Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)

Aus der Vogelperspektive
Triumphal beschließen die Symphoniker ihre Hofer Spielzeit. Mit pantomimischer Durchschlagskraft leitet Martijn Dendievel ein rein englisches Programm. Das berückend entrückte Spiel der bulgarischen Geigerin Liya Petrova entlässt eine liebestrunkene Lerche in den siebten Himmel.

Liya Petrova vor den von Martijn Dendievel geleiteten Symphonikern: Sacht gewellte Klanglandschaften unter den Flügeln wunderbaren Violingesangs. (Foto [1]: thu)


Von Michael Thumser

Hof, 10. Juli – Eine „Schwalbe“ macht noch keinen Fußball-Sommer. So ließ sich denn während der (für Deutschland immerhin zur Hälfte „Sommermärchen“-haften) Europameisterschaft nicht nur Portugals Offensivstar Rafael Leao, angeblich gefoult, beim Spiel gegen die Türkei theatralisch auf den Rasen fallen; genauso machte es Denzel Dumfries im Viertelfinale gegen die Rumänen … – oder Emre Can am vergangenen Freitag, als die Nagelsmänner ihr Achtelfinal-Match gegen Spanien verloren. Glücklicher war dran, wer im Festsaal der Freiheitshalle etwa zur selben Stunde zuhörte, wie die Symphoniker ihre Hofer Saison abschlossen: triumphal, wenn auch zwischendurch dezent, verklärt, mit einer Lerche statt mit einer Schwalbe.

     Auf sublimen Geigenklängen steigt der Vogel liebestrunken zu den Wolken auf, um sich nach einer guten Viertelstunde in die Unsichtbarkeit und Unhörbarkeit des Firmaments zu mischen: „The Lark ascending“. 1914 begann Ralph Vaughan Williams die Konzertfantasie auf ein Gedicht von George Meredith zu entwerfen, gab ihr aber erst 1920 die endgültige Gestalt, war doch der Erste Weltkrieg nicht eben die rechte Zeit für Träumereien aus der Vogelperspektive. Auch gegenwärtig siehts auf Erden schwierig aus, doch Liya Petrova scheut sich nicht, mit hypnotischen Melismen, Koloraturen und Kadenzen ihrer Violine den Schönheitssinn des Opus und seine Ungebundenheit in meditativen Wohllaut zu transzendieren. Das Orchester, vom künftigen Chefdirigenten Martijn Dendievel zu großer Behutsamkeit angeleitet, hat nicht viel mehr zu tun, als der schillernd in Wolkenweiß gekleideten Solistin eine ausgedehnte, sacht gewellte Klanglandschaft unter die Flügel ihres wunderbaren Instrumentalgesangs zu breiten.

Freiluft-Panorama

Dem gibt die 35-jährige gebürtige Bulgarin Raum, als ob sie mit verhaltener Emphase selbstvergessen über pastorale Motive improvisierte und die Bruchstücke zu einem weltverlorenen Freiluft-Panorama aus expressivstem Pianospiel zusammenführte. In Momenten gesteigerter Intensität zwar nehmen ihre Formulierungen wie ihr Körper durchaus Haltungen entschlossenen Stolzes an; und dass die Künstlerin, so wie sanft schillernden Schmelz, auch das kultivierte Schmalz des Salons im Repertoire hat, beweist sie bei den Zugaben mit Edward Elgars „Salut d’amour“, seinem verliebten Gruß an die Verlobte, bevor Petrova auf Pietro Rovellis einst eigener Guarneri-del-Gesù-Violine eine seiner „Caprices“ aus den 1820er-Jahren artistisch über die Saiten tanzen lässt, wofür das Publikum sie mit tosendem Beifall überschwemmt. Viel mehr Empathie aber fordern die zärtlich-zarten Werbelieder der britischen Lerche von ihr, in denen sie nicht vordergründig Vogellaute zu imitieren sucht, sondern sich völlig der innig-innerlichen Kantabilität ihres Instruments hingibt, bis dessen Stimme erfüllt wie in einem siebten Himmel verlischt.

Liya Petrova: Zärtlich-zarte Werbelieder. (Foto: PR)

     In den Jahren desselben Kriegs stieg Vaughan Williams’ um zwei Jahre jüngerer Landsmann Gustav Holst noch weit höher: bis zu den „Planeten“. Mit der epochalen und Epochen-verbindenden Suite gelingt dem Dirigenten und den Symphonikern ein fulminanter Saisonabschluss von lang nachwirkender Gewaltsamkeit, Pracht und Poesie; teils stehend applaudiert das aufgewühlte Auditorium. Unverkennbar erschöpfend hat Martijn Dendievel die – auch in der reduzierten Fassung noch unerhört komplexe – halb spätromantische, halb modernistische Partitur verinnerlicht, mit deren erstem, dem Kriegsgott Mars zugeschriebenem Teil er in apokalyptischer Wucht über die Zuhörenden herfällt: mit Angriffswellen aus zwei Pauken-Batterien, mit Feldzugsgetöse und den Posaunen eines Letzten Gerichts – „Apokalypse now“ im „Herzen der Finsternis“, siebeneinhalb Minuten lang „das Grauen, das Grauen“ von Gaza, der Ukraine, des Südsudans …

     Dann unvermittelt: Frieden; visionär blüht er im zweiten der sieben Teile, auf der „Venus“, auf. Quecksilbrig flink, frech und gewitzt hingegen lassen die Symphoniker, von Harfe und Celesta verlockend durchtönt, den „Merkur“ vor Unternehmungsgeist schäumen. Voll majestätischer Lust und souveräner Laune bläst das Blech dem gottväterlichen „Jupiter“ den fröhlichen Marsch. Durch die Pendelmotivik des „Saturn“, Gleichnis vielleicht für eine Totenglocke, vielleicht für eine Uhr, bekräftigt das Orchester, dass niemand weiß, wann ihm die Stunde schlägt. Augenblicksgenau und ungemein impulsiv veranschaulicht Dendievels geradezu pantomimisches Dirigat jeden Stimmungswechsel und die überraschenden Klangmixturen der Instrumentation, ohne die unenthüllbaren Rätsel der musikalischen Weltraumfahrt glättend kleinzumachen. Dem „Uranus“ verleiht er diabolische Agilität; bevor er das berückende Schlussstück so weit wie den „Neptun“ von Mutter Erde entrückt: Frauenstimmen des Kammerchors Hof und der Weimarer Franz-Liszt-Hochschule entfalten vokalisierend, mit fein verschwebenden Hochtönen aus dem Off, die Sphärenklänge interstellaren Zaubers, kosmischer Magie.

Delikate Detailarbeit

Nur etwa halb so alt wie Gustav Holst bei seiner Reise zu den „Planeten“ war Dorothy Howell, als ihr mit „Lamia“ eine deutlich mehr als frühreife Leistung gelang. Vielversprechend stand die Tondichtung ganz am Anfang des Abends, dessen Programm so löblich wie achtungsgebietend ganz den hierzulande beschämend ignorierten Tonsetzern aus dem England an der Wende des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert gewidmet war. 1919, mit erst 21, ließ sich die hochbegabte Jungtonsetzerin von einem hundert Jahre zuvor veröffentlichten Poem des Lyrikers John Keats inspirieren, das zu kennen den Genuss ihrer Komposition allerdings nicht steigert. Und um einen Genuss handelt sichs, auch wenn der durch mancherlei Tonarten vagabundierende Auftakt den Musikerinnen und Musikern nicht impressionistisch genug gelingen will. Bald indessen brechen sie in die verschwenderischen Romantizismen einer autarken Tonsprache auf, deren bewundernswerte Orchestration von ihnen so delikate wie durchschlagende Detailarbeit verlangt – eine Aufgabe, die sie, den Maßgaben Martijn Dendievels getreulich folgend, zunehmend beflügelt meistern.

     Nach kraftstrotzenden Kulminationen und himmlischen Hochblüten, nach reichlich Passion und einem begründeten Maß an Pathos mündet das Stück unverhofft düster und karg in einen schwarztragischen Schluss. Howells großartige Programmmusik erzählt ihre ganz eigene Geschichte, da dürften Keats’ Verse wovon auch immer handeln. Und wer auch immer die Fußball-EM am Sonntag für sich entscheidet - in Hof steht bereits fest: England hat gewonnen.

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Das unverlorene Paradies
Vor 150 Jahren bezog Richard Wagners Familie ihre Bayreuther Villa, die rasch zum Treffpunkt illustrer, sich vernetzender Gäste wurde. Die Musica Bayreuth lud das Symphonieorchester aus Karlovy Vary ins Markgräfliche Opernhaus ein, um etlicher „Komponisten in Haus Wahnfried“ zu gedenken.

Das Symphonieorchester aus Karlovy Vary in der prunkvollen Bühnendekoration des Markgräflichen Opernhauses: Kühne Talentprobe eines Frühvollendeten. (Foto: thu)


Von Michael Thumser

Bayreuth, 29. Juni – Zwei Häuser hat sich Richard Wagner in Bayreuth gebaut. Schon 1850, als noch kaum ein Wort, eine Weise des Nibelungen-„Rings“ feststand, stand für ihn fest, wie er ihn aufzuführen habe: Nur „aus Brettern ein Theater“ zu errichten, stellte er sich vor, dann „geeignete Sänger zu mir kommen“ und „alles Nötige für diesen einen besonderen Fall mir so herstellen zu lassen, dass ich einer vortrefflichen Aufführung der Oper gewiss sein könnte. Dann würde ich – natürlich gratis – drei Vorstellungen hintereinander geben, worauf dann das Theater abgebrochen wird und die Sache ihr Ende hat.“ Wirklich entstand das 1876 eröffnete Festspielhaus zunächst als Provisorium. Als Bretterbude bekanntlich nicht.

     Vor jetzt 150 Jahren, schon 1874, hatten der Dichter-Komponist und seine Familie ihr repräsentatives, vom ehrfürchtigen Bayernkönig Ludwig II. maßgeblich finanziertes Wohnhaus in Bayreuth bezogen, wo endlich des Meisters „Wähnen Frieden fand: Wahnfried sei dieses Haus von mir benannt.“ Hier vollendete er mit der „Götterdämmerung“ den „Ring des Nibelungen“ und trieb sodann die Arbeit am Abschiedswerk, dem „Parsifal“, voran. Zudem gingen, sowohl zu seinen Lebzeiten als auch unter der Hausherrschaft seines Sohnes Siegfried und von dessen Witwe Winifred, illustre Gäste in dem gastfreien Sandsteinbau aus und ein. Feinsinnig tauschten sie sich aus und huldigten einander nach Gebühr, machten und hörten Musik – und „netzwerkten“, wie der ortsansässige Musiktheatermann und Autor Claus J. Frankl sagte, als er aufgeregt das (vor-)letzte Konzert der diesjährigen Musica Bayreuth moderierte. 

Im Schatten der Väter

Freilich tat ers nicht in der Villa Wahnfried, denn ihr Saal hätte weder das Symphonieorchester aus Karlovy Vary fassen können noch das Publikum, das am Donnerstag das Markgräfliche Opernhaus bis zum letzten Sitzplatz füllte. Ein angemessener Ort für solch ein Gedenkkonzert ist der prächtige Rokokobau ja auch: Immerhin führte dort 1860 die Coburger Hofoper, unter royaler Anteilnahme, den „Tannhäuser“ auf, und Richard Wagner selbst dirigierte hier, die Grundsteinlegung für sein Festspielhaus zelebrierend, Beethovens Neunte. Bayreuth steckt voller Paradiese für Musiker und ihre Musen.

    Jetzt steht David Robert Coleman am Pult des Opernhauses, um den Abend kompakt festlich und feierlich mit Richard Wagners „Meistersinger“-Ouvertüre zu eröffnen und zwei Stunden später, deutlich beschwingter, mit Franz Liszts markigen Magyaren-Posen aus dessen zweiter „Ungarischen Rhapsodie“ zu beschließen. Überhaupt macht die zweite Hälfte des Programms mehr her als die erste vor der Pause. Als Rückenfigur präsentiert sich der englisch-deutsche Dirigent und Komponist dem – heftig applaudierenden – Publikum ausstrahlungsarm und geht wohl auch en face nicht als Charismatiker durch. Jedenfalls musizieren die (nicht immer intonationssicheren) Musikerinnen und Musiker aus Karlsbad unter ihm zwar dienstwillig, aber eher pflichtschuldig als inspiriert. Bis zur Glanzlosigkeit glättet und planiert der 55-Jährige den Klang, sodass ein beseeltes Ausdrucksrelief nur selten entsteht und die Holz- und Blechbläser viele Gelegenheiten für explizite Soli ungenutzt verstreichen lassen.

     Wie es sich anfühlt, unterm Schatten eines strahlenden Großvaters und eines übermächtigen Vaters zu stehen, das hat Siegfried Wagner, Richards Sohn und Franz Liszts Enkel, sein Leben lang erleiden müssen. Mit seinen fünfzehn vollendeten, ausgedehnten Opern, unter anderem, versuchte er mit den Idolen zu konkurrieren; warum ihm das nicht gelang, erweist sich beim großen Vorspiel zur (bis heute niemals szenisch aufgeführten) „Heiligen Linde“: Allzu vielen seiner oft reizvollen Einfälle mangelt es an Durchhaltevermögen. 

Sympathische Pausbäckigkeit

Immerhin verdankte er sein solides Komponierhandwerk dem hörbar ingeniöseren Engelbert Humperdinck, der Papa Richard beim „Parsifal“ assistierte, vierzig Jahre lang, so Moderator Frankl, „Dauergast in Wahnfried“ war und mit seiner Märchenoper „Hänsel und Gretel“ einen Welthit schuf. Der „Traumpantomime“ daraus verleiht der Dirigent eine sympathisch naive Volkstümlich- und Pausbäckigkeit, die auch das Unheimliche ins Versöhnliche wendet; im „Abendsegen“, danach, pflegt das Orchester die Tugend eines feinen Pianissimo, in dem es allerdings vordergründig ausharrt, bis das Blech eine Dosis hymnischer Emphase beisteuert. Später muss sich die überambitionierte Musikdramatik Siegfried Wagners von der „Fledermaus“-Ouvertüre von Johann Strauß senior und den Mitteln der sogenannten leichten Muse belehren lassen, wie substanziell Ideen sein müssen, um zu zünden.

     Von der Erfindergabe eines Frühvollendeten und Frühverstorben künden Coleman und die Symphoniker im überraschendsten und imponierendsten Beitrag des Abends. „Paradise Lost“: Den Garten Eden, so wie er den ersten Menschen in John Miltons unheilschwangerem Bibel-Epos von 1667 verloren geht, imaginierte 1895 der junge, mit Siegfried Wagner eng befreundete Brite Clement Harris in einer farben-, wirkungs- und ereignisreichen Tondichtung. Gellend-kurz schreien Flöten und Oboen, Klarinetten und Trompete im ersten Takt auf, bevor sich eine viertelstündige Vision aus dräuender Dramatik und Sturmgebärden wie aus Wagners „Holländer“ entfaltet, aus Tutti-Schicksalsschlägen und -Machtworten, beschwörenden Einwendungen der Sologeige, entrückten Schwärmereien, empfindsamen Atempausen … – die kühne Talentprobe eines 23-Jährigen, der keine zwei Jahre nach der Uraufführung als Freiwilliger im Türkisch-Griechischen-Krieg sein aussichtsreiches Leben sinnlos ließ. Umso eindrücklicher gelingt dem Ensemble der Ausklang der fantastischen Orchesterfantasie mit unverhofft daseinsfrohem Zukunftsglauben: Ohne die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies gäbe es auf Erden keine Menschen.



Manchmal hilft das Wünschen

Mit zwei Schlachtrössern des Repertoires erfreuen die Hofer Symphoniker das Konzertpublikum in Selb. Zum zweiten Mal steht im Rosenthal-Theater die Südkoreanerin Holly Hyun Choe am Pult. Der Pianist Roman Borisov begeistert nicht mit „russischer Pranke“, sondern Fingerspitzengefühlen.

Die HoferSymphoniker unter Holly Hyun Choe im Rosenthal-Theater mit Roman Borisov am Flügel: "Gerade so viel Noten, Euer Majestät, als nötig ist." (Foto [1]: thu)


Von Michael Thumser

Selb, 22. Juni – „Full moon and empty arms“: Schmachtend sang Frank Sinatra den „magischen“ Vollmond an, damit der seinen „einzigen Wunsch“ erfüllen und seine „leeren Arme“ endlich mit seiner Angebeteten „füllen“ möge. 1945 war das, in einem Schmuse-Hit, den Buddy Kaye und Ted Mossman dem Sänger passgenau auf den Leib und in die samtige Kehle geschrieben hatten. Bekanntlich half das Wünschen dem Entertainer: Unzählige Frauen sanken in Sinatras Arme, vier Mal war der Womanizer verheiratet. Da müssen andere weit mehr Gemütskraft und Geduld in ihre Sehnsucht investieren: Johannes Brahms beispielsweise – dessen dritte Symphonie die Hofer Symphoniker unter Holly Hyun Choe am Donnerstag in Selb ausbreiteten –, er hatte jahrzehntelang um die orchestrale Großform gekämpft, bevor er sie, immerhin schon 43-jährig, 1876 mit seiner Ersten in den Griff bekam.

     Ähnlich (wenn auch anders) Sergej Rachmaninow: Der schien den krachenden Schiffbruch nicht verwinden zu können, den er kurz vor seinem 24. Geburtstag 1897 mit der Uraufführung seiner ersten Symphonie erlitten hatte. Danach schien kein Wünschen mehr zu helfen: Während dreier langer Jahre lähmte ihn das demütigende Debakel, und erst eine ausführliche Hypnose-Kur stellte ihn so weit wieder her, dass er sein zweites Klavierkonzert in c-Moll komponieren konnte. Mit dem allerdings erfüllten sich dann alle Träume: Nach der triumphalen Uraufführung eroberte er mit dem grandiosen Werk die Welt – bis heute eines der unumgänglichen, nie versagenden Schlachtrösser des Repertoires.

Ein Stern? Vielleicht.

Wer es reiten will, muss so sicher im Sattel sitzen wie Roman Borisov. Mit dem erst 21-jährigen Künstler geht ein neuer Stern, ein Star vielleicht am Himmel des Klavierspiels auf, wie Kritiker schon meinten. Nicht einmal mit den schier unzumutbaren Schwierigkeiten eines so herausfordernden Werks wie Rachmaninows Opus 23 muss er noch mühsam ringen und darf sich also völlig auf den Ausdruck konzentrieren. Solche Fähigkeiten brachten den jungen Russen denn auch gründlich von dem ab, was lang genug als viel bestaunte „russische Schule“ gegolten hat: ein Klavierspiel mit entfesselter „Pranke“, gnadenloses Flügel-Schlagen. Borisov, am Steinway, weiß das große Schwelgen im großen Schmerz ohne Aufputz zu genießen, die Wucht mit dem Weh auszubalancieren, noch in der leisen Lyrik lautere Leidenschaften anzudeuten. Vom Orchester nicht einfach nur begleitet, tauscht er mit ihm ‚symphonisch‘ die Führungsrolle Mal um Mal. Fingerspitzengefühle: Für sie wird ihn das Publikum mit Bravorufen bestürmen.

Roman Borisov: Wucht und Weh (Foto: PR/Nikolaj Lund)

     Den ersten Satz mit seinen berühmten solistischen Anfangsakkorden geht Borisov zügig an, um von vornherein den Verdacht der Tränenseligkeit abzuschütteln. Gleichwohl bekennt er sich als Romantiker durch und durch. Doch legt sein Spiel mit der steten Klarheit des variablen Anschlags, der Transparenz auch im Passagenwerk, dem wohlbemessenen Pedalgebrauch alles Gewicht auf den Bekundungswillen der Komposition, wie er sie auffasst, nicht auf platt-plakative Gefühlsduseleien deplacierter Pianisten-Grandezza. So versetzt er den ersten Satz mit viriler Traurigkeit und verleugnet auch die Rührstück-Qualitäten des Adagios nicht, adelt beides aber mit ergreifender Seriosität. Selbst in fiebrigsten Passagen des Finales verliert er den fragilen Kontakt zum Orchester nie und gibt sich dem traumhaften zweiten Thema – der „Full moon and empty arms“-Ballade –, in der Art hin, wie Frank Sinatra es einst tat: samtweich und seelenvoll, trunken, indes nicht sinnlos berauscht

Meister der Ökonomie

Was sich Mozart von seinem ignoranten Kaiser hatte vorhalten lassen: „Zu viele Noten, streiche er einige weg, und es ist richtig“ – das lässt sich ebenso in Rachmaninows Fall mit Mozarts Replik entkräften: „Gerade so viel Noten, Euer Majestät, als nötig ist.“ Immer gründet geniale Musik auf kluger Ökonomie ihrer Mittel – und hierin darf Johannes Brahms als Meister gelten. Blechlastig gibt das F-Dur-Dreiklangsmotiv am allerersten Beginn der dritten Symphonie, seiner kürzesten und vielleicht populärsten, die idée fixe an, die fortan wie ein unsichtbares Festnetz die Architektur des Ganzen zusammenhält. Durch sie hindurch führt Holly Huang Choe die Symphoniker gespannt und straff, wenn sie dem Allegro-Kopfsatz auch etwas mehr einheizen könnte mit dem brio, dem Elan und „Feuer“, das die Satzvorschrift verlangt. Vielleicht hält sie sich lieber an die Deutung Clara Schumanns, der Gattin von Brahms’ Mentor Robert Schumann, die das Werk mit Beethovens sechster Symphonie, der „Pastorale“, in Verbindung brachte. Zu solcherart gedämpfter Dramatik stimmt denn auch die Unaufgeregtheit des Satzschlusses.

Holly Hyan Choe: Naturnahe Leichtherzigkeit, bedenkliche Einschübe. (Foto: PR)

     Pastoral sodann, wie Hirtenmusik der Klarinetten und Fagotte, der Auftakt zum Andante; doch belässt die Dirigentin das gleichmütig Leichtherzige, gleichsam Naturnahe des Satzes nicht ohne bedenkliche Einschübe. Satter Gesang der (nur vier) durchsetzungskräftigen Celli, distinguierte Einsätze der Hörner und Posaunen sorgen für Momente einer Feierlichkeit, die bis in den milden Schein der getrosten letzten Takte hinüberstrahlt.

Verkappter Walzer

Vom Reichtum der Stimmungen, auf den die 31-jährige Südkoreanerin zugreifen kann, durfte das Selber Publikum sich schon im März vergangenen Jahres bei ihrem ersten Auftritt in der Stadt überzeugen; nun aufs Neue: Denn ebenso stimmig wie kontrastierend fügt sie einen verkappten, ungarisch gefärbten, in Moll-Dur-Wechseln seufzenden Walzer an. An dessen hoffnungslosen Schluss knüpft sie das Final-Allegro, in dem sie im Orchester nun betont drängende Kräfte befreit, die unstillbare Heftigkeit einer hitzig zerrissenen Rhythmik. Dann aber besänftigt sie das Ensemble doch zu salbungsvollen Blech-Akkorden und Streicher-Flirren. Auch bei ihr signalisiert der – immer wieder überraschende – heilsame Schluss der Symphonie Ausgleich in der aufgewühlten Seele, friedvolles Einverständnis mit dem Hell und Dunkel der Welt: Jetzt ist sie gerade mal hell.

     Trotzdem hilft das Wünschen, ob unterm Mond oder der Sonne, nicht jedes Mal. Brahms hegte für Clara Schumann, seine große Liebe, solang er lebte unerfüllbare Gefühle. Und wenn auch im „Verflixten siebten Jahr“, Billy Wilders brillanter US-Filmkomödie von 1955, Marilyn Monroe eine Treppe herab an den Flügel zu Tom Ewell schwebt, der sie inbrünstig mit Rachmaninows c-Moll-Konzert zu verführen trachtet („Das ist nicht fair…!“), so steht doch fest, dass er die Schöne niemals kriegt: Sie bleibt sein feuchter Traum.

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Musik von den seligen Inseln

Die Hofer Symphoniker breiten in Stammbachs Marienkirche den „Garten Eden“ aus. In unterschiedlichen Besetzungen interpretieren Musikerinnen und Musiker des Orchesters Werke der vergangenen zwei Jahrhunderte. Dabei beweisen sie feinen Klangsinn - und einen Hang zur Rarität.

Juliane Bühler und John Manganaro, Suren Babayan und Alan Korck (von links): „Wachet auf, ruft uns die Stimme“. (Fotos: thu)


Von Michael Thumser

Stammbach, 20. Juni – Zur Feier des Tages hätte man den Abend auch mit zwei Vuvuzelas eröffnen können. Dass zwei Stunden vor dem Anpfiff der Europameisterschaft durch die gut hundert Dezibel, die das gefürchtete Geschmetter der Fußballtröten leicht erreicht, Altar und Fenster der Stammbacher Marienkirche, erst recht die Trommelfelle der Besucher Schaden nehmen könnten, das wollten die Hofer Symphoniker freilich nicht riskieren. Auch war zu Beginn des Kammerkonzerts noch gar nicht abzusehen, wie glorreich die deutsche Mannschaft über Schottland triumphieren würde. Vernünftigerweise verließ man sich darum auf die bedächtigeren Kundgebungen zweier Alphörner: Feierliche Dreiklangsmotive, von Alan Korck und Suren Babayan, dem früheren und dem amtierenden Solohornisten, allein durch variable Lippenspannung intoniert, bezeichneten den Beginn der beiden Programmhälften unmissverständlich geräuschvoll und doch in nobler Sanftmut.

Harfenengel als Stuckschmuck am Kanzelaltar der Marienkirche: Lieblingsinstrument des Himmels, des Elysiums und Paradieses.

     Besser als Stadionlärm passt dergleichen zu einer Werkauswahl, mit der sich zwei- bis fünfköpfige Ensembles „Im Garten Eden“ umtun. „Lauter Lieblingswerke“ der beteiligten Orchestermusikerinnen und -musiker, wie die moderierende Intendantin Cora Bethke versichert, reihen sich zwei klangsinnige Stunden aneinander; nicht zuletzt der Harfe ist der Abend gewidmet, dem Lieblingsinstrument des Himmels, des Elysiums und Paradieses. 

     Gleich den Auftakt bestreitet sie solistisch: Mit „Danse sacrée et danse profane“, Claude Debussys Diptychon, hat Ruth Munzert kürzlich schon in der Hofer Hospitalkirche geglänzt (siehe Rezension vom 18. Mai auf dieser Unterseite); diesmal begleitet von den Geigen Elena Gonashvilisund Federico Rüdigers, der Bratsche Petia Ivanovas und Tamara Melikians Violoncello fügt sie die Tänze magisch-beschwingt in die bestens geeignete Akustik auch dieses Gotteshauses ein. Ähnlich „heilig“ und „weltlich“ zugleich die Unterhaltungsmusik für das Jesuskind, die Melanie Schönbichler und Carolina Lima aus der „Kindheit Christi“ auswählten, dem Oratorium „L’Enfance du Christ“ von Hector Berlioz. Mit der sacht anschiebenden Harfe zum Trio vereint, geben sich die Flötistinnen im wiegenden Dreiertakt einem beschaulichen Idyll hin; umso flinker hingegen der Mittelteil: Immerhin befindet sich die Heilige Familie gerade auf der Flucht nach Ägypten.

Ein Schmachtfetzen, schmerzlich schön

Bei gleich drei Gelegenheiten macht sich das Streichquartett, für viele die Königsdisziplin der Kammermusik, in Stammbach geltend, wobei die Herren Katsarski und Rüdiger, die Damen Ivanova und Melikian, dazu der Bratschist Anton Bonev, der Cellist Alexey Shestiperov und Eugen Rabkov am unterstützenden Kontrabass die Aufgaben wechselweise unter sich verteilen. „Tres doux“, sehr mild, bewegen sie sich durch den ersten Satz aus Maurice Ravels einzigem Werk der Gattung, dessen unterschwellige Ungeduld sie elegant und empfindsam reserviert in traumschöne Klarheit überführen. Während dreier „Skizzen“ des im Jahr 2000 gestorbenen Bulgaren Marin Goleminov inszenieren sie trotzige „Kinderspiele“, flirrende Sommerhitze bei gleichsam stehender Luft zur „Ernte“-Zeit und, über motorisch-unregelmäßigen Metren, einen robusten Bauerntanz. Schließlich entreißen sie den Tango „Oblivion“ der titelgebenden „Vergessenheit“, was Astor Piazzollas prominenter Evergreen eigentlich nicht nötig hat; leidenschaftlich geht der sonst deutlich beherrschtere Primgeiger Katsarski hier aus sich heraus: ein Schmachtfetzen, voll von schmerzlich-schönem Schmelz.

Tamara Melikian und Ruth Munzert (links) im "Cinema Paradiso": Strahlkraft im Ton, subtile Nuancen.

     Noch ein Quartett, freilich von ganz anderer, wenn auch nicht minder empfindsamer Art: Dafür vereinen sich die Herren Korck und Babayan, die Alphörner zur Seite legend, mit Juliane Bühler und John Manganaro. Bei Nikolai Tscherepnins sechs Quartetten für vier Hörner lassen sie sich, im Zusammenklang stets abgerundet und samtweich, in einer Besetzung hören, die außerhalb von Orchestermusik kaum je zu erleben ist. Eine knappe Viertelstunde reicht ihnen, um vom Sentiment des anfänglichen Nocturne über die Signalrufe einer dynamischen „Jagd“ bis zum Choral „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ zu gelangen und dabei eine imponierend breite, stets dunkelfarbene, aber filigran kolorierte Palette von Empfindungen zwischen warmer Vertraulichkeit und Seelentrost zu durchqueren.

     Schier verzweifeln könnte hingegen ein Filmvorführer, der das Augenlicht verliert; nicht so der blinde Projektionist Alfredo im „Cinema Paradiso“, mit dem der italienische Regisseur Giuseppe Tornatore 1988 dem Lichtspielhaus der ‚guten alten‘ Sorte ein Ehrenmal geschaffen hat. Grandios im strahlkräftigen Ton, subtil im Umgang mit seinen Nuancen, breiten Tamara Melikian und ihr Cello Ennio Morricones Hauptthema der Filmmusik und seinen Gestus erfüllter Sehnsucht aus. Gern überlässt Ruth Munzert an der Harfe der Künstlerin die Führungsrolle, zurückhaltender noch in der „Sicilienne“ einer ebenfalls blinden Tonsetzerin aus dem Österreich der Wiener Klassik: Wie einen Minnesang stimmt die Cellistin das Stück an, nachdrücklich werbend, dennoch jenseitig genug, dass sie damit wohl auch im Garten Eden Gehör fände. Der passende Name der Komponistin: Maria Theresia Paradis; ihre Musik: ein verliebtes Lied wie von einer Insel der Seligen.

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Zwei Seelen in der Brust
Die Hofer Symphoniker erteilen „Frühlingsboten“ das Wort. In Jean Françaix’ „Blumenuhr“ schlägt den Glücklichen keine Stunde. Doch in Werken der früh vollendeten, früh verstorbenen Lili Boulanger und von Johannes Brahms zeigt sich: Auch an hellen Tagen ist nicht alles eitel Sonnenschein.

Von Michael Thumser

Hof, 10. Juni – Das Schicksal hat es mit Lili Boulanger sehr gut und auch sehr schlecht gemeint. Gerade neunzehnjährig entschied sie 1913 mit ihrer grandiosen Kantate „Faust et Hélène“ den hürdenreichen Wettbewerb um den Prix de Rome für sich. So großartig entfaltete sich die Begabung der Französin, dass sie aus heutiger Sicht auserwählt schien, sich zur bedeutendsten Komponistin in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu entwickeln. Doch sie war dazu verurteilt, die Tragik so manches Riesentalents zu teilen. Seit ihrer Kindheit litt sie an Krankheiten der Lunge und des Darms, die sie mit starken Schmerzen heimsuchten. Wie ihre ältere Schwester Nadia (berühmt als Klavierpädagogin und Kompositionslehrerin) mitteilte, starb sie friedlich, aber ganz entkräftet, 24 Jahre alt. Unter den ‚späten‘ Werken, die Lili Boulanger nur noch diktieren konnte, ist „D’un soir triste“ wohl das letzte: wahrlich ein Stück über einen „traurigen Abend“, lebensabendliche Musik.

Céline Moinet vor den Hofer Symphonikern: Kammermusikalische Aura. (Fotos: Sebastian Steinel)

     Beim Konzert der Hofer Symphoniker im Festsaal der Freiheitshalle stand es am Freitag, des Programmtitels „Frühlingsboten“ ungeachtet, tief betrübt am Anfang. „So pocht das Schicksal an die Pforte“, soll Ludwig van Beethoven die ersten Takte seiner Fünften beschrieben haben – bei Lili Boulanger indes stellt sich die Vorsehung auf sachten Füßen in gemäßigtem Marsch-Metrum ein. Vom Pult aus lässt Joseph Bastian dunkles Grummeln sich dissonanzenreich verbreiten, überträgt die Führungsrolle des – in seiner leidvollen Resignation radikal konsequenten – Werks vorübergehend der Sologeige und dem ersten Cello, gibt Großer Trommel, Pauke und Tamtam ihren Einsatz, heißt die Celesta glöckeln, die Harfe schallern. So webt das Orchester aus kaum greifbarer Motivik die Sphäre einer Nacht, deren dunkle Herkunft weniger un–irdisch als unterirdisch anmutet, wenn sie auch nicht ohne schemenhaften Glanz vergeht.

Daseinsdrang und Sterblichkeit

Tod – und Verklärung? Die zweifelhaften Jenseitslichter der letzten Takte überführt der französische Dirigent unmittelbar in den „Frühlingsmorgen“ der kaum halb so langen, im selben Todesjahr entstandenen Tondichtung „D’un matin de printemps“. Beiden Seelen in der Brust der Komponistin verleiht Joseph Bastian eine Stimme: ihrem bis zum Ende unbeirrt sich regenden Daseinsdrang sowohl wie dem Bewusstsein unausweichlicher Sterblichkeit. Im zügigen Dreiertakt des vermeintlichen Idylls treibt er das Orchester zu einer skeptischen Munterkeit an, ohne dass es sich ganz ins Leichtherzige öffnen soll. In jedem der zwei erstaunlichen Werke glorifiziert er die ausgeprägt eigene, klassisch-moderne Klangsprache der grandiosen Komponistin – und dokumentiert ergreifend den unglücklichen Selbstausdruck einer jugendlichen Todgeweihten.

     Damit verglichen, wirkt der Frühling, der 1959 in Jean Françaix’ „Blumenuhr“ anbrach, wie ein Fest der Vitalität und Farbigkeit. „L’Horloge de Flore“: In sieben unterhaltsamen Miniaturen leitet Bastian mit dem stark verkleinerten Orchester die Chronologie eines sorgenfreien Sonnentags von den Blüten ab, die sich im Lauf der Stunden öffnen, vom Schneeglöckchen über die Wachs- und die Wunderblume bis zur – wenig traurigen – Trauergeranie und zur Nachtnelke. Etappe für Etappe regen sich frühsommerliche Säfte – aber sie verströmen sich nicht als gedankenlose Sonnenanbeterei.

Poetische Naivität

Dazu trägt die sympathische Unaufgeregtheit Céline Moinets bei: In sich ruhend, wählt die Solistin vorrangig Spielarten und Schattierungen einer gewichtslosen Poesie und unbeschwerten Naivität. Als Charismatikerin geht sie, zumindest äußerlich, nicht durch, allerdings unterstützt die Bescheidenheit ihres Auftretens die kammermusikalische Aura der Abschnitte. Zusammen mit dem Begleitensemble ist Moinet gefahrlos zu Hause in den unzähligen Kapriolen und Schrulligkeiten der unablässig mutierenden Metren und Rhythmen. Durch behutsame Phrasierung bildet sie formvollendete Bögen, die sie zuweilen in ätherischem Pianissimo verschwinden lässt. Von flirrenden Streicherteppichen lässt sich ihr sorgsam justierter Oboenton tragen, liebevoll schmachtet er wie bei einer Serenade, hat aber auch Freude daran, sich in einer rasselnden Rumba gehen zu lassen. Fidele Frechheiten nimmt sich die Künstlerin im Schlussstück heraus, einer fast zirkusbunten Gute-Laune-Musik, die gleichwohl nie als Rausschmeißer randaliert: Alles bleibt delikat.

Joseph Bastian: Menschliches Maß seriöser Würde.

     Furcht und Frühling, „Stirb und werde“: Die zwei Seelen des Abends, in seinem ersten Teil weitgehend separat erschlossen, finden nach der Pause, in der vom Publikum mit Beifall überschütteten Interpretation von Johannes Brahms’ erster Symphonie, zwingend und bezwingend zusammen. Mit den Schlägeln der Pauke und deren insistierendem Puls klopft hier „das Schicksal an die Pforte“. Die tragische Wucht des Kopfsatzes belastet der Dirigent nicht durch noch mehr Pathos, als die Partitur ohnehin vorsieht, aber sein kontrolliertes Temperament leitet das jetzt wieder voll besetzte Ensemble dazu an, sie mit aufgefächerten Druckkräften auszuspielen. So bleibt Entspannung in den ersten fünfzehn Minuten des dreiviertelstündigen Werks ein Ding der Unmöglichkeit. Noch über das Ausatmen des Satzschlusses dominiert das pochende Herz des Orchesters, die Pauke. Da drängt Unheil heran.

     Und bleibt dann doch aus. Den bisherigen Todernst bricht Joseph Bastian im Andante durch inständigen Trost aufs menschliche Maß seriöser Würde herunter. Pastorale Anmut gar verströmen die Musikerinnen und Musiker im anschließenden Allegretto; ein Scherzo sah Brahms nicht vor, aber zwanglose Ungeduld erlaubt der Dirigent ihnen schon, zumal im sich erwartungsvoll erhitzenden Mittelteil. Im Finale, ungefähr von den mächtigen Ausmaßen des Anfangs-Allegros, nehmen sie dessen theatrale Fatums-Gebärden wieder auf: Mit Choralmotiven und gebieterischen Rufen der Hörner, feierlicher Hymnik erst der Streicher, dann der Holzbläser setzt sich, passioniert aufwallend, ein begeisterter Lebensdurst durch, ein kategorischer Imperativ, wie er sich in unverlässlichen Zeiten hören lassen kann: Nimms nicht so tragisch! Alles wird gut.

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Der Himmel auf Erden
Von Windsor Castle ins Markgräfliche Opernhaus: The Queen’s Six, Hofsänger des englischen Königs Charles III., begeistern das Publikum der Musica Bayreuth im ausverkauften Rokokotheater mit erlesener A-cappella-Kunst zwischen Renaissance-Puristik und Pop-Rock.

The Queen’s Six mit (von links) Elisabeth Paul, Joy Sutcliffe (die für den Countertenor Tom Lilburn einsprang), Simon Whiteley, Andrew Thompson, Dominic Bland und Nicholas Madden in Bayreuth: Sonne und Mond, Meer und Sterne. (Foto: Musica Bayreuth/Andreas Harbach)


Von Michael Thumser

Bayreuth, 4. Juni – Wenn ein Vokalensemble daran geht, eine Landkarte der Sterne zu entwerfen – mapping the stars –, dann darf erwartet werden, dass die Damen und Herren wie die Engel tirilieren. The Queen’s Six bleiben da den Erwartungen nichts schuldig. Am Freitag bei der Musica Bayreuth zu Gast, versicherten sie singend: „Heaven is a Place on Earth“ – und verwandelten das Markgräfliche Opernhaus zwei Stunden lang zu einem polyphonen Himmel auf Erden.

     Aus dem Parkett und von den Rängen des ohnehin himmlischen Rokokotheaters schlägt der Gruppe begeisterter Applaus entgegen. Gut fünfhundert Besucher fasst das Haus und ist ausverkauft – freilich hat sich das Ensemble auch an weitaus größere Zuhörerscharen gewöhnt: Als es, vor fast genau sechs Jahren, zur Hochzeit von Meghan Markle und Prinz Harry sang, hörten ihm während der Liveübertragung über vier Milliarden Menschen zu; desgleichen bei den Begräbnisfeierlichkeiten 2021 für Prinz Philipp und im Jahr darauf für „unsere geliebte Queen Elizabeth II.“ – Erfolge, die sich „traurigen Anlässen“ verdanken, wie die Künstler zwar in Bayreuth einräumen. Doch von Haus aus sind Tod und Trauer weit weniger ihr Geschäft als es der lebendige Musik-Alltag auf Windsor Castle ist. Dort firmieren sie viel beschäftigt als Hofsänger von King Charles III. und der königlichen Familie und sind sogar selbst mit ihren Familien im Schloss zu Hause. Warum dann nicht „The King’s Six“? Weil sie sich im Jubiläumsjahr 2008 formierten, 450 Jahre, nachdem eine andere Queen Elizabeth Englands Thron bestiegen hatte, die erste ihres Namens.

Melancholie und Munterkeit

Tief wurzelt das Sextett in den heimatlichen langen und üppigen Chor- und Gesangstraditionen, die seit jeher traurige und fröhliche, festliche und vergnügliche Anlässe mit wertbeständigen Kompositionen begleitet haben. In zwei „Sternen“-Stücken aus der Renaissance, von Michael East und Claudio Monteverdi, lässt es sich gleich zu Beginn auf jenen Dualismus des Ausdrucks ein: erst mit eleganter Munterkeit, dann, gewichtiger und inniger, mit feiner Melancholie. Der diffizilen Faktur dieser und weiterer Sätze von vor gut vierhundert Jahren begegnen Elisabeth Paul und Joy Sutcliffe, Dominic Bland und Nicholas Madden, Andrew Thompson und Simon Whiteley mit einer untereinander genau abgewogenen Leichtigkeit der Ton- und Textgestaltung, die sich in der trockenen, aber nicht saftlosen Akustik des Wunderraums tadellos entfaltet. 

     Zutiefst seriös, teils tragisch, immer aber fern von Larmoyanz und Pathos breiten sie die Salbung der Kompositionen aus. Ohne einebnende Glättung behält jede der Stimmen ihren Eigencharakter und ihre Vitalität, gleichwohl schließen sie sich – ganz gleich, ob zu sechst, zu fünft, zu viert agierend – zu einer dynamischen Ganzheit aneinander und zusammen. Den Damen, namentlich der wahrlich engelsgleich schallenden Elisabeth Paul, ist von Fall zu Fall die Führungsrolle zugewiesen. Aber jede und jeder hütet sich vor belcantierender Vordringlichkeit.

Witziges aus dem Vatikan

Den flapsigen Conférencen der Sängerinnen und Sänger passt sich der leichtherzigere, poppige Teil des Abends an. Dass es darin nicht minder funkelnd zugeht, beweist an der Schnittstelle „Mapping the Stars“, eine ingeniöse Auftragsarbeit des noch jungen Komponisten Toby Young, die sowohl dem Programm als auch dem zur Veröffentlichung anstehenden neuen Album der Queen’s Six den Titel gibt: Klein- und unvorhersehbar vielteilig vereinzeln sich die Bruchstücke eines kunstvollen Mosaiks über die Stimmen, die ihre Einsätze und Gemütslagen oft binnen Augenblicken wechseln – das am eindrucksvollsten strahlende Gestirn am durchweg leuchtenden Firmament des Bayreuther Repertoires. Ein witziger „Vatican Rag“ (von Tom Lehrer) führt mit Stilanleihen bei der Gregorianik und anfänglich strenger Satzkunst von den alten Meistern fort, um zu Hits etwa der Bands Coldplay und Starship oder aus den Disney-Filmen „Hercules“ und „Pinocchio“ überzuleiten. Die hochartifiziellen Arrangements erweisen sich als nicht weniger ausgeklügelt als die puristischen Tongefüge der Renaissance.

     Von Bob Chilcott, der zwölf Jahre lang als Teil der legendären King’s Singers wirkte, leihen sich The Queen’s Six „Sun, Moon, Sea, and Stars“ aus: Der Text sei „einfach nur Gefasel“, spotten sie, was sie wohl kaum ernst meinen – die Musik jedenfalls verströmt sich herrlich sentimental, von Dominic Blands Tenorsolo gedämpft wie mit Mondlicht übergossen. Eine „mutmachende Botschaft“ verkünden die sechs, so wie in ihrer Musik, schließlich auch mit gesprochenen Worten: die Sehnsucht nach „Sternen, Hoffnung, Glück und Liebe“. Wenn das Wünschen allein schon helfen würde: Es öffnete sich der Himmel auf Erden.

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Fragen und Fragmente
Das Quatuor Hermès fordert das Publikum der Musica Bayreuth mit einem  anspruchsvollen Programm heraus. Neben dem zweiten Streichquartett von Johannes Brahms demonstrieren zwei Werke aus dem Jahr 1923 die Bandbreite eigenwilliger Musik zwischen Gefühlsdruck und Sublimation.

Das Quatuor Hermès mit Yan Levionnois, Yuko Hara, Elise Liu und Omer Bouchez (von links): Innere Verbundenheit bis hin zur Kongruenz. (Foto: PR)


Von Michael Thumser

Bayreuth, 20. Mai – Leicht hat er es sich nicht gemacht. Durch eine Scheidung lösen wollte Leoš Janáček sich nicht von Zdeňka, seiner Frau; aber bereits seit vierzig Jahren schritt der Zerfall ihrer Bindung fort, als er 1923 daran ging, sein erstes Streichquartett zu komponieren. Siebzig Jahre war er da schon alt, doch brauchte er nur eine Woche für die Partitur – so aufgerüttelt hatte ihn die berühmte Ehemord-Novelle „Die Kreuzersonate“, deren Titel Leo Tolstoi von Beethoven und Janáček von Tolstoi entlieh. In den Brüchen, im Fragmentcharakter seines Stücks drückt sich das Thema zwischenmenschlicher Zerrissenheiten gültig aus.

     Im Weißen Saal des Schlosses Fantaisie eröffnete am Freitag das Quatuor Hermès damit sein Gastspiel bei der Musica Bayreuth – mit einer Interpretation, die den Anschein erweckte, als wollten die zwei jungen Damen und zwei Herren die Sehnsucht und die Schroffheit, das flehentliche Fragen oder bange Beben eines verkrachten Paars in angespannte und labile, zerbrechliche und widerspenstige, ergriffene oder verzweifelte Töne transponieren. Zur Kleinteiligkeit eines Puzzles sprengt das französische Ensemble die kaum überschaubare Gemengelage der Empfindungen auf, ohne dass es das mit Absicht deutlich wahrnehmbare Netz der Bruchstellen zwischen den Affektentladungen und Erinnerungssplittern trügerisch zu glätten oder zu kitten versuchte. Durch fahles Tremolo stellt es noch die Polka-Anspielungen des zweiten Satzes in ein Zwielicht. Partnerschaftlich trachten sich Primarius Omer Bouchez und Cellist Yan Levionnois im Kanon des dritten Satzes einander anzunähern – ein Bemühen, das Elise Liu mit der zweiten Geige und Bratscherin Yuko Hara brüsk unterbinden. So stellt denn auch das Finale, das am versöhnlichsten, hellsten, freiesten gerät, den Einklang zwischen den Gefühlen nicht wieder her.

Einverständnis und Anpassung

Den Musizierenden indes fehlts selber nicht an innerer Verbundenheit bis hin zur Kongruenz (einige Ausrutscher der Intonation nicht eingerechnet). Nicht nur in Janáčeks an Widersprüchen und Wechselfällen übervollem Werk beweisen sie enges Einverständnis im Ausdruck und gründliche Anpassung aneinander bei der oft staunenswerten Gleichzeitigkeit im Rhythmischen. Jedoch entfalten sie im eher kleinen Saal der markgräflichen Sommerresidenz in Donndorf einen doch so ‚großen‘ Ton, dass er vielmals Überdruck, mitunter schneidende Schärfe riskiert. Den Zusammenklang nachvollziehend zu durchhören, fällt den etwa achtzig Hörenden nicht immer leicht; was freilich ihrem reichen Beifall keinen Eintrag tut.

Schloss Fantaisie, Südseite: Etwa achtzig Besucherinnen und Besucher eines betont anspruchsvollen Abends. (Foto: thu [Archiv])

     Auch Johannes Brahms hat es sich, fünfzig Jahre vor Leoš Janáček, nicht leicht gemacht. Derart eingeschüchtert starrte er auf Ludwig van Beethovens übergroßes Vorbild, dass er mehr als ein Dutzend Streichquartette ent- und verwarf, bevor er endlich eins für würdig hielt, sein erstes zu heißen. Das zweite (opus 52/2) steht am Schluss des Donndorfer Auftritts, im anfänglichen Allegro aus sachter Melancholie sich bald aufwühlend und aufklarend. Sachkundig erfasst das Quatuor Hermès die Seriosität in der besonderen Lyrik des Komponisten, seinen bezeichnenden Ernst, der keine Nüchternheit verträgt. Im Andante erholt es sich vom dichten Drama des Auftakts, nicht ohne die Gefahr des Rückfalls. Unruhig schwersinnig versenkt es sich in den dritten Satz, um sich zwischendurch in einer übersprudelnden Vivace-Episode sozusagen am eigenen Schopf aus der Grübelei herauszuziehen. Beinah grimmig mündet das zupackende Finale in eine Stretta des Durchsetzungswillens und der Selbstbehauptung.

Dabei beglaubigt das physische Gebaren, erst recht das Mienenspiel der Interpreten, wie kompromisslos sich jede und jeder unter ihnen der Musik von einer Phrase und Phase zur nächsten hingibt. Sorgsam balancieren die drei Oberstimmen untereinander ihre Gleichgewichte aus; hingegen neigt allzu häufig das Cello zu unangebrachter Dominanz, wobei Yan Levionnois zugute zu halten ist, dass er, bei exquisiter Tongebung, für Untergründe von garantierter Beständigkeit sorgt.

Zwischen Hades und Himmel

Solcher Grundhalt kommt nicht zuletzt dem Streichquartett Gabriel Faurés zugute, ist es doch von den drei Kompositionen des Programms die klanglich volatilste, am linearsten komponierte, am wenigsten expressive. Leicht hat es sich der französische Tonsetzer damit nicht gemacht: Den spröden Schlussstein fügte er mit dem (erst postum uraufgeführten) Opus 121 in sein Œuvre ein – 1923, im selben Jahr, in dem Janáček seine „Kreuzersonate“ schuf –, denn auch Fauré war fast lebenslang vor der Konkurrenz mit Beethoven zurückgescheut. Übrigens griff der 78-Jährige im ersten Satz auf den einzig erhaltenen Kopfsatz eines ansonsten verschollenen, wohl auch unvollendeten Violinkonzerts zurück, mit dem er sich 44 Jahre zuvor auseinandergesetzt hatte.

Allerdings blieb von der damals passioniert entwickelten Hochromantik nicht viel übrig im kargen Alterswerk. Mit vergeistigtem, gleichsam frei schwebendem Spiel bekunden die Musikerinnen und Musiker, wie spartanisch Fauré das Themenmaterial von einst entschlackt, wie ungebunden er die stark modulierende Harmonik von allen schulmäßigen Fortführungen und Auflösungen entbunden hat. Die Ideen des Jahres 1879 knüpfen die vier sublimiert in ein Gewebe scheinbar loser – wenngleich in Schloss Fantaisie etwas starker – Fäden, feinsinnig-übersinnlich verflüssigen sie alle drei Sätze zu weltabgewandten Abarten einer vorwärtswellenden Esoterik. Den letzten Klang des Mittelsatzes lässt das Quatuor Hermès - das seinen Namen nach dem hellenischen Vermittler zwischen Hades und Götterhimmel wählte - sich wunderbar im Äther eines entschwindenden Piano-Pianissimo verlieren. Der am schwierigsten zu verstehende, Konzentration und Kondition des Auditoriums am stärksten fordernde Beitrag des überhaupt betont anspruchsvollen Abends wird daraus: Leicht machts einem Kammermusik beileibe nicht in jedem Fall.

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Spielarten der Lebendigkeit
Beim Kammerkonzert der Symphoniker in Hof leuchten drei Streicherinnen und drei Streicher Tschaikowskis Streichsextett mit wechselnden Graden von Schwung und Ausdruck aus. An der Harfe zeigt sich Ruth Munzert, ungeachtet ihrer Virtuosität, von Grund auf zartbesaitet.

Elena Gonashvili und Federico Rüdiger, Petia Ivanova und Anton Bonev, Young Phil Hyun und Tamara Melikian in der Hospitalkirche: Ensembleklang von beinah orchestraler Fülle. (Fotos: thu)


Von Michael Thumser

Hof, 18. Mai – Wenn einer eine Reise tut, so bringt er meist was mit. Ein „Souvenir de Florence“, Erinnerungsstück an die Traumstadt am Arno, wars 1890 bei Pjotr Iljitsch Tschaikowski, nachdem er in der Toskana, endlich entspannt, an seiner Oper „Pique Dame“ hatte arbeiten können. Drei Jahre vor seinem Tod umgaben Ruhm und Glanz den produktiven – freilich von mancherlei Zerrissenheiten angefochtenen – Komponisten zumindest äußerlich, das Bühnenwerk versprach ein Erfolg zu werden. Wieder daheim, verwirklichte er, derart motoviert, die in Italiens Licht geborene Idee zu seinem einzigen Streichsextett wie in einem Schaffensrausch. Nicht freilich als Jubelfeier aus eitel Sonnenschein: In Moll (d-Moll) steht das nach innen wie nach außen große Werk, das Vitalität nicht platt als Frohsinn missversteht.

     Wahrscheinlich darf es als des Meisters populärste kammermusikalische Schöpfung gelten; und das, obwohl es kaum je live zu hören ist. Seine anspruchsvolle Besetzung erschwert eine Aufführung, wie sie jetzt allerdings, beim jüngsten Kammerkonzert der Hofer Symphoniker, sechs Streicher von wohlausgewogener Gleichrangigkeit bestritten: Vor dem Altar der Hospitalkirche – und 120 gespannten und gebannten Besucherinnen und Besuchern – nehmen Elena Gonashvili und Federico Rüdiger mit ihren Violinen, mit den Bratschen Petia Ivanova und Anton Bonev sowie Young Phil Hyun und Tamara Melikian an den Celli Platz. Die exquisit, weil ungemein dicht gearbeitete Partitur übertragen sie in einen Ensembleklang von beinah orchestraler Fülle.

Eindringliches Zwiegespräch

Gleich mit ihrem couragierten Aufbruch in den Kopfsatz entfalten sie leidenschaftlich ein raumfüllend tönendes Volumen von hochgradiger Gedrängtheit. Die trockene Akustik in der Kirche hilft ihnen dennoch, weitgehend Transparenz zu wahren. In die Begehrlichkeit der Gebärden mischen sich bisweilen sogar Formulierungen fast ärgerlicher Ungeduld, doch stehen gegen die Unmissverständlichkeit kräftiger Akzente auch leuchtende Kantilenen, durch deren Lyrik die strenge Kontrapunktik vor aller Lehrbuch-Steifheit bewahrt bleibt. Zu zärtlich-eindringlichem Zwiegespräch finden Violine und Cello im zweiten Satz zusammen, dem die anderen mit Lauten-artigem Pizzicato einen vertraulichen Serenaden-Gestus aufprägen. Zur Impulsivität und Expansion des Anfangs, sie am Ende steigernd, kehren die sechs in der zweiten Hälfte des Werks zurück: im Allegretto eine Geschwindstrecke galoppierender Rhythmik aufmüpfig überwindend; im sportlich angegangenen Final-Vivace mit seiner nicht italienisch, vielmehr russisch inspirierten Tanzthematik durch brausende Verve. Brillanter Schlusseffekt: Mit starkem Beifall belohnt ihn das Publikum.

Ruth Munzert: Streichen und Streicheln, Kraulen und hätschelndes Besänftigen.

     Ein Saiteninstrument von umso distinguierterem Charakter hat zuvor in zwei kürzeren Beiträgen das Zentrum der Musik markiert. An der Harfe eröffnet Ruth Munzert den Konzert-Spätnachