien Stücken: Als Platzhirsch und stattlicher Zwölf- bis Vierzehnender erscheint er dort um Mitternacht, zum sinnlichen, ja übersinnlichen Rendezvous, wie er gutgläubig meint. Aber es ist „fauler Zauber“: Wirklich zwar führt eine Flügelfee eine Riege Hasen beim Reigen reizend an, doch die blanke Klinge, womit der Gourmet danach das Festmahl zu tranchieren beginnt, wendet sich bald scharf gegen ihn. Rasch artet das erhoffte Stelldichein zum mutwilligen Femegericht aus, dessen geradezu überrumpelnder Witz sich den abenteuerlichen Ein- und Verkleidungskünsten der Kostümbildnerin Uta Gruber-Ballehr verdankt. Trotzdem finden sich am Ende alle zur Versöhnung bereit, sogar Nils Stäfe, der die eher plumpe Rolle des Mr. Ford durch seinen seelenvollen Tenor adelt und vertieft. Schon gar nicht muss er sich in puncto Embonpoint neben dem Schlemmer Falstaff verstecken. Einzig Doktor Cajus (Jason Lee) guckt in die Röhre: Beinah heiratet er Nannette, aber eben nur beinah.
Dünner Boden, dicke Bohlen
Mit diesem weisen Stück Musik hat Verdi sein Lebenswerk wunderreich vollendet – mit einer Partitur, darin Spiel und Worte (von Arrigo Boito), Gesang und Orchesterklang sprechend aufs Engste ineinandergreifen. Nicht allein auf jede kleine Wendung des Geschehens, ebenso auf jedes pointierte Wort des (deutsch gesungenen) Textes und, immer staunenswert genau, auf jeden exponierten Takt und Ton berechnete die Regisseurin den agilen Aktionismus des Schwanks, der leichten Flüssigkeit der durch und durch subtilen Musik gemäß. Mit dem Orchester ‚spricht‘ der dynamische Ivo Hentschel am Pult der Symphoniker auch: Die Stimmen hüllt er handfest überdeutlich – dann gelegentlich zu dick – in die aufmüpfig reagiblen Stimmungen der commedia; oder er spinnt die zarten Saiten der Herzensangelegenheiten aus; und in den fixen Dialogpartien entrollt er den haltbar dünnen Boden, ohne den das federnde Parlando des Konversationsstücks nicht florieren würde.
Indes braucht der Boden, auf dem Falstaff steht und stapft, dickere Bohlen, und auch die zimmern ihm Hentschel und die Musikerinnen und die Musiker zurecht. Gregor Dalal gehörte Anfang der Zweitausender zu den ersten Kräften im Theater Hof; als Gast zurückgekehrt, erweist er sich darstellerisch und stimmlich noch einmal eminent gewachsen, auch gereift. Den „Wal“ und „Ochsen“ unterfüttert er mit einer selbstverständlichen Jovialität, die es kaum erlaubt, dem gemästeten Macho seine Übergriffigkeiten gegen die Weiblichkeit zu verübeln. Markant und kraftvoll agiert sein sprachgewaltiger Bassbariton, auch nach zwei Spielstunden noch treffsicher und behänd in der grandiosen Schlussfuge des kompletten prächtigen Ensembles. In seinem Welt- und Frauenbild steht der Genuss als Zentrum unverrückbar fest; alle andere „Philosophie“, so lehrt er, sei nur „fauler Zauber“. So lustvoll und prägnant wie Dajals stattlicher Leib führt sein spitzbübisches Gesicht sich auf, mit einer Groteskmimik der Durchtriebenheit wie bei James Belushi.
Der alte Adam
Im selben Theater wird zurzeit Heinrich von Kleists Dorfrichter Adam (aus dem „Zerbrochenen Krug“, von Reinhardt Friese inszeniert) aus dem Amt gejagt. Hingegen kann der nah verwandte Falstaff, wie er singt und sagt, mit seinem „alten Adam noch pressen so manche süße Frucht“. Auf seine Weise darf er, bezwungen, schließlich triumphieren, gedeckelt zwar, doch nicht gedemütigt, ein Spezialist der Selbstbehauptung, der bei Gregor Dalal den Hausmantel wie einen Herrschermantel trägt und mit der Allongeperücke wie ein barocker Potentat regiert, dem auch ein Zwangsbad in der Kloake die Pracht nicht abwäscht.
Der Sieg freilich gehört den Frauen: starken Frauen. In einem Aufwasch mit dem „Dickwanst“ führen sie auch das übrige Mannsvolk vor. Was sie in ihren gescheiten Köpfen planen, das gelingt, und stets als Spaß. Ob dick, ob dünn, auf selbst ernannte Platzhengste und Deckhirsche haben die meisten Frauen keine Lust, schon gar nicht diese: Ihr „Nein“ – in geträllertem Staccato vielfach wiederholt – heißt Nein. Vielleicht bekämen sie nur gern mal einen Liebesbrief, und wärs vom eigenen Ehemann.
■ Als Grundlage der Rezension diente die dritte Aufführung am 2. Juli.
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.
Die Menschheit - noch zu retten?
Noch nie hat das Publikum des Theaters Hof Bewegungen von solcher Fantastik erlebt wie beim Tanzprojekt „The Terranauts“. Und wohl nie hat es im Studio so frenetisch applaudiert wie nach der Premiere: stehend, johlend. Dabei ist das Thema endzeitlich ernst, wenn auch ein bisschen hoffnungsvoll.
Von Michael Thumser
Hof, 17. Juni – Vor dreißig Jahren scheiterte eines der ehrgeizigsten Experimente der Wissenschaftsgeschichte. Bereits damals fürchteten viele Forscher, dass der Mensch, unbelehrbar beim Verschleudern seiner irdischen Lebensgrundlagen, nicht ewig auf dem Planeten bleiben könne. Also sollte der „Traum von einer zweiten Erde“ auf der ersten probeweise wahr werden, solang noch Zeit war. Am 26. September 1991 zogen darum acht Menschen in ein 17.000 Quadratmeter kolossales Gefüge riesiger Glaskuppeln, -hallen und -gewölbe mit Wäldern und Feldern, Dschungel, Wüste und Minimeer ein. Zwei Jahre lang sollten die „Bionauten“ und „-nautinnen“ dort unter vollständigem Abschluss von der Außenwelt das Leben auf dem blauen Planeten in einer rein künstlichen „Biosphäre“ mit 3800 Tier- und Pflanzenarten simulieren. Es galt herauszufinden, ob sich in erreichbar entfernten Himmelsgegenden Siedlungen errichten ließen, in denen nach der selbst verschuldeten Apokalypse ein paar zur Vernunft gekommene Überlebende der Spezies homo sapiens eine zweite Chance bekommen und sie, aus Erfahrung klüger, nutzen könnten.
Von Forschungsleitern, Fernsehsendern und Legionen von Touristen kontrolliert, belauert und begafft, drohten die Insassen hinter der undurchdringlichen Transparenz der Wände alsbald zu verhungern und zu ersticken; sie verletzten und, vor allem, zerstritten sich heillos. Aber sie hielten durch; obgleich schon nach Wochen feststand, dass der Versuch aussichtslos, sein Ziel einer dauerhaft garantierten Selbstversorgung unerreichbar war. Eine zweite Crew kam nicht einmal so weit. Im September 1994 wurde das nicht zuletzt kommerziell ausgerichtete, allerdings extrem verlustbringende Abenteuer abgebrochen. Zweihundert Millionen Dollar hatte allein der Bau der Anlage verschlungen.
Im Studio des Theaters Hof wird die fesselnde Geschichte seit einer Woche auf sehr eigene, atemberaubende Weise nacherzählt. Hier heißt die Versuchsanlage „Ecosphere“, und aus den „Bionauten“ sind „The Terranauts“ geworden. So hat der US-amerikanische Schriftsteller T. C. Boyle sie genannt. Von seinem gleichnamigen, 2016 erschienenen Roman ließ sich Lilit Hakobyan zu einem Tanzprojekt inspirieren, wie es das Publikum hier bislang nicht zu sehen kriegte; so zügellos wie nach der Premiere applaudierte, pfiff und johlte es im Studio noch nie.
Seit 2011 wirkt Hakobyan in der Compagnie der Staatsoper Hannover mit. Zuvor aber war Hof eine ihrer Stationen, und für ihr erstes eigenes Stück kehrte sie nun an die Saale zurück. Ein exzellent gelungenes Debüt: Zu seinen Vorzügen gehört schon, dass es radikal die Reduktion erprobt. Neben der Choreografie verantwortet die Künstlerin ebenso „Raum und Kostüme“: Bestandteil ihrer unerschöpflichen Einfallskraft ist auch die unaufwändige Uniformität der schwarzen Anzüge, mit denen sie elf der zwölf Tänzerinnen und Tänzer einkleidete; desgleichen die Leere des Spielorts. Das glatte Schwarz von Wänden, Boden, Decke hat sie lediglich durch ein paar Lichtstäbe in Wechselfarben unterbrochen.
fünfzig Minuten für zwei Jahre
Vor allem aber hat Hakobyan die Handlung der Buchvorlage weitestgehend suspendiert. Zwar unterrichten das Programmheft und, in die Vorstellung einführend, Dramaturg Philipp Brammer über die dramatischen Ereignisse; doch wird nur wenig von ihnen offensichtlich. Schon gar nicht setzt Hakobyan das voyeuristische Medienspektakel in Szene, das im Roman das ambitionierte Forschungsunterfangen zu einer Art „Dschungelcamp“ für „Big Brother“-Schaulustige verunstaltet. Doch schlagen derlei Verkürzungen der Produktion nicht zum Nachteil aus. Hakobyan will, wie sie mitteilt, eine Gruppe von Individuen zeigen, „die alle unterschiedlich sind, aber dennoch zusammen etwas schaffen müssen“; mithin geht es ihr vordringlich um die „Dynamik zwischen Menschen“ – allenfalls zur Hälfte um Entschlüsse und Enttäuschungen, um Liebe und Intimität, Verweigerung und Eifersucht im Speziellen, sondern mindestens im selben Maß, ganz allgemein und umfassend, um Abstraktionen der Leibhaftigkeit.
Gerade mal fünfzig Minuten für zwei Jahre erzählter Zeit: Da ist, zuallererst, Tempo gefragt. Spannungsgeladen gibt das Sounddesign Samuel Van Der Veers es vor: Techno-Minimalismus, extrem perkussiv. Die Hochgeschwindigkeit, mit der dazu das aufregend aufgewühlte Ensemble in immer anderen, blitzartig wechselnden Konstellationen, Aufsplitterungen und Verflechtungen seine Märsche, Promenaden und Metamorphosen durchmisst, ist die denkbar höchste. Beim Zuschauen erschließt sich der Unterschied zwischen Eiligkeit und Hektik. Denn durchaus rastlos, aber mit der Präzision von Räderwerken rollt ein frappierend breites Spektrum an automaten-, roboter- und trickfilmhaften moves und Stillständen, Fort-Gängen und Ab-Läufen ab. Mag das Programmheft auch jedem und jeder Tanzenden einen Figurennamen zuweisen – auf der Bühne entwickeln sich die Gestalten nicht zu Charakteren und sollens auch gar nicht. Vielmehr einigen sie sich konform auf chorische Prozessionen oder gehen mit je eigenen Wegen, Prozessen, Eigenschaften auf Distanz oder wagen , in Parteien geschieden, die Konfrontation. Und doch vermittelt sich der Ausdruck, der maschinenartigen Mechanik ungeachtet, nie völlig entmenscht.
Von den abgemessen schwebenden Künsteleien des klassischen Balletts entfernte die Choreografin ihr Ensemble weitestmöglich. Gleichwohl sorgte sie durch wiedererkennbare Bewegungsmuster und Gebärden-Formeln für beziehungsvolle Strukturen. Mit phänomenaler Genauigkeit nutzen die zwölf Mitwirkenden – mit der spektakulären Tania Angelovski in ihrer Mitte – den notgedrungen beschränkten, indes wie grenzenlos sich öffnenden Raum aus. Jeder Augenblick stellt Lilit Hakobyans sprühende Originalität heraus: Immer neue ungewohnte Ideen repräsentiert jeder und jede Einzelne, bis sich der Schwarm bei passender Gelegenheit wieder zur staunenswerten Synchronizität eines unzertrennlichen Trupps, Kommandos, Korps zusammenschließt.
Wer dem „Bio-“ und „Ecosphären“-Experiment glauben will, darf für die überlebensgierige, ausreisewillige Menschheit nicht viel Hoffnung hegen. Dennoch deutet sich, in Momenten der Nähe und Vereinigung, erst recht im stilisierten Schlussbild einer Geburt, so etwas wie Zukunft an. Gesichter begegnen einander nicht sehr oft, dafür spielen Köpfe eine umso bedeutendere Rolle im Umgang der Personen miteinander. Immer wieder tasten sie aneinander Stirnen und Scheitel, Kiefer, Wangenknochen ab, wie überhaupt das systematische Anfassen und Befühlen, das taktile Erkunden des Gegenübers als eins von etlichen Leitmotiven besonders stark hervortritt. Denn auch davon handelt Lilit Hakobyans grandioses Stück, wenn es von der „Dynamik zwischen Menschen“ handelt: dass Leib und Liebe, Eros und Tanz einander begegnen im dauernden Sich-Vergewissern der eigenen Körperlichkeit und der des Nächsten.
Informationen über die Produktion und weitere Aufführungen im Internet: hier lang.
Nur die Starken überleben
Theater ist der „nackte Wahnsinn“. Jungregisseurin Despina Rhaue hat Michael Frayns berühmte Posse mit shakespearescher Dramatik verflochten und führt ihren Musicalclub höchst amüsant auf die freie Wildbahn tückischer Bühnen-Schnepfen, koketter Spielmäuse und präpotenter Kulissengockel.
Von Michael Thumser
Hof, 6. Mai – Alles wie immer: Erst gerät die Regisseurin außer sich, dann resigniert sie wieder. „So muss es auf der Titanic gewesen sein“, ächzt sie und lässt erschöpft den hoffnungslosen Blick über ihre Schauspielerinnen- und Schauspieler schweifen, die sie so wenig bändigen kann, als wärens die panischen Passagiere während einer Schiffskatastrophe.
Tatsächlich droht Untergang mit Mann und Maus. Nur achtzehn Stunden noch, dann soll sich vor der Chaosschar der Vorhang heben für die Premiere von William Shakespeares „Wie es euch gefällt“. Doch nicht mal bei der Generalprobe sitzt der Text bei allen, manche merken sich einfach nicht, wann, wo, wie sie aufzutreten oder abzugehen haben, der Protagonist hat noch ein paar schlaue Vorschläge parat, eine Schäferin bringt Korb und Schaf aus dem Requisitenarsenal hartnäckig durcheinander, zwei eingetopfte Bäumchen erweisen sich als viel zu schwer, um sie zwischen den Kulissen schnell hin und her zu schieben … Und immer diese Revierrangeleien und Vorrangkämpfe, das Imponiergehabe in der Truppe. „Nur der Starke überlebt“: Im Theater gehts „fast“ so tierisch wie auf freier Wildbahn zu.
Wer in „Fast wie es euch gefällt“ Michael Frayns berühmte Posse „Der nackte Wahnsinn“ wiedererkennt, liegt goldrichtig. Spiel im Spiel: Erst scheitert die Probe in Bausch und Bogen, dann, viele Aufführungen nach der – irgendwie wohl doch noch bewerkstelligten – Premiere, machen sich unter den Darstellenden und in der Darstellung Schludrigkeit und Verschleiß aufs Amüsanteste bemerkbar. Für jene im Publikum, die sich ein wenig auskennen in der Bühnenkunst, ein Genuss
Für Despina Rhaue Ausgangspunkt für eine Produktion, mit der sie weit umfänglicher überzeugt als nur durch eine witzig gelungene Regie: Fürs Studio des Theaters Hof, dessen Musicalclub seit 2017 von der hierorts aufgewachsenen Theaterwissenschaftsstudentin geleitet wird, ließ sie sich mit imponierender Ideenfülle und sprudelndem Humor eine eigene, eigenständige Variation zu Frayns Boulevard-Klassiker einfallen. Ein Kraftakt – Hut ab! –, zeichnet doch die junge Künstlerin zugleich für üppige Choreografien und die nutzbringend reduzierte Ausstattung verantwortlich. Immerhin die musikalische Einstudierung – von Hits aus älteren und neueren Musicals sowie von einigen Popsongs (und sogar ein paar Strophen siebenbürgischer Folklore) – nahm Carolin Waltsgott ihr ab.
Lauter lose Enden
Das ‚Eigene‘ der Despina Rhaue beginnt schon damit, dass bei ihr, anders als bei Frayn, nicht irgendein fiktives Stück zu Tode geübt wird, sondern William Shakespeares „Wie es euch gefällt“. Allerdings macht sich, wie so oft bei Englands Spitzenpoeten, die Handlung alles andere als leicht begreiflich. Schon bei der Inhaltsangabe via Video fliegen und flattern zahllose Namen und Hinweise auf Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Aristokraten und Exilanten, auf Missverständnisse und Verkennungen wegen geschlechterwechselnder Verkleidungen, auf Anfänge und Enden von Tricks und Intrigen wild und lose durcheinander.
Viel geht dadurch trotzdem nicht verloren. Entschädigt werden die Zuschauenden durch offenherzigen Wort- und enthemmten Spielwitz im fest zueinander haltenden, reizbar jäh oder leidenschaftlich oder zartfühlend aufeinander reagierenden Ensemble, durch Hitzewallungen und Spontanabkühlungen, weibliche Stutenbissigkeit und Diven-Allüre, durch Anmachereien, Ranschmeißereien und Abblitzereien zwischen den vielen Aktricen und wenigen Akteuren fast durchweg jugendlichen Alters. Es sei, heißt es einmal, „ein bisschen wie in der Schule“ und übertrifft die – unstreitig verdienstvollen – Theaterspielereien an höheren Lehranstalten doch beträchtlich. Rund und ohne Ruckeln dreht sich Rhaues Spielwerk, „fast“ wie auf der großen Profi-Bühne.
„Zack, zack, bumm“ geht der spaßige Wahnsinn vonstatten, ganz so, wie es – im Stück – Regisseurin Anna verlangt: Nadine Hladik, eine kurze Diktatorin mit umso mächtigerem, gleichwohl nicht unverwundbarem Ego. Als müsste sie einen Sack Flöhe hüten: Unter ihrer Fuchtel sollen ein blondes Mäuschen und eine düstere Punklady zur Einheit verschmelzen, ein dummes Huhn, eine Schwärmerin, eine Frustrierte, die ihren Hass auf Shakespeare herauszetert. Über alle Verwerfungen hinweg ordnet sich die Schar immer wieder zu immer neuen impulsiven oder aparten Tanzformationen mit schmetterndem Chor- oder bewegendem Sologesang.
Valium und Whiskey
Inmitten der Überzahl der Damen steht Eva Dollinger gerissen-schlagfertig und nobel-geistvoll als charismatische Rosalinde im Mittelpunkt des Trubels. Bei Shakespeare kriegt sie am Schluss mit Sicherheit Orlando; bei Despina Rhaue vielleicht nur „fast“: Der jugendliche Liebhaber, von Riccardo di Lorenzo mit selbstverliebter Jungmännlichkeit genährt, „sammelt Affären“ reihenweise als „größter Pavian auf dem Hügel“. Oder ist er gar „ein Wolf“? Am Ende indes, in seiner Lieblings-, der Gockelpose als Hahn im Korb, muss er erleben, wie die Frauen ihm vereint die kalte Schulter zeigen.
Schauspielerisch mögen sich unter den Mitwirkenden Ungleichheiten geltend machen, „fast“ keine hingegen im Engagement und in der gespannten Konzentration, in der Ernsthaftig- und Vergnüglichkeit des Auftretens. Alternierend von Aya Masaoka oder Christiane Seidel am Klavier sowie dem zwischen Kontrabass und Gitarre wechselnden Manfred Auer – obendrein leider nur ein Mal, während schattenhaft poetischer Minuten, vom Jungcellisten Jonathan Hoffmann – begleitet, erproben sich oft schöne, teils ohne Not noch etwas scheue Stimmen.
Gegen den nackten (wenn auch mit Renaissance-Kostümen ansehnlich umkleideten) Wahnsinn vor der Premiere, gegen den Überdruss während der 67. Vorstellung können vielleicht „zwei Valium“ und gewiss ein paar Flaschen Whiskey helfen. Freilich erwischt man davon leicht zu viel. „Ich dachte“, stöhnt die Punklady (Nina Gläßer), aus einer Betäubungsmittelbetäubung erwachend, „ich dachte, die Welt geht unter.“ Dabei havariert im Studio nicht mal die Titanic, geschweige der Theaterabend. Wie er „euch“ gefällt? Nicht „fast“. Rundum.
■ Als Grundlage für die Rezension diente die zweite Aufführung am 30. April mit Christiane Seidel am Klavier.
■ Informationen über die Produktion und weitere Aufführungen im Internet: hier lang.
Ein Traum, so schön wie schlimm
Schmelzendes Melos, gemütvolle Herzenssachen: Im Theater Hof lockt Frederick Loewes Musical „Brigadoon” aus der Gegenwart in eine „gesegnete Dorfgemeinschaft" im Schottland der 1740er. Auch die noch recht junge Regisseurin geht zurück: zu einer Spielweise wie vor vierzig, fünfzig Jahren.
Von Michael Thumser
Hof, 2. Mai – Theater ist immer auf Reisen. Oft durchstreift es mit seinen Stoffen die Gegenwart. In die Zukunft macht es sich zwar selten auf. Dafür verweilt es am häufigsten in der Vergangenheit. Im Hofer Haus führen seit gut zwei Wochen Gerhart Hauptmanns „Ratten“ zurück in die Berliner Armut vor dem Ersten Weltkrieg; und in gut zwei Wochen kommt schon der „Zerbrochene Krug“ heraus, Heinrich von Kleists Juristensatire von 1808, die 120 Jahre vorher spielt. In Sachen Zeitreisen ist Theater immer für Wunder gut. Ein Traum.
Im Musical „Brigadoon“ wird solcher Trip durch die Jahrhunderte sogar zum Thema. Tommy und Jeff, zwei Müßiggänger aus dem New York der 1940er, halten sich in Schottland auf, um dort die Highlands zu durchstreifen. Aber sie verirren sich im Nebel von Raum und Zeit. Mysteriös tun sich vor ihnen ein verwunschenes Dorf und die 1740er-Jahre auf. Eben noch hat Tommy dem Freund von seiner bevorstehenden Heirat erzählt wie von einer Mauer, an der er sich einen blutigen Kopf zu holen fürchtet – da geraten er und Jeff in ein braves „Bauernkaff“, wo die Leute fortwährend „Aye“ statt „Ja“ sagen, und mitten hinein in Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande samt Trauung und anschließender Geselligkeit. All die Feierei nutzen Ballett und Chor für possierlich ausgelassene Tanzvergnügen und erbauliche oder beschwingte Lieder (Choreografie: Barbara Buser, Choreinstudierung: Lucia Birzer). Umgeben von so viel Zauber, Lebenslust und -fülle begegnet Tommy der Liebe seines Lebens und Jeff der Gewissensnot. Zuneigung, so erfahren die Freunde, kann als Manie auch tödlich in die Irre gehen und der Abschied aus der Anderwelt die Herzen brechen.
Inselfolklore
Als „Erstaufführung der neuen deutschen Fassung von Roman Hinze“ firmierte am Samstag die Premiere der Rarität und kam prima an. Teils stehend jubelte das Publikum dem vielköpfigen Bühnenensemble, dem Dirigenten und dem Regieteam um Sandra Wissmann zu. Mag sein, dass Frederick Loewes Musik von 1947 noch nicht an die humoristisch-sentimentale Brillanz seines neun Jahre später triumphierenden Meisterwerks „My Fair Lady“ heranreicht; gleichwohl gewinnt Michael Falk am Pult den kultiviert anpassungsfähigen Symphonikern viele leidenschaftliche, leichtsinnige und poetische Farben schöner Überschwänglichkeit ab, dazu über Bordunquinten einen Beiton britischer Inselfolklore, der sich die US-amerikanische Musik ja zu einem guten Teil verdankt. Immer frisch klingt das. Und ist nicht von gestern.
Auch Sandra Wissmann ist das nicht. Mit ihrer Regie bei „María de Buenos Aires”, Astor Piazzollas eigentümlicher „Tango-Operita“ aus dem Jahr 1968, hat die heute 43-jährige und also noch recht junge Theaterfrau 2022 in Hof Einfallskraft bewiesen. Heuer hielt sie sich damit zurück. Ihren neuen Stoff nahm sie explizit beim Wort, reist doch ihre Inszenierung, wie Jeff und Tommy, in der Zeit zurück: So wie jetzt hätte „Brigadoon“ auch vor vierzig, fünfzig Jahren über die Bühne des alten Hauses in der Schützenstraße gehen können. Zu temperamentvollen Tableaus und passionierten Posen formiert sie die Figuren. Die Bühne dafür verbrämte Ausstatterin Annette Mahlendorf zum pittoresken Genrebild einer „überaus gesegneten“ Dorfgemeinschaft von unverbildet-ursprünglichen Selbstversorgern und Tauschhändlern in rustikalen Textilien, Tartans und Kilts mit Karos in mancherlei Clanfarben. „Aye“, ach ja: Diesen „Traum“, dies „Wunder“-Märchen darf man oldschool nennen, was sowohl hergebracht, retro, traditionsbewusst bedeutet als auch gestrig, überholt, verstaubt. „Old-fashioned“, altmodisch – das böse Wort fällt sogar auf der Bühne.
Vorvorgestern
Anachronistisch ist freilich auch der Lebenstraum, dem Tommy beim Aufenthalt in der magischen Gemeinde verfällt: Thilo Andersson in seiner ersten großen Hauptrolle seit Langem wünscht sich mit melancholisch sanftem Charme und sprechend warmem Bariton fort aus der umtriebigen Überzivilisation seines bisherigen Daseins. Kurzzeitig aus Schottland nach New York zurückgekehrt, schickt er seine dortige Verlobte (Yvonne Prentki) dankend in die Wüste – „Du warst wirklich nett zu mir“ –, um neuerlich und jetzt für immer ins bauernbiedere Naturreich des transatlantischen Vorvorgestern durchzubrennen. Weiß er doch, dass in jener heilen Welt und ihrer guten alten Zeit die anmutige Fiona ihn ersehnt: Cornelia Löhr, züchtig und keusch, doch keineswegs unnahbar oder zugeknöpft, quinkeliert in einer Partie, die für sie womöglich eine Spur zu hoch liegt; ihre ungebrochen einsatzbereite Stimme greift das indes nicht an.
Kein Backfisch ist die Hübsche mehr und ihr Goldschatz kein jugendlicher Held. Mit nicht unbedeutendem Vorsprung an Reife heben die beiden veredelnd die Herzensangelegenheiten in den Hochland-Himmel, denen sich das Brautpaar Jean und Charlie umso bodenständiger hingibt: Sarah Kornfeld als verknallte Unschuld vom Lande, Jannik Harneit als sympathischer Draufgänger hell tönend und in hellen Flammen. Auch die dralle, nicht ganz stubenreine Magd Meg – Judith Bloch, atemlos burschikos – gehört in jene Sphäre unbedarfter Naivität. Dem pragmatischen Jeff (Markus Gruber, kein Kasper, sondern eine komische Stimme der Vernunft) kommt sie mit ganzkörperlichen Angeboten entgegen, die er nicht ausschlagen mag – bis das Traumland Brigadoon sich für ihn in einen Albtraum verkehrt: Am Tod des Hitzkopfs Harry (Tamás Mester), der als Jeans abgewiesener Bewerber „unbedingt jeden hassen“ musste, fühlt er sich schuldig. Die Begräbnismusik der Symphoniker aus dem Grab des Grabens, apokalyptisch wie von einer Posaune des Jüngsten Gerichts auf die Spitze getrieben durch markerschütterndes Getröte aus Wolfgang Goldbachs Dudelsack, ist für ihn zugleich Rückzugssignal: Er kehrt nicht wieder, er kann nicht bleiben.
Kann Theater, das notorisch zeitreisende, so bleiben: so aus der Zeit gefallen? Kann man guten Gewissens Gefallen finden, heute, an einem Musical von der Art des Hofer „Brigadoon“? „Aye“, man kann. Soll Theater ‚für immer‘ dorthin zurückkehren, so wie Tommy in den Weiler der Wunder? Bitte nicht.
Informationen über die Produktion und weitere Aufführungen im Internet: hier lang.
Welches Leben ist das echte?
Mit stehenden Ovationen feiert das Premierenpublikum im Theater Hof die Uraufführung des Ballett-Musicals „Der Soldat und die Tänzerin“. Die Produktion, ein Auftrags- und Eigenwerk des Hauses, beeindruckt mit Bildern wie aus dem Zauberkasten des Kinos.
Von Michael Thumser
Hof, 21. März – Vor dem Tod hat ihm sein Leben lang gegraut, anders aber als den meisten. Nichts, heißt es, fürchtete Hans Christian Andersen mehr als lebendig begraben zu werden; was ihn veranlasste, allabendlich, bevor er sich zum Schlummern legte, auf dem Nachtkasten neben seinem Bett ein Zettelchen zu platzieren, mit der Aufschrift: „Ich bin nur scheintot!“ Richtig entschlafen ist er schließlich doch, wies auch allen andern widerfährt, am 4. August 1875, mit siebzig Jahren, in Kopenhagen, der Hauptstadt Dänemarks, als dessen Nationaldichter er damals galt und weiter gilt.
In Hof lebt er noch einmal auf, achtzig Minuten lang, und allerdings auch hier nur, um zu sterben. Seit Samstag widmet ihm das Theater eine Art Ballett-Musical für einen Sänger, Tanzcompagnie, unsichtbaren Chor und Orchester. Als Auftragswerk entstand das Stück, für das Intendant Reinhardt Friese originale Texte des Poeten zusammengestellt und Martyn Jacques von der britischen Vaudeville-Band „The Tiger Lillies“ sowohl die Songtexte beigesteuert als auch die Musik entworfen hat. Michael Falk, der die Uraufführung am Pult der Symphoniker straff und gefühlvoll leitet, instrumentierte die Vorlagen mit viel Geschick und Geschmack und arbeitete sie zu einer achtbar aufführbaren Fassung aus. Das Ganze kann sich sehen und hören lassen: Zum Applaus nach der Premiere stand das Publikum komplett auf.
Wuchernde Traumwelt
Zum Sehen, vor allem, lädt die Produktion ein. Als Augenlust so recht zum Staunen taugt sie namentlich durch die grafischen Entwürfe von Olga Dugina und Andrej Dugin, einem Künstlerehepaar, das seine Fantasie und Fantastik auch schon den Set-Designs der „Harry Potter“-Filme beigesteuert hat. Für Hof ließen sie sich eine zauberisch wuchernde Traumwelt einfallen, um die Reise des „Standhaften Zinnsoldaten“ aus Andersens berühmtem Märchen zu illustrieren: Im magisch auseinandergebreiteten Raum eines Kinderzimmers, wo Fisch und Schiff, Vogelbauer und sogar eine Guillotine blühen, beginnt die Reise des furchtlosen, indes zu kurz gekommenen Kriegers – bekanntlich fehlt dem Bedauernswerten ein Bein –, der sich unsterblich, doch umsonst in die Ballerina aus einer Spieldose verschaut.
Plastische Szenerien von Ausstatterin Annette Mahlendorf und Bewegtbilder auf dem Rückprospekt der Bühne, von Kilian Görl und Kristoffer Keudel animiert, entwerfen in der Folge spektakulär die Schauplätze einer Gegenwelt für eine Fahrt in Abgrund und Untergang. Vor einem verrammelten Haustor setzt – grandioser Eindruck – eine Riesenhand von oben den Zinnsoldaten in ein Papierschiffchen. Guter Dinge treibt er darin aus der Gosse in die Kanalisation, wo – Haupteffekt der an aufwändigen Attraktionen nicht armen Aufführung – eine Rasselbande von Ratten vor ihrem riesenhaften, glutäugigen Regenten ein niedlich-ekliges Ballett aufführt; ganz schön schaurig: Vorsichtshalber hat das Theater auf seiner Website die Triggerwarnung „Ab 16 Jahren“ platziert. Schließlich langt der amputierte Krieger – Ali San Uzer, mit allen Gliedern, auch dem vorgeblich fehlenden (darum schwarz eingehüllten) Bein, sehr belastbar und gelenkig – in einer von schauerlichen Tiefseekreaturen bevölkerten Unterwasserlandschaft an; um am Ende, zurück in der Kinderstube, vor einem lodernden XXL-Kamin halb zärtlich-zierlich, halb taumelnd-stürzend Abschied von der unerreichbaren Geliebten zu nehmen: Tania Angelovski, bei imposanter Körperspannung ausgiebig auf Spitze tanzend, gleitet, schwebt und gaukelt wie ein Wolke im gleißenden Weiß ihres Tutus.
Eine Reise ins Innerste
Kein Märchenstück ist die von Barbara Buser (nicht gleichmäßig originell) choreografierte Bilderfolge; sondern die Expedition in ein Innerstes, Sinnsuche, Identitäts-Ermittlung. Vor der Bühne als magischem Bezirk hat die Ausstatterin nüchtern-realistisch ein ärmliches Sterbezimmer wie das Durcheinander eines Speichers hergerichtet. Hier zagt und zürnt Hans Christian Andersen höchstselbst seinem letzten Atemzug entgegen. „Ein Irrer - ein Verliebter - ein Poet“, die „Nase lang wie ein Kanonenrohr“: Seiner abschätzigen Selbstbeschreibung folgend, gibt Christian Venzke, in Nachthemd und langen Unterhosen, die „einsame Vogelscheuche“ gebrochen, entmutigt, lebensmüde. Eine Morphium-Injektion gönnt er sich noch: die letzte Dosis? Ist sie zu stark?, fragt er. Und erhält Antwort von einem unverhofften Gast: „Die Dosis ist immer richtig.“
Ein Horrorclown mit der weißgeschminkten Fratze des Gevatters Tod sucht ihn nämlich heim. Wäre Andersen der Doktor Faust, ginge die Schreckgestalt gut als Mephisto durch. Andrea Matthias Pagani intoniert seine Songs denn auch mit diabolisch geölter, gelegentlich herausfordernd knarrender Stimme. Als the mad man in the curtain – der verrückte Mann im Vorhang – kommt ausschließlich er in diesem Musical zum Singen. Dabei wäre dem einheimischen Publikum noch zu erklären, warum in einem deutschen Musical ausschließlich auf Englisch gesungen wird (ohne übersetzende Übertitel). Ganz ausgesprochen ein Ärgernis; es ist nicht das erste dieser Art in diesem Haus.
Es reicht nicht zur Unsterblichkeit
So „verrückt“ ist der Todesbote, Lebens- oder Theatergeist indes gar nicht und, trotz der Fremdsprachigkeit, kein Fremder. Seine aufreizende Aufwartung macht er dem Poeten, um mit ihm Bilanz zu ziehen: „Wer bist du“, will er (sich enervierend wiederholend) von dem Sterbensmüden wissen. Nun ist freilich noch selten was Ordentliches daraus geworden, wenn Musicals philosophisch werden wollten; auch in der Hofer Eigenproduktion mag sich der beschworene Tiefsinn nicht recht einstellen. Stattdessen macht sich Pathos breit, in „hoher Dosis“. Verständlich wird immerhin, für wie verwandt der Märchenautor sich mit dem unvollständig-fehlerhaften Zinnsoldaten fühlt: als minderwertig, Ausschussware. Im Grund wollte er nie Geschichten schreiben, zog es ihn doch zeitlebens tanzend, spielend auf die Bühne; nur dass es ihm dafür an „Genie“ und Grazie gebrach. Theater und Literatur, „Poesie, Kunst“ – für den vermeintlich mangelhaften Meister aus der Sphäre der Fiktionen stellt sich die Frage: Welches Leben ist „das echte“? Andersen, so glaubt er selbst, war „nicht genug“ für die „Unsterblichkeit“.
Die Musik hingegen feiert ihn anders: badet ihn in gefälliger Schönheit als einen Großen aus dem Reich der Fantasie. Da klingt sie nach Brahms’ erster Symphonie und dort nach der fünften von Sibelius, einmal nach Tschaikowskys „Nussknacker“, ein andermal (und heimlich) nach der Alpensymphonie von Richard Strauss; und allemal verdankt sie sich, was nicht von Nachteil ist, dem Stimmungsspektrum großer Vorbilder aus der US-Filmmusik, wenn Michael Falk, das Orchester und der aus dem Off kernig sich einmischende Chor sie farben- und abwechslungsreich entfalten.
Solcherart erhoben, schreitet Andersen in der allerletzten Szene dem Trost des Grabs entgegen. Gleichwohl geht sein Drogentraum so wenig gut aus wie seine Mär vom tapferen Zinnsoldaten. „No happy ending“, hat noch kurz zuvor der unbequeme Eindringling in des Dichters Sterbestube desillusionierend festgelegt. Ein Buch, jenes Medium, darin der Poet sein Leben, seine Leben barg, geht zwischen mad man’s Händen in Flammen auf. Auf dem Nachtkasten neben Andersens Bett ist kein Zettel zu sehen.
Informationen über die Produktion und weitere Aufführungen im Internet: hier lang.
Der Preis des Handelns
Indem das Theater Hof Flagge gegen Rassismus und Totalitarismus zeigt, glückt ihm zugleich ambitioniert ein beachtenswertes Experiment: Als letzten Teil seines Zyklus „Wider das Vergessen“ zeigt es im Studio die erste der beiden „Weiße Rose“-Opern Udo Zimmermanns, von Lothar Krause aufwändig rekonstruiert und eindrucksvoll inszeniert.
Von Michael Thumser
Hof, 2. März – Sechs Flugblätter in neun Monaten – das scheint nicht viel; und ist unendlich viel mehr, als sich die überwältigende schweigende oder mitlaufende Mehrheit im Lande herausnahm. In Formulierungen, deren kühne Unmissverständlichkeit noch heute beeindruckt und sogar erschreckt, warnten die studentischen Widerständler der „Weißen Rose“ 1942 und 1943 ihr einst „christliches und abendländisches“, nun „unwürdig“, weil widerstandslos gewordenes „Kulturvolk“ vor dem Teufelspakt der Nationalsozialisten und vor der „Schmach, die über uns und unsere Kinder kommen wird, wenn einst der Schleier von unseren Augen gefallen ist“. Eine „Welle des Aufruhrs“ könnte zwar das „System abschütteln“, heißt es in den hektografierten Schriften, aber „wieder schläft das deutsche Volk in seinem stumpfen, blöden Schlaf weiter“. So lassen die Deutschen es zu, dass eine kriegslüsterne und massenmordgierige braune „Herrenclique“ weiterhin „grauenvollste“, „scheußlichste“, „menschenunwürdigste“ Verbrechen begeht, die „jedes Maß überschreiten“: die „bestialische“ Ermordung Hunderttausender Juden; die Fortführung eines imperialistischen, „sinn- und aussichtslosen“ Angriffskriegs; die „Versklavung“ von Geist und Wirtschaft; die „Zerstörung aller sittlichen und religiösen Werte“. Für Adolf Hitler, „den Boten des Antichristen“, und „seine Anhänger gibt es auf dieser Erde keine Strafe, die ihren Taten gerecht wäre“.
Am 18. Februar 1943 flatterten in der Münchner Universität die letzten der Flugblätter vom zweiten Stock des Hauptgebäudes aus über die Brüstung in den Lichthof. Im Theater Hof, fast auf den Tag achtzig Jahre später, flattern sie auch: von einer Beleuchterbrücke hinab ins vollbesetzte Studio. Dort wohnte das Publikum am Samstag dicht gedrängt einem hymnischen Gedenken, einer Art Requiem für die Dissidentengruppe um Hans und Sophie Scholl bei. In acht „Bildern“ geleitet Udo Zimmermanns Oper das tapfere Geschwisterpaar durch ihr Innerstes während der letzten Stunden vor ihrem Tod unterm Fallbeil; in sieben „Rückblenden“ beleuchtet sie das „Ringen“ und den „Kampf“ der jungen Akademiker und ihrer Gefährten um ein anderes, besseres, sich erneuerndes Deutschland. Nach dem letzten Licht, der letzten Dunkelheit der Premiere schwiegen die Besucherinnen und Besucher lange; und applaudierten endlich noch viel länger. Der wichtigen und gewichtigen, anspruchsvollen und intensiven Vorstellung galt der Beifall; und wohl nicht minder dem Mut der historischen Gestalten, die den Zuschauenden von heute „nahebleiben“ sollen „wie Bekannte“.
Zwei Mal schrieb der Komponist ein Bühnenwerk, dem er den Titel der berühmten, nur scheinbar gescheiterten Widerstandsgruppe aufprägte. Das Hofer Haus zeigt nicht etwa die oft gespielte, ausschließlich introspektive Version von 1986, sondern das Erstlingswerk, das Zimmermann mit 24 Jahren als ehrgeiziger Student 1968 abschloss und das, dem Programmheft zufolge, „wahrscheinlich seit 1972 gar nicht mehr aufgeführt wurde“. Umständlich hat Regisseur Lothar Krause die Urfassung rekonstruiert. Das im Original vorgesehene große Orchester verkleinerte für ihn Arno Waschk plausibel zur Minimalbesetzung: Vom Klavier aus leitet David Preil die Aufführung und hat den Akkordeonisten Harald Oeler sowie (am Samstag) Stephan Salewski am Schlagwerk bei sich.
Zu dritt musizieren sie, gleichfalls dicht beieinander, vor Wänden, auf denen altertümliche Schreibmaschinenschrift in dichten Zeilen Auszüge aus den Flugblättern der humanistischen Abweichler aufrüttelnd wiedergibt: „Wände, an denen das Licht gefriert“. Dem Ensemble hat Ausstatterin Annette Mahlendorf als Spielraum keine Bühne eingeräumt, sondern nur einen papierbedeckten Steg – einen Weg: den zur Tat; zugleich den Weg in die Todeszelle, den die Scholls, als arg hohen „Preis des Handelns“, bang, aber gefasst auf sich nehmen. Mit Kreide schreibt die Hofer Sophie das Wort Freiheit an eine schwarze Kerkermauer, in eben der Weise, wie vor achtzig Jahren die wirkliche Sophie Scholl es auf ihre Ausfertigung der Anklageschrift kalligrafiert hat. Im Studio sehen ihre Riesenlettern aus wie ein Menetekel gegen die Tyrannen.
Für die Zeit verloren
Überhaupt überwiegt das Zeichenhafte in Lothar Krauses Inszenierung. Nur zum Teil entwarf er sie als Erzähltheater: In solchen Episoden gruppiert er Markus Gruber und Thilo Andersson, Michał Rudzínski und Hans Peter Pollmer um das Protagonistenpaar zur tragisch verschworenen Gemeinschaft; die vier spielen, sprechen und singen Christoph Probst (der wie die Scholls noch am Tag ihrer Verurteilung am 22. Februar 1943 enthauptet wurde) und Alexander Schmorell, Willi Graf und den Professor Kurt Huber. Den anderen Teil der Szenen transzendierte der Regisseur zu statischen Momenten der Kontemplation, in denen Hans und Sophie ganz bei sich allein und wie für die Zeit verloren sind. Beide Spielweisen gemahnen an das Leiden Abertausender unter totalitären Regimen in Europa und der Welt.
Sich frei zu machen und zu entfalten, wird den Stimmen allerdings nicht leicht gemacht. Gerade mal fünf pausenlose Viertelstunden dauert die personenreiche Produktion; in räumlicher Enge, die als absichtsvolle Metapher sowohl für Intimität wie für Bedrängung durchaus taugt, findet sie statt. Umso bewundernswerter, dass sich fast alle Darstellenden mit ihren Rollen Gehör und Bedeutung verschaffen können, allen voran die Scholls: der jung–frauliche, resignierte, aber nie gebrochene Sopran Yvonne Prentkis und Marian Müller mit den Konturen seines viril artikulierenden Baritons.
Hans hat in Russland, wo die SS willkürlich Juden massakriert, „sehen gelernt“; eine jüdische Frau (Stefanie Rhaue), der er voll entsetzten Mitleids ein Stück Brot reichen will, wirft ihm, dem deutschen „Mörder“, die Gabe vor die Füße wie ein vergälltes, vergiftetes Gnadenbrot. Sophie beobachtet als Pflegerin in einem Heim, wie geistig gehandicapte Kinder zur „Euthanasie“ abtransportiert werden – angstschlotternd lässt der Oberarzt (Christiane Seidel) es zu; die schwarze Augenmaske, die allen Vollstreckern das menschliche Gesicht verschalt, trägt auch er, bekennend, dass der Tod „meiner Kinder“ ihm „zum Gericht“ werden muss.
Personifikationen einer heroischen Haltung
Dass aus ihm und den anderen, auch aus Sophie und Hans, Menschen aus Fleisch und Blut nicht recht werden wollen, liegt vor allem, wenngleich nicht allein, im Stück begründet. Den Figuren verordnete die Regie ausschließlich abstrahierte, planmäßig abgemessene Bewegungen und Posituren, die Lothar Krause sehr genau auf die Ereignisse und Verschwiegenheiten der herb-suggestiven Musik berechnet hat. Indes kommt solche Formelhaftigkeit nicht zuletzt den Protagonisten in die Quere: Als Vorbilder zwar, als Konzepte eines Ideals, Schemata einer heroischen Haltung bieten sie sich dar, wachsen aber kaum zu organischen Lebewesen heran. Daran hindert sie nicht minder das Textbuch (von Udo Zimmermanns Bruder Ingo) durch seinen pathetisch feierlichen, angestrengt lyrischen Ton.
Ihre solcherart exponierte Moral- und Prinzipientreue ist freilich aller Ehren wert, insofern die Oper und ihre Hofer Deutung mit demonstrativer Deutlichkeit eine Botschaft kundgibt, die keinen vernünftigen Widerspruch kennen kann: eine Botschaft der Selbstbestimmung und unantastbaren Würde, des allgemeinen Menschenrechts und der persönlichen Integrität. „Wir müssen ein Zeichen setzen“, singen in einem beeindruckenden Quintett die Widerständler unter der Signatur der weißen Rose, die ihre „reine Gesinnung“ symbolisiert. Das von ihnen gesetzte „Zeichen“ ist, mehr noch als die sechs Flugblätter in neun Monaten, ihre unwandelbare Bereitschaft, für das Richtige im Falschen den eigenen Tod zu riskieren. „Deutsche! Wollt Ihr und Eure Kinder dasselbe Schicksal erleiden, das den Juden widerfahren ist? Wollt Ihr mit dem gleichen Maße gemessen werden wie Eure Verführer?“, fragten sie vor achtzig Jahren. Und sie fordern heute: „Entscheidet Euch, ehe es zu spät ist.“
■ Informationen über die Produktion und weitere Aufführungen im Internet: hier lang.
■ „Weiße Rose. Der Widerstand von Studenten gegen Hitler, München 1942/43“: Unter diesem Titel zeigt das Theater Hof als Ergänzung zur Oper bis zum 15. April im unteren Foyer eine Ausstellung über die Entstehungsgeschichte der Widerstandsgruppe, ihre Aktionen, die Verbindungen zu anderen Oppositionellen sowie ihre Verfolgung und Verurteilung durch die NS-Justiz. Schulklassen können sie auf Anfrage beim Jungen Theater auch außerhalb der Vorstellungen besichtigen. (Mit freundlicher Genehmigung der Weiße Rose Stiftung e.V.)
■ Die Widerstandsgruppe ausführlich im Internet: hier lang.
Ein Tanz um das goldene Ei
Wieder feiert die Compagnie des Theaters Hof beim Publikum Triumphe – diesmal mit berühmten Balletten von Igor Strawinsky. Torsten Händlers Choreografien hüllen den „Feuervogel“ in weiche Tücher und erzählen den „Petruschka“ neu: politisch einwandfrei.
Von Michael Thumser
Hof, 24. Januar – Längst gibt es in den Süßwarenregalen keine „Mohrenköpfe“ mehr zu kaufen, in Coburg verstummen die Stimmen nicht, die den „Mohren“ aus dem Stadtwappen und einer Apotheken-Leuchtschrift tilgen wollen, und während der gegenwärtigen Faschingssession als „Neger“ zu gehen, geht schon gar nicht. Wie also in einem Tanzstück, in dem ein schwarzer Mann eine wichtige, noch dazu zwielichtige Rolle spielt, umgehen mit der Rolle? Im Theater Hof, wo seit der frenetisch bejubelten Premiere am Samstag Igor Strawinskys Ballett „Petruschka“ zu sehen ist, hat der Mohr, Gegenspieler des Titelhelden, seine sprichwörtliche Schuldigkeit getan: Er kann gehen. Genauer: Er tritt gar nicht erst auf.
Folglich muss Torsten Händler in seiner Choreografie die altbekannte Geschichte von der russischen Kaspermarionette, der vergebens angebeteten Puppen-Ballerina und dem siegreichen Nebenbuhler neu erzählen. Er tut es nicht sehr anders. Auch seine Version spielt vor gut hundert Jahren unter vergnügungslustigen Proletariern in spärlichen Kleidchen, Hemdsärmeln, Hosenträgern; doch das politisch Unkorrekte hat er eliminiert, indem er Petruschkas Kontrahenten zu einem veritablen weißen Stenz zurechtstutzte. In der Premiere gab ihn David Santos Ollero als siegesgewissen Pomadenheini in Nadelstreifen mit der Arroganz einer betont provokanten Körpersprache. Willig kommt ihm der flatterhafte Leichtsinn Naila Fiols entgegen: Als naive Tanzmaus erliegt sie binnen Kurzem seinen handgreiflichen Avancen. Und der unheldisch verzagte Titelheld – bei Denison Silva liebenswert kampfunfähig – hat dem Lackaffen nichts entgegenzusetzen als eine bedauernswürdige Leidensfähigkeit. Sobald er die Ballerina umwirbt, drängt sie ihn voll Abscheu von sich.
Castingshow vorm Varieté
Trotzdem hat der Choreograf nicht alle Puppenmotivik annulliert. Zwar, wie im Original-Libretto, auf einem kleinbürgerlichen Jahrmarkt siedelt er die Handlung an, verwandelt sie jedoch in der Ausstattung von Annette Mahlendorf in eine Art Castingshow vor dem Kleinvarieté eines undurchsichtigen Schaubudenbesitzers. Und der – bei Ali San Uzer, fast spinnengliedrig, ein gespenstischer, wenn nicht teuflischer Strippenzieher – lässt dann doch die Menschen wie Puppen tanzen, mit unwiderstehlich beschwörender Befehlsgewalt. Namentlich auf den zwei Ebenen eines Gerüsts zappeln sie, auf dem sich die Körper in Nabelhöhe zu zerteilen scheinen: Trippelnd, schreitend und abhebend sortieren sich obere und untere Hälften aufs Paradoxeste neu.
Überhaupt hat Torsten Händler die vital ausdauernde, ästhetisch wie sportlich exzellente Compagnie zu beeindruckend ungewöhnlichen Bildern und Sequenzen angeleitet, nicht zuletzt in den oft stupend einfallsreichen Zweier- und Gruppenszenen. Wiederholt staffelt seine Choreografie Haupthandlung und Nebenepisoden in mehreren durchinszenierten Ebenen hintereinander. Vom klassischen Tanz ausgehend, mischen sich die Expressivkräfte der topfitten Damen und Herren mit vielerlei, auch immer wieder unerwarteten Mitteln moderner Motorik. Die breiten sich nicht auf, aber immerhin vor und über dem Kirmestheaterchen aus, dessen Bühnenportal (wenn mans so nennen will) sich gefräßig wie ein aufgerissener Satansmund öffnet, als verschlänge es das Menschengewimmel vor sich im nächsten Augenblick.
Völlig losgelöst
Gleich zu Beginn, als integrierendes stummes Vorspiel zur dann umso klangvolleren Aufführung, ereignet sich jener kuriose Marionettentanz der halben, völlig losgelösten Leiber, vor dem „Feuervogel“, der in ganz anderer Weise den Auftakt vor dem neorussisch tönenden „Petruschka“ macht. Auch diese Meisterpartitur Igor Strawinskys übersetzt der Choreograf in ein Erzählballett, doch hier wie dort umgeht er die Gefahr, narrativen Ausdruck aus den übertriebenen Putzigkeiten einer kindertheatralen Gebärdensprache zu gewinnen, wie sie bei solcherart Pantomimen schnell peinlich wird. Vielmehr weicht Händler dem Stofflichen, nach einigen erhellenden Andeutungen, stets ins Symbolische aus. So läuft das Geschehen oben auf der Bühne fugenlos mit der Musik von unten zusammen. Dort, im Graben, lenkt Ivo Hentschel die Hofer Symphoniker zu konzertsaalreifem Musizieren: im „Petruschka“ zu rhythmisch-variabler Nimmermüdigkeit, zuvor, im „Feuervogel“, zu den Nuancen eines ausgetüftelten Impressionismus und seiner subtilen Koloristik.
Aus Farben und aus Licht besteht hier auch das Szenenbild auf der weiten, freien Bühne, vor allem aber aus mehreren Tiefenschichten bühnenhimmelhoher Vorhänge und ihrer lang fallenden Falten in Anthrazit und Weiß. Einmal, nicht für lange, schwebt ein übergroßes goldenes Ei hernieder, als kaum zu entschlüsselnde, aber eindrucksvolle Chiffre. Umso einleuchtender teilt sich das Personal des Stückes auf: wiederum in Grauschwarz, für die willenlos Gefangenen, die der angeblich unsterbliche Kastschej sich in seinem Zauberreich des Bösen dienstbar gemacht hat; und in Weiß, für das Liebespaar, nämlich den jugendlich lebenskräftigen Filippo Italiano als Zarewitsch und Tania Angelovski, die durch mädchenhafte Munterkeit die Zarewna stets aufs Neue stimuliert. Ihre Beschwingtheit vervielfacht sich sogar, etwa in ihrem ausgelassenen Reigen mit den Damen Bartolini, Imagawa und Runfola. So unsterblich kann das Böse also gar nicht sein.
Radikale Dämonie
Und doch: Schwarz – auch für den Zauberer selbst. Kein Schritt ist für Denis Mehmeti zu weit, kein Recken und Strecken, Spreizen und Rudern der Arme zu wuchtig, um die Bühne mit der radikalen Dämonie des Scheusals zu fluten; dem Tänzer verdanken sich die unausweichlichsten Wirkungen des Abends. Flammendes Rotorange hingegen für den Feuervogel: Ohne Flügel und Gefieder, aber doch seltsam erdenthoben, voll souveräner Grandezza gleitet Irene Garcia Torres einher und führt das Wort ‚federleicht‘ zurück auf seine Urbedeutung. Hoch und überschlank, in Profil und Körperkontur scharf gezeichnet, bewegt sie sich zwar primaballerinenhaft „auf Spitze“, gleichwohl auffällig zwischen den Geschlechtern: ein Wesen wundersamer Vagheit. Durch das weiche, asymmetrisch wallende Tuch ihres feuerfarbigen Hosenanzugs mischt sich Torres in die textile Instabilität des Ambientes, in die Händler und Mahlendorf das Märchen und seine Magie sinnreich einbetteten.
Hier, wo alles immateriell zu fließen und ungreifbar zu wehen scheint, kann zum Tanz auch der Stillstand gehören, zur dynamischen Aktion die Unterbrechung, zur entfesselten Spannkraft der ruhige Aufenthalt. Irritierend lang halten Zarewitsch und Zarewna sich am Ende eng umschlungen, nicht gelähmt, doch reglos. Vom Himmel tanzt allein goldener Flitter nieder; dagegen ist der gierige Menschenfressermund des schäbigen Varietés ganz in die Unsichtbarkeit verbannt. Ein Schlussbild der Erfüllung: Für sie brauchts nicht mal einen Kuss.
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22.000 Liebesbriefe
Paris zu jeder Jahreszeit: Im Theater Hof flaniert Schauspieler Dominique Bals als entspannter Touristenführer und begabter Chansonnier über Boulevards und Plätze der Hauptstadt und bekennt: Die Seine-Metropole ist „mon amour“.
Von Michael Thumser
Hof, 24. Dezember – Geheiratet hatte er eine andere. Aber die Frau seines Lebens war und blieb für Victor Hugo, den französischen Großschriftsteller, Juliette Drouet. 1833, mit 31 Jahren, lernte er die Schauspielerin kennen und blieb ihr fünfzig Jahre lang im Herzen und auch geografisch nah: Nie wohnten die beiden in Paris weiter als fünfhundert Meter entfernt voneinander. 22.000 Liebesbriefe, erzählt Dominique Bals, habe die Muse dem Dichter geschrieben: stapelweise Zeugnisse einer unauflöslichen Verbundenheit.
Verächter, sagt Bals, hätten Paris als „alternde Prostituierte“ diffamiert, als „Moloch“ unter einer Kruste aus „Hundedreck“. Sich selbst rechnet der Schauspieler zur anderen Fraktion: Er ist verrückt nach Paris, seit er es in den Achtzigern erstmals bereist hat, und könnte, wiewohl in Duisburg geboren, genauso gut Franzose sein; zumindest während seiner Ein-Mann-Show im Theater Hof, mit der er bekennt: „Paris, mon amour!“ In der Schürze und mit dem Charme eines gutgelaunten Kellners bedient er im (von Annette Mahlendorf stimmungsvoll ausgestatteten) Studio seine beflügelt applaudierenden Gäste, die es sich vor einer Café-Fassade, zwischen impressionistischen Malereien, auf Bistrostühlen an Tischchen gemütlich machen und Wein, Bier oder Saft genießen – Ausschnitt eines idealisierten Montmartre. Begeistert vom genius loci versorgt Bals sie mit Schwärmereien, Erinnerungen, Informationen: Sein Paris ist „von Ost nach West sandgestrahlt“, der Hundedreck abgekratzt, der Flaneur gegen den pausenlosen Autoverkehr in sein altes Recht gesetzt. Bals liebt Paris „zu jeder Jahreszeit“, für ihn ist Paris „die Stadt der Liebe“. Dass er damit ein Riesenklischee bedient, belastet ihn nicht: In ‚seiner‘ Stadt gehen Kitsch und Kultur ineinander auf.
Auf dem „Platz des alten Verführers“
Als subjektiver, glaubwürdiger, herzhafter Erzähler geht er mit seiner Besucherschar auf Tuchfühlung. Im Geiste führt er sie mit ungeduldigem Bewegungsdrang, ja komödiantischem Körpereinsatz berühmte Boulevards und abseitige Straßen entlang, lenkt sie über die Pont Neuf, die gut vierhundert Jahre alter „Neue Brücke“, oder zum „Platz des alten Verführers“. Dabei lässt er prominente Liebespaare auftreten: Victor Hugos deformierten Glöckner von Notre Dame und seine schöne Esmeralda, Simone Signoret und Yves Montand, das Vorzeige- und „Musterpaar des französischen Films“, Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir als doppeltes Zentralgestirn im Intellektuellen-Café de Flore, sogar Jesus und Maria Magdalena. Sie alle, erzählt Bals, blieben einander treu bis in den Tod.
Vor allem aber drängt es ihn, von all dem zu singen: von der Liebe und ihren Variationen, ihren Stadien zwischen dem ersten „kribbelnden Schmetterling im Bauch“ und der Seelenleere des oder der Verlassenen. Fünfzehn Chansons – von Aznavour, Brassens, Piaf und anderen – dienen ihm als Medium nicht so sehr einer greifbaren Botschaft als eines schwebend-sehnsüchtigen Lebensgefühls. In der Originalsprache trägt er sie (fast) alle vor und übersetzt darum Flair und Aura der fremden Texte in eine unverzagt forsche, beseelte, selig verliebte Körpersprache. Bewundern darf man dabei den ungeahnt ausdruckskräftigen Bariton des Schauspielers: eine Stimme mit kerniger Substanz, viel Farbe und persönlichem Charakter.
Endorphine im Blut
Damit sie gebührend zum Tragen kommt, musizieren mit ihm Franz Tröger, Christopher von Mammen und (bei der Premiere am Sonntag) Oliver Schmidt behutsam, wenn auch multiinstrumental. Nicht zuletzt durch die stetig wechselnden Kombinationen von Klavier und Klarinetten, Saxofon und Flöte, Posaune und Akkordeon finden die Chansons ihren je eigenen Atem. In „Sous le ponts de Paris“ schöpft Bals unbeschwert frische Luft, „mit Endorphinen“ füllt sich – „Boum!“ – sein Blut, oder es mischt sich, im beschwipsten „J’ai bu“, mit reichlich Alkohol. Weil freilich zur Liebe, je heißer, desto kühler, oft genug der Abschied gehört, scheut der Künstler auch die Runterzieher nicht und versteigt sich sogar zu der Behauptung „Il n’y a pas d’amour heureux“: Glückliche Liebe gibt es nicht.
Mit der Partnerin, dem Partner brechen? Das kommt vor. Aber Paris verlassen? „Das ist keine Option“, bekräftigt Bals. Was immer ihm in der „Stadt der Liebe“ und des „Hundedrecks“ widerfährt – er kann und will damit leben. Der Hofer würde sagen: „Basst scho.“ Bals, der kein Franke, aber mit mindestens halbem Herzen Franzose ist, sagt und singt natürlich: „C’est ci bon.“
■ Wegen der großen Kartennachfrage hat das Theater drei Zusatzvorstellungen angesetzt: am 11. Februar und am 19. Februar jeweils um 16 Uhr sowie am 17. März um 19.30 Uhr im Studio.
■ Zu den bisher geplanten Aufführungen bietet das Theater wegen der großen Nachfrage zu Beginn der kommenden Spielzeit zwei Zusatzvorstellungen an: am Sonntag, 17., und am Freitag, 22. September, jeweils um 19.30 Uhr im Studio.
■ Informationen über die Produktion und weitere Aufführungen im Internet: hier lang.
Es ist das, wonach es aussieht
Aus der „Fledermaus“, dem Meisterbühnenstück des Operettenkönigs Johann Strauß Sohn, lässt sich auch 150 Jahre nach der Uraufführung viel Originelles herausholen. In Hof indes nutzt Regisseurin Isabella Gregor wenige der sich bietenden Gelegenheiten. So überzeugt die Aufführung vor allem musikalisch.
Von Michael Thumser
Hof, 20. Dezember – Wer heute einen Polizisten ohrfeigt, wird gemäß Paragraf 114 des Strafgesetzbuches mit einer „Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft“. War das womöglich früher anders: weit weniger riskant? Jedenfalls muss der betuchte Rentier von Eisenstein, nachdem er einem Gendarmen hochmütig „eine gschmiert hat“, nur für lächerliche acht Tage „in Arrest“. Aber wann war oder ist das: „früher“? Für Johann Strauß’ „Fledermaus“ stellten sich die Librettisten Richard Genée und Carl Haffner als Zeit der Handlung ihre Gegenwart, also die 1870er-Jahre, vor; im Theater Hof, wo die unübertroffene Meisteroperette noch bis zum April auf dem Spielplan steht, entschied sich Regisseurin Isabella Gregor für die Fünfziger des vergangenen Jahrhunderts.
Das macht sie gleich anfangs dadurch kenntlich, dass die kesse Adele, Hausgehilfin beim Ehepaar Eisenstein, in Jeans-Latzhose und mit einem tobenden Staubsauger durch den Wohnsalon ihrer Herrschaft saust. Ein amüsanter Bruch: hat doch unmittelbar zuvor Michael Falk am Pult der beschwingt aufgelegten Symphoniker mit der Ouvertüre schon mal den ganzen Glanz der guten, alten, „goldenen“ Wiener Operette freigesetzt, was ihm, den Musikerinnen und Musikern auch die folgenden zweieinhalb Stunden über gelingen wird. Die Zugkraft, mit der diese Takt für Takt inspirierte Musik aus dem Graben dringt, verweist vom ersten Augenblick an darauf, dass diese Produktion vor allem mit musikalischen Glanzpunkten aufwartet.
Erkennen und Verkennen
Zwischen Erkennen und Verkennen spannt sich die Dramaturgie vieler – aller? – Operetten aus, als zitierten sie wortwörtlich oder zwischen den Zeilen den Kernsatz der US-amerikanischen Kinokomödie: „Es ist nicht das, wonach es aussieht.“ Mit Spielfreude und Spielwitz (wozu leider auch Stotterer-Witze gehören) setzen die Hofer Aktricen und Akteure den im Grund simplen, künstlich verschachtelten Plot um. Der Regisseurin folgen sie hurtig durch eine von vornherein nicht um Glaubwürdigkeit bemühte Vergeltungs- und Täuschungs-Intrige. Ironisch, komisch und klamaukig entfesselt sich ein hier vergnüglicher, dort arg alberner Aufruhr, wie ihn das Programmheft beschreibt: „Eifersucht, Betrug, Zynismus und Schadenfreude“ kulminieren in der Ununterscheidbarkeit von „Schein und Sein“. Zumindest soweit bleibt die Inszenierung den Ankündigungen Isabella Gregors treu.
Die Devise des Abends gibt die neuerlich hinreißende Inga Lisa Lehr als Rosalinde von Eisenstein mit fraulichem Charme und frivoler Stimme aus: „Heute sind alle übergeschnappt.“ Bei einer vornehmen Gesellschaft des Prinzen Orlofsky sind sies vollends. Schon zuvor hat sich der rosa Morgenrock Rosalindes anstößig geöffnet, als sie während aufreizender Verdi- und Puccini-Piècen ihres Gesangslehrers Alfred (Minseok Kim mit blendendem Belcanto) bis zum Kontrollverlust dahinschmolz. Jetzt, beim Ball des unaufheiterbar freudlosen Prinzen (Itziar Lesaka, als Einspringerin grimassierend und chargierend, aber mit Dracula-Dämonie in ihrem satten Mezzo), da verdreht die unzüchtige Hausfrau als angebliche Ungarin die Männerköpfe kraft vieler rollenden Rs und ihrer Rassigkeit, wie man das „früher“ nannte. Im Sekt- und Wodkadunst und -trubel rauschen Götz Lanzelot Fischers Gala-Kostüme erlesen, bis die Lustbarkeit ziemlich unziemlich aus dem Ruder läuft: Dann löst sich die Grandezza der versammelten Hautevolee – drei Paare des Balletts und die Sängerinnen und -sänger des Chors, zunehmend derangiert – buchstäblich in Sturzbetrunkenheit auf.
Der Gockel als Pudel
Yvonne Prentki aber, die sich als Stubenmädchen Adele bisher durchtrieben-proletarisch durchs Leben schlug, nutzt die Chance, sich mit zielgenau gipfelstürmendem Soubrettensopran als unverfrorene femme fatale auszuprobieren und zu behaupten. Auch Notar Dr. Falke triumphiert, dem Marian Müller, elegant und souverän beredt, seinen schlank-markanten Bariton leiht: Als Strippenzieher hat er ein Rachekomplott gegen Eisenstein (Markus Gruber, quirlig als Möchtegern-Womanizer) eingefädelt, weil der ihn vor Jahren öffentlich blamierte; am Ende darf er erleben, dass der altersgeile Gockel seinerseits wie ein begossener Pudel dasteht. Um im Bild des Anfangs zu bleiben: Diese Ohrfeige schallt laut und sitzt akkurat.
Sogar für eine Dosis aktueller Lokalsatire ergibt sich die Gelegenheit: im (viel zu vertorkelten) Schlussakt durch Volker Ringe in der Rolle des versoffen fränkelnden Knast-Faktotums Frosch. Ansonsten allerdings bleibt die Inszenierung den „Gegenwartsbezug und die zeitlosen Wahrheiten“, auf die das Programmheft neugierig macht, weitgehend schuldig. Zwar erwähnt die Regisseurin dort Möglichkeiten, mit dem Stoff auf den großen Börsenkrach des Jahres 1873 und also auf die für Geldaristokraten höchst fatalen Folgen anzuspielen, auch führt sie das „ständige Spiel mit Tierbezeichnungen“ als Namen etlicher Figuren ins Treffen, ebenso die strengen Grenzen zwischen den Klassen, die sich mittels Verkleiderei und Maskerade frech durchbrechen lassen … Von all dem indes zeigt das Geschehen in den gediegenen, aber schablonenhaften Szenerien Herbert Buckmillers nichts. So ist die „Fledermaus“, die viel mehr sein kann als nur eine Operette, in Hof genau das, wonach sie aussieht: halt eine Operette. Das freilich muss man ihr lassen: Sie hört sie sich prima an.
■ Als Grundlage der Rezension diente die zweite Aufführung am 17. Dezember.
■ Informationen über die Produktion und weitere Aufführungen im Internet: hier lang.
Menschenblick in Mörderaugen
Eine wahre Geschichte aus Auschwitz als Theater über die Freiheit der Gefangenen: Mit Somtow Sucharitkuls Oper „Helena Citrónová“ wendet sich das Theater Hof eindrucksvoll „wider das Vergessen“ des größten Menschheitsverbrechens, das die Nazis mit dem Holocaust über die Juden und die Welt brachten.
Von Michael Thumser
Hof, 19. November – Sechs Millionen Juden haben während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft ihr Leben gewaltsam verloren: das schlimmste Verbrechen der Menschheit, vor noch nicht hundert Jahren begangen in deutschem Namen und ins Werk gesetzt mit der satanischen Perfektion einer hocheffizienten Massenvernichtungsindustrie. Ignorieren, vergessen gar kann es niemand hierzulande, schon in der Schule, von einem einsichtsfähigen Alter an, erfährt jedes Mädchen, jeder Junge davon. Obwohl die beispiellosen Gräuel von vorgestern die Deutschen von heute nicht zu Schuldigen machen, erscheint vielen der Druck zu groß, den die besondere Art von Verantwortungsbewusstsein ihnen unausweichlich auflädt. Erst vor einem Vierteljahr sprachen sich bei einer Erhebung der Bertelsmann-Stiftung 49 Prozent der Befragten dafür aus, einen „Schlussstrich unter die Vergangenheit“ des Holocaust zu ziehen; ausdrücklich dagegen war gerade mal ein Drittel.
„Wider das Vergessen“ schreibt das Theater Hof während der laufenden Spielzeit über eine dreiteilige Reihe von Produktionen, die (wie es auf der Website heißt) „achtzig Jahre nach dem grausamen Höhepunkt der Machenschaften des nationalsozialistischen Regimes auf Täter, Opfer und Widerstandskämpfer“ blicken. Vom 25. Februar an wird Udo Zimmermanns Oper die widerständigen Studenten der „Weißen Rose“ wiederauferstehen lassen; bereits ab dem 1. Dezember nimmt Heinar Kipphardts Dokumentarspiel „Bruder Eichmann“ den akribischen Cheforganisator des antisemitischen Austilgungsprogramms in den Fokus. Aus den Jahren 1968 und 1982 stammen die Stücke; „vergessen“ wurde der millionenfache Mord an Europas Juden hierzulande nie. „Wider das Verschweigen“ sollte der Hofer Zyklus vielleicht besser heißen.
Jahre der Todesangst
In seinem ersten Teil klagt zurzeit Helena Citrónová unüberhörbar ihr persönliches Leid und die allumfassende Bestialität des Nazi-Rassismus heraus: Gequälte, gleichwohl unbeugsame Titelheldin ist sie in einer Oper, deren Integrität darauf gründet, dass sie eine wahre, sich über Jahre der Todesangst hinziehende Geschichte binnen zweier Spielstunden komprimiert wiedergibt; und deren Glaubwürdigkeit nicht darunter leidet, dass ein Thailänder sie sehr fern vom Schreckensort der Handlung getextet, komponiert und 2020 in Bangkok uraufgeführt hat. Der 69-jährige, auch als Filmregisseur und vielschreibender Horror-Romancier hervorgetretene Somtow Sucharitkul und mit ihm das Hofer Haus als erst zweiter Spielort wagen es, von den Exzessen der Grausamkeit im KZ Auschwitz zu berichten und zur selben Zeit von einer Liebe am selben Ort; von einer unmöglichen Liebe freilich, von einer, die „frei macht“ und doch in jeder Minute „den Tod bringen“ kann.
Das Paar – beide anfangs um die zwanzig –, das sie erlebt und erleidet, könnte füreinander bestimmt sein. Doch auf engstem Raum trennen dystopische Verhältnisse sie aufs Äußerste. Als Gefangene darbt Helena im KZ, jeden Menschenrechts beraubt, täglich den Tod anderer vor Augen und mit dem eigenen Tod bedroht; Franz Wunsch, SS-Unterscharführer der Wachmannschaft, bekennt sich zu seiner „Pflicht“, zu töten, und zögert denn auch nicht, an der Selektionsrampe des Konzentrationslagers einen Greis niederzuknallen, nur weil der ihm flehend widerspricht.
Ein angeblicher „Untermensch“ und ein Unmensch herzlosester Gesinnung. Doch aller Unvereinbarkeit sich widersetzend, werden die zwei zu verschworenen Gefangenen auf der Drehbühne, auf deren zwei Etagen Annette Mahlendorf Betonpfeiler aufgerichtet und Stacheldraht ausgespannt hat. Auf ihr agieren auch der (von Lucia Birzer und Roman David Rothenaicher einstudierte) Gefangenen-Chor - und, von ihm umschlossen und aus ihm heraustretend, Yvonne Prentki und Stefanie Rhaue - als szenisches Element halbtoter Lebendigkeit. An jenem lebensfeindlichsten Ort verstricken sich Helena und Franz ins lebensspendendste Gefühl. Um ihn ist es geschehen, als sie, die verhöhnte „Judensau“, ihm unter Zwang ein Schubertlied als Geburtstagsständchen singt; und sie entdeckt unversehens, ja widerwillig den „menschlichen Blick“ in den „Augen des Mörders“. Gestundete Zeit: Für kurze Atemzüge der Unwirklichkeit folgen die beiden den von Franz Schubert an die „holde Kunst“ gerichteten Melodien, „in eine bessre Welt entrückt“.
Herz und Nieren
Die Wirklichkeit auf der Hofer Bühne indes ist eine der Abscheulichkeit. Regisseur Lothar Krause weiß in seiner so deprimierenden wie aufrüttelnden, von Moment zu Moment anders packenden Inszenierung jeden verharmlosenden Anklang an Rührseligkeit zu vermeiden, so dass der harte Stoff eigentümlich ans erweichende Herz geht. Auch allerdings gewaltig an die Nieren, vom Orchestervorspiel an: Da lässt Ivo Hentschel am Pult der Symphoniker in brutal bewegten Klangbildern einen Transportzug an der berüchtigten Rampe des Lager vorfahren, mit mühlstein- und malstromartigen Lautmalereien rotierender Räder, gellenden Pfeifsignalen, kreischenden Bremsen. Ein sehr eigenständiges Verhältnis zum Melos hat der südostasiatische, musikalisch in England westlich sozialisierte Komponist gefunden: Für die bezwingend starke und dichte Atmosphäre der stets fasslichen Musik sorgen sowohl Zwölfton-Elemente als auch – dissonant verzerrte – Anleihen an Klezmer und Tango, Walzer und Polka, magnetische Kontaktaufnahmen mit der Abgründigkeit mahlerscher Adagios oder, unheilvoll untertönt, der Empfindsamkeit gekonnter Hollywood-Soundtracks. Nicht zuletzt nimmt die Partitur Schuberts halb hilflose, halb hoffnungsvolle Feier der „holden Kunst“, in kontrapunktischer Verflechtung, vielsagend beim Wort.
Ein well-made play, der Grauenhaftigkeit des Erzählten unbeschadet: Regisseur Krause, in diesem Fall ein realistischer Regisseur der pragmatischen Illusionslosigkeit, macht die zugkräftige Dramaturgie der Oper mit ihren sich steigernden zwischenmenschlichen Spannungen und effektvollen Szenenschlüssen fruchtbar für die Schilderung zweier Leben, die zwischen Stacheldraht am seidenen Faden hängen. Namentlich auf die Titelfigur hat Komponist Sucharitkul das Geschehen konzentriert, und Inga Lisa Lehr, die oft als lyrischer Sopran begeistert hat, darf diesmal die leidenschaftlich-dramatische Seite ihrer Stimme hervorkehren. Sogar eine gewisse Härte – und in Augenblicken der Verzweiflung, des Entsetzens auch Stoßkraft und Schärfe – prägt sie ihr auf, um ungeachtet aller Drangsal körperlich standhaft, emotional hochexpressiv den nicht zu demoralisierenden Lebensstolz der Figur auszuloten, ihren Liebeswillen – ihre Freiheit.
Zwischen Pflicht und Neigung
Da fällt durchaus auf, dass Helenas Peiniger und Partner Franz in Hof kein Mann des Belcantos ist. Immerhin können die Mattheit und die Brüche in der Stimme Markus Grubers als Erkennungszeichen stehen für die Gebrochenheit und Ambivalenz eines den Halt verlierenden Charakters: Wenn der Sänger in einer großen Soloszene Franz’ inneren Zwiespalt zwischen der „Pflicht“ zur Erbarmungslosigkeit und seiner Zuneigung zur angebeteten Frau bekennt, eröffnen seine dahinschwindenden blinden Überzeugungen die unsichere Sicht in die Möglichkeit einer „besseren Welt“.
In sie entschwindet Helena am Ende, nun nicht mehr geschoren und im Sträflingsstreifen-Habit, sondern mit vollem Haar und in rosa Eleganz gekleidet; aber mit demselben kleinen Koffer an der Hand, mit dem sie das KZ betrat. Die trotz Kriegs und Krisen bessere Welt von heute darf jenes Gepäckstück und darin die Erinnerung an schauerlichste Blutschuld nicht verlieren, nicht einmal verschweigen. „Vergessen“ kann eh nur, wer es wirklich will.
■ Als Grundlage der Rezension diente die Aufführung vom 13. November.
■ Informationen über die Produktion und weitere Aufführungen im Internet: hier lang.
Als gäbs kein Morgen
Zwei Musicals an einem Wochenende im Theater Hof – ein doppelter Triumph zum Saisonstart: Nach der drastischen Uraufführung von „Jack the Ripper“ durchlebt im intimen Studio ein junges Paar „Die letzten fünf Jahre“ seiner Beziehung – in einem Kammer-Songspiel mit gegenläufiger Chronologie.
Von Michael Thumser
Hof, 24. September – Am Ende stehen zwei Abschiedsbilder gleichzeitig nebeneinander, und doch liegt ein halbes Jahrzehnt zwischen ihnen. Verliebt und lachend schaut, auf der einen Seite der Spielfläche, Cathy ihrem neuen Freund Jamie nach und kanns schon kaum erwarten, bis er morgen wiederkommt. Auf der anderen Seite lässt Jamie, traurig und entschlossen, für Cathy einen letzten Brief, dazu den Ehering zurück; er kommt nicht wieder.
„Die letzten fünf Jahre“ sind schnell vorbei in Jason Robert Browns Kammermusical. Kurz und gut geht es über die Bühne des Studios seit dem doppelten Premierenwochende, mit dem das Theater Hof die neue Spielzeit zwei Mal triumphal eröffnete. Kaum lassen sich zwei Produktionen unterschiedlicher denken: zunächst im Großen Haus „Jack the Ripper“ um die berühmtesten Schlitzermorde der Kriminalhistorie, figurenreich, vehement, effektgeladen (die Rezension dazu folgt im Anschluss auf dieser Seite); schon tags darauf nebenan, auf der eher fürs Intime vorgesehenen Spielstätte, eine kleine herzschmerzliche Geschichte für zwei. Schwer ist der eine Stoff so wenig wie der andere und die Großproduktion dem nur knapp anderthalbstündigen Kammerspiel vielleicht im Schwung voraus, nicht aber im Belang.
Die bittersüße Lovestory hat dem „Ripper“-Krimi, schon durch ihr aus geschmackvoller Popmusik einfallsreich gewebtes Klanggewand, eine subtile Note zwischenmenschlicher Nähe und emotionaler Unverfälschtheit voraus. Wo bei Reinhardt Frieses und Frank Nimsgerns Altengland-Event Band und Orchester die Affekte in pastosen Farben wie auf eine Großleinwand spachteln, trägt im Studio ein sensibles Ensemble von Saiteninstrumentalisten (eine Violinistin und zwei Cellisten der Symphoniker, Oliver Schmidt und Uwe Fiedler an Gitarre und Bass, am Klavier von Philip Tillotson geleitet) mal pastellene, mal intensive, dabei stets wohlgemischte Kolorationen wie auf Miniaturen auf.
Auf lauter Monologe. Nur einmal finden Cathy und Jamie zum Duett zusammen: Genau in der Mitte des Stücks feiern sie Hochzeit, bei der ihre Verbundenheit und Hoffnung für eine kurze Weile keine Grenzen kennt. Von Anfang an weiß das Premierenpublikum – das nach der Uraufführung am Vorabend auch diese Hofer Erstaufführung stehend feiert –, dass die beiden ‚sich kriegen‘. Es weiß aber auch sogleich: Sie werden auseinandergehen. Denn ihren gemeinsamen Weg erzählt der Komponist Brown als sein eigener Texter in gegenläufiger Chronologie – und macht so wieder zwei einzelne Geschichten daraus: Die von Jamie verläuft vom ersten Moment des Verknalltseins an bis zu seinem heimlichen Abgang, die von Cathy schlägt, von der Trennung bis zur Liebe auf den ersten Blick, die umgekehrte Richtung ein.
In den Schlingen des Telefons
Derart gelenkt, gingen Regisseur Florian Lühnsdorf und Bühnenbildnerin Aylin Kaip daran, eine einleuchtende Situation des Gegenübers für das Paar zu ersinnen. Sie ansehnlich umzusetzen, wollte indes nicht recht glücken. Den Partnern wies Kaipt je ein weiß leuchtendes Podest zu; nur aus dem Programmheft ist zu erfahren, dass die Plattformen den Hörer eines weiland Festnetzfernsprechers, mittig in zwei Hälften zerbrochen, vorstellen sollen. Ins Unförmige vergrößert schlingt sich denn auch die dazugehörige Endlosspirale eines obsoleten Telefonkabels um den Schauplatz herum und dreht gar einen Looping über ihm. Angerufen wird allerdings zeitgemäß: per Smartphone.
Der Looping, der erst getauschte, schließlich zurückgelassene Ring: Beides spielt auf die Dynamik der Kreisform und die Ziellosigkeit des Kreislaufs an, was der raffiniert gewagten Dramaturgie des Stücks entspricht mit ihrer Gegenläufigkeit sowohl der erzählten Zeiten wie auch der Gefühle. Die Zeit bleibt auf Wunderweise stehen, als gäbs kein Gestern des Zusammenkommens, kein Morgen des Auseinandergehens, sondern nur einen einzigen pulsierenden Moment voller umlaufender Empfindungen und von unbestimmter Dauer. In ihm streben die Gefühle aufeinander zu und laufen trotzdem aneinander vorbei.
Beiden Darstellern – Carolin Waltsgott wie Benjamin Muth, gleichrangig in ihrer charakterzeichnenden Präsenz, von sympathischer Natürlichkeit und sonniger Frische die eine wie der andere – nimmt man ihre unerfahren-mutige Jugendlichkeit sogleich ab. Gerade mal 23 Lenze zählt Jamie, der Student, als schon sein erster Roman zum Riesenhit gerät, worüber er selbst am meisten staunt. Cathy, die „Göttin“, die er „immer gesucht“ hat, soll seine Muse sein, aber in der Partnerschaft alle Freiheiten behalten, um ihrerseits, auf der Musicalbühne, der „Star“ zu werden, als den sie sich träumt.
Furios jubelt Waltsgott in einer frenetischen Shownummer Cathys Leidenschaft für den Geliebten und ihren loyalen Stolz auf seine wuchernde Begabung heraus. Mit notorisch komödiantischem Hochtalent spielt die Künstlerin selbstironisch die heillose Verzweiflung aus, mit der Cathy jedes Vorsingen verbockt. Die fast kindliche, dabei ausgebuffte Aktrice – eine „Powerfrau“ wie jene, die Jamie in seiner Cathy schätzt – weiß vor Lebensgeist zu platzen, aber auch, wenig später, alle Anspannungen zurückzunehmen ganz in ihr Inneres, wo sie freilich stetig spürbar bleiben.
Ein „gutes Team“ will Cathy mit Jamie bilden, sieht aber endlich ein, gerade noch als „ein Teil von ihm“ zu gelten. Er hingegen, statt für sie „einfach da zu sein“, gefällt sich zunehmend narzisstisch darin, als „strahlender Hochkaräter“ des Buchmarkts im „Mittelpunkt jeder Party“ von den schönen Töchtern anderer Mütter umflattert zu werden. Durchaus warme Zuneigung lässt Benjamin Muth in der Rolle spüren, ehrliche Einsicht, wohlmeinende Geduld; doch er verhehlt auch nicht, wie unausweichlich das Tempo des Erfolgs („Es geht ein bisschen schnell“) den noch unausgereiften Bestsellerautor zu euphorischer Selbstüberschätzung verführt. Unter all seiner Einfühlung lässt Muth schleichend Eitelkeit gedeihen, endlich Dünkel blitzen. Nicht nur als Schriftsteller, auch körperlich scheint Jamie zu wachsen, bis er sich auf dem Tisch seines Podiums wie sein eigenes Monument aufrichtet.
Anders als Carolin Waltsgott, die auch durch ihre Stimme überwältigt, vermag Benjamin Muth nicht mit gesanglichen Genüssen aufzuwarten. Trotzdem berührt sein letztes Liebeslied: weil es schon einer andern gilt.
Informationen über die Produktion und weitere Aufführungen im Internet: hier lang.
Schatten aus der Hölle
Der ungeheure Inszenierungsaufwand hat sich gelohnt: Stehend beklatscht das Uraufführungspublikum das Musical „Jack the Ripper“, mit dem das Theater Hof die neue Spielzeit mitreißend eröffnet.
Von Michael Thumser
Hof, 20. September – In Samuel Becketts „Warten auf Godot“ wird zwei Akte lang auf Godot gewartet, der bis zum Schluss nicht kommt. In „Jack the Ripper“, seit der vom Publikum mit stehenden Ovationen gefeierten Uraufführung am Samstag, ists am Theater Hof ähnlich: Der legendäre Serienmörder, der dem Musical den Titel gibt, tritt niemals auf. Oder, um genau bei der Wahrheit zu bleiben: Als Phantom, als schwarze Silhouette eines hochgewachsenen, eleganten Mannes der besseren Gesellschaft mit Cape und Zylinder, geht er zwar im milchweißen Londoner Nebel um und schlitzt Frauenhälse auf; aber er gibt sich nicht als Figur zu erkennen, er spielt, zumindest buchstäblich verstanden, keine Rolle. Der dramaturgische Kunstgriff ist nur einer der mancherlei Reize für Ohr, Auge und Verstand, und nicht der geringste des Stücks.
Als Ideengeber, Buchautor und Regisseur hat Intendant Reinhardt Friese die effekt- und geräuschvolle Zusammenarbeit mit dem Komponisten und Musiker Frank Nimsgern erneuert, die sie schon in der Spielzeit 2016/17 bei „Der Ring“ zusammenschweißte. Für ihr aktuelles, nicht minder Aufsehen erregendes Projekt wählten sie indes nicht ganz so pompöse Mittel: Statt neuerlich einen überzeitlichen, übermenschlichen Mythos als wummerndes Spektakel plakativ krachen zu lassen, wenden sie sich mit melodramatischem Interesse fürs Zwischenmenschliche, Verständnis für historisches Kolorit und Ansätzen vertiefender Psychologie einer Schandtat aus der Geschichte des wirklichen Englands zu: den (mindestens) fünf Frauenmorden eines unbekannten Halsab- und -durchschneiders in Whitechapel, einem berüchtigten Elendsviertel der Hauptstadt. Dass die legendären Bluttaten bis heute unaufgeklärt blieben, ist nur einer der gruseligen Reize, und nicht der geringste des Stücks.
Denn auch an Attraktionen – Buntheit und Verve, Gedöns und Getrubel – fehlt es nicht, und ein willkommenes Befeuerungsmittel geben sie ab für eine Handlung, die der Autor und Regisseur Friese weniger über einen Spannungsbogen fortschreiten lässt denn episodisch als dynamisches Stimmungsbild entwirft – als kräftig ausgemaltes, heftig befülltes Genrebild (Kostüme: Annette Mahlendorf). Dessen durchaus mit Unterhaltlichkeiten gesättigte, mit einfallsreichen Schauwerten – wie einem Untotentanz schädelknochiger Zombies – kurzweilig aufwartende Atmosphäre untermischte er wohlweislich mit einer dauernd spürbaren Stimmung der bangen Beklommenheit, des unberechenbaren Risikos. Das grobe Pflaster von Whitechapel ist auch in Hof ein dünnes Eis.
Im Londoner Nebel
Umso behutsamer betritt es Dominique Bals als Kriminalinspektor Abberline. Genau bei der „Wahrheit“ will er bleiben, als er sich traurig, aber beherzt an die Spurensuche im Armenviertel macht. Das bevölkern von Not getriebene Gauner und Prostituierte, die sich oft des schieren Hungers halber verkaufen. Zwei Spielstunden lang stochert der Kriminalist vergeblich im Nebel, der Mal um Mal suppig über Herbert Buckmillers bei der Premiere gleich zu Beginn beklatschte Bühne wallt, wölkt und wabert, ohne das Geheimnis der Täterschaft preiszugeben (und der ebenso jenes für sich behält, warum wiederholt ohne Not auf Englisch gesungen wird). Die Szenerie entrückt die Betrachtenden, eben wie ein Genrebild aus dem neunzehnten Jahrhundert, auf das grobe Pflaster eines feuchtkühlen, düster-kargen, schmuck- und vegetationslosen Straßenzugs, aus dessen Hausfassaden sich von Fall zu Fall unterschiedliche Innenräume ausfahren lassen, eine wüste Kneipe etwa, oder, gleich daneben, ein Polizeibüro. Whitechapel: Ein „Drecksloch“ nennt es ein als „reaktionärer Knochen“ schnell durchschauter Sergeant (Dan Lucas) und lästert gleichgültig, hier sterbe „niemand, der es nicht verdient“.
Abberline aber, der ortskundige Inspektor, „weiß viel über vieles“. Er weiß, dass keiner und keine hier im Slum freiwillig Furcht und Schrecken, Gewalt und Ausgeliefertsein auf sich nimmt. Er weiß auch im Elend jeden auf der „Suche nach dem Glück“, wie aussichtsslos sie auch bleiben mag. Er weiß, dass die tumbe Menge alles verdächtigt oder verachtet, „was anders ist“, dass der Pegida-artig zum Aufstand sich zusammenrottende Mob („Das Volk sind wir“) nur allzu schnell Verschwörungsschwurbeleien auf den Leim geht und jedem harmlosen Außenseiter das Schlimmste zutraut: einem bemitleidenswert entstellten „Elefantenmenschen“ nicht anders als dem Juden Aaron (einmal grandios maskiert, das andermal furios schmetternd: Andrea Matthias Pagani). Abberline weigert sich, einen vermeintlich „Schuldigen, der ins Weltbild passt“, aus dem bowler hat zu zaubern. So empfiehlt es ihm sein politisch erfahrener Chef, in dessen kühl kalkulierenden Opportunismus Volker Ringe einen Zug von schwer zu wiederlegender Weisheit mischt – charakterlich die vielleicht differenzierteste Figur der Aufführung. Der Inspektor aber, „mit seiner Schwäche für gestrandete Existenzen“, bleibt lieber fest bei der Wahrheit – und fahndet weiter nach dem Unauffindbaren.
Im Auge des Orkans
Denn freilich ahnt er, dass ihr bitterer Kern die Vergeblichkeit ist. In der tiefen Resignation des Ermittlers deckt Dominique Bals dessen weiche Aufrichtigkeit und sehnsüchtige Einsamkeit auf. Mit sanfter Sprech- und Gesangsstimme, mit der ruhigen Milde des Empfindsamen, Empfindlichen und Empfänglichen gibt seine irrationale Liebe zum klugen Straßenmädchen Mary Jane den Fokus des Spiels ab. Gemeinsam mit der umso agileren, stimmstarken und -wendigen Kerry Jean als farbiger, mithin „exotischer Schönheit von der Straße“ verharrt Bals ein paar herzbewegte Augenblicke lang gleichsam im stillen Auge des Orkans. Den entfesseln umso dringlicher Barbara Busers bald leichtlebige, bald aggressive Choreografien und die aus Pop und Rock, Schlagersentiment und (als aparte Überraschung) A-cappella-Dreigesang synkretistisch kombinierte Musik Frank Nimsgerns, der auch die Liveband mit den Herren Eicke, Kramp und Götz anführt sowie die über Lautsprecher eingespielten Orchesteraufnahmen produzierte.
„Da draußen muss er sein“, der „Held“ ihres Glücks, singt Mary Jane voll Inbrunst und absurder Hoffnung. In Wahrheit treibt „da draußen“ eine Bestie ihr Unwesen. Dennoch geht das Leben fast zwanghaft weiter, mit Druck und Schub – am stimulierendsten bei der glamourösen Bordellière Lady Queen (Aino Laos) und ihren Glitzergirls. Unerwartet hebt sich unter ihren Füßen der Boden der Vorbühne empor, und sichtbar wird, mondän ausstaffiert mit reichlich rotem Plüsch, ein unterirdisches, weil geheimes, aber gut besuchtes Schwulen-Etablissement, in dem auch ein royaler Gast seine verbotenen Begierden zu befriedigen pflegt: Jannik Harneit, hochgewachsen und elegant, unverkennbar ein Mann der besseren Gesellschaft, der sich in Cape und Zylinder hüllt …
Falls ein Verdacht auf ihn, die königliche Hoheit, fällt, kann ihn der nicht treffen. Solange das „Weltbild“ über die „Wahrheit“ triumphiert, kann nicht sein, was nicht sein darf. So unaufhörlich wie Queen Victoria übers Commonwealth, regiert im „Drecksloch“ die „Angst“ – eines der Wörter, die in Whitechapel am häufigsten fallen.
■ Alle regulären Vorstellungen sind ausverkauft. Darum hat das Theater Hof am Samstag, 3. Dezember, um 15 Uhr eine Zusatzvorstellung angesetzt.
■ Informationen über die Produktion und weitere Aufführungen im Internet: hier lang.