Eckpunkte-Archiv 2023/24
Der Pandora-Effekt
23. September Immer mehr Menschen, Institutionen, Veranstalter meinen es immer besser mit uns. Damit nichts unser Gleichgewicht in der bedrohlich trudelnden Welt behellige, senden sie allenthalben sogenannte Triggerwarnungen aus, sobald sie fürchten, in ihren Angeboten stecke Störendes und Verstörendes, das uns irremachen oder gar traumatisieren könnte. So führt das Staatsschauspiel Dresden seit einigen Wochen die „Lulu“, Frank Wedenkinds „Skandalstück“ um die Nymphomanie eines „wilden, schönen Tiers“, mit einem Mann in der Titelrolle auf und weist empfindliche Gemüter sicherheitshalber darauf hin, dass der Protagonist, seine (biologische) Geschlechterzugehörigkeit untermauernd, immer mal wieder die Hose fallen lässt. Vor gut einem Jahr sahen wir uns schon einmal an dieser Stelle genötigt, Skepsis gegen die um sich greifende Praxis laut werden zu lassen. Seit Kurzem nun triggern uns neuerlich Triggerwarnungen, diesmal gleichsam auf einer Metaebene: Es irritiert uns nämlich kein bestimmter Trigger – also kein Akut-Auslöser für etwas mental Unliebsames –, sondern die aktuelle Berichterstattung über derlei Alarmzeichen. Zum einen vermelden viele Medien, dass TV-Sender, die alte Folgen der „Otto-Show“ oder von „Schmidteinander“ ausstrahlen, zuvor Hinweisschilder einrücken, die zu vorsichtigem Genuss raten: „Das folgende fiktionale Programm wird, als Bestandteil der Fernsehgeschichte, in seiner ursprünglichen Form gezeigt. Es enthält Passagen mit diskriminierender Sprache und Haltung.“ Zum andern kommt ein Trigger-Trigger, eine Warnung vor der Warnung, aus den Vereinigten Staaten in Form seriös ermittelter Forschungsergebnissen zu uns. Sie belegen nicht zuletzt den „Pandora-Effekt“, jene uns offenbar eingeborene pressante Neugier, mit der wir uns ausgerechnet solchen Reizen, Dingen und Situationen aussetzen, die absehbar unseren Widerwillen hervorrufen, wenn nicht gar unangenehme Folgen für uns zeitigen. „Insgesamt haben wir festgestellt, dass Warnungen keinen Einfluss auf die den Gemütszustand betreffenden Reaktionen auf negatives Material haben“, schreiben die Forschenden um Victoria M. E. Bridgland im angesehenen Magazin Clinical Psychological Science. „Allerdings verstärken die Warnungen zuverlässig den antizipatorischen [vorwegnehmenden] Affekt.“ Vieles also deutet darauf hin, „dass die Warnungen die Beschäftigung mit negativem Material unter bestimmten Umständen sogar noch verstärken“. Aber das haben wir ja schon als Kinder am eigenen Leib erfahren: als wir bevorzugt eben jenen riskanten oder delikaten Phänomenen der Erwachsenenwelt nachforschten, die Mama und Papa vor uns geheim und im Verborgenen halten wollten. Hinzu kommt die unterschiedliche Bedrohlichkeit dessen, das den Alarm auslöst: Zweifellos zwar sollten Migräniker auf den Einsatz von Stroboskop-Blitzen hingewiesen werden, weil sie Schmerzattacken auslösen können; hingegen sind mahnende Ansagen, aktive Nacktheit betreffend, längst sinnlos geworden: Schon viele Zwölfjährige haben sich mit allen, selbst harten Formen der Pornografie vertraut geamcht. Zeitlose Gültigkeit dürfen indes die berühmtesten Tragödienverse aus der „Antigone“ des antiken Griechendichters Sophokles beanspruchen: „Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer als der Mensch“ – eine Triggerwarnung vor dem Ungeheuer, das in jedem von uns steckt. Sie ist 2465 Jahre alt und gilt noch immer. ■
Ross und Reiterin
23. September Eine junge Dame hoch zu Ross beeindruckt viele von uns weit stärker als ein alter weißer Mann auf einem Gaul. Von den Legionen reitender Kriegsmänner – wie den Skythen und Hunnen, den Magyaren oder den Mongolen Dschingis Khans – sprechen wir mit mehr Grauen als Hochachtung; umgekehrt verhält es sich bei den sagenhaften, nicht minder grausamen Amazonen: Die verlangen uns eine gewisse Bewunderung ab. Bis in die jüngere Vergangenheit war das Reiten vornehmlich eine Angelegenheit für ganze Kerle und feine Herren, was sich in der Literatur spiegelt. Sofern dort Damen zu Pferde sitzen, so ists stets etwas Besonderes: Aus George R. R. Martins Fantasy-Epos „Das Lied von Eis und Feuer“, dem belletristischen Ursprung des TV-Serienhits „Game of Thrones“, strahlt Daenerys Targaryen auf ihrer Stute „The Silver“ edelmetallisch heraus; im „Herrn der Ringe“ von J. R. R. Tolkien zieht die schöne Éowyn auf ihrem stattlichen Renner „Windfola“ in die Schlacht (wofür sie sich allerdings als Mann verkleidet); in James Fenimore Coopers „Lederstrumpf“-Roman „Der letzte Mohikaner“ traben die ungleichen Schwestern Alice und Cora Munro durch die Gefahren der Wildnis; natürlich wollen wir „Die Frau, die davonritt“ – aus D. H. Lawrences Novelle – nicht links liegen lassen, die ihre Familie verlässt, um in einem altmexikanischen Ritual einen erotischen Tod zu finden; genauer freilich erinnern wir uns an Pippi Langstrumpf, von ihrer Erfinderin Astrid Lindgren stabil auf dem Rücken des Wallachs „Kleiner Onkel“ platziert. Im Lauf der Kriegs- und Kunstgeschichte galt kaum eine Frau als ‚groß‘ genug, dass die Mit- und Nachwelt sie respektvoll mit einem Reiterstandbild hätte verherrlichen wollen. Diese Spielart des Denkmals, durch Lebens-, wenn nicht Überlebensgröße geradezu aufdringlich unübersehbar, blieb siegreichen Kriegsherren und triumphalen Machtmännern vorbehalten, wenn auch nicht ausschließlich. So schreiben die Franzosen ihrer Nationalheldin, der 1431 im Hundertjährigen Krieg verbrannten Jeanne d’Arc, neben frommer Duldsamkeit auch eine derart heroische Autorität zu, dass sie Idealgestalten der „Jungfrau von Orleans“ wiederholt kolossal in Bronze aufrichteten, so 1855 in Orleans selbst, 1893 in Chinon, 1900 in Paris. Ganz anderes findet sich in der sizilische Kleinstadt Scicli: Dort zermalmt eine Marien-Figur, die Madonna delle Milizie, sarazenische Aggressoren unter den Hufen eines steil auf der Hinterhand steigenden Pferds. Politikern und Politikerinnen der jüngeren und jüngsten deutschen Geschichte wurde die Ehre eines Reiterstandbilds nicht zuteil – mit einer Ausnahme: 2021 hatte der Künstler Wilhelm Koch vor dem Tempel-Museum in Etsdorf, einem Flecken im oberpfälzischen Landkreis Amberg-Sulzbach, Angela Merkel auf ein Ross aus dem 3-D-Drucker gesetzt. Weil der Zügel fehlte, behielt die Exkanzlerin die Hände frei, um damit ihre charakteristische „Raute“ zu formen. Länger als zwei Jahre waren dem Monument indes nicht beschieden: Verrottet brach es vor wenigen Tagen in Stücke. Eine symbolische Bedeutung sollten wir dem Ereignis aber nicht zuschreiben, verließ doch die Politikerin ihr hohes Amt aus freiem Willen und nicht, weil sie gestürzt worden wäre. Nicht als Kriegerin, jedoch notorisch kämpferisch hat sie von der Finanz- bis zur Coronakrise alle Hürden unbeugbar genommen. Sportliche, womöglich reiterliche Ambitionen sind von ihr hingegen nicht bekannt. Immerhin wandert sie gern, wobei sie sich, statt auf vier Hufen, auf den eigenen zwei Füßen fortbewegt. ■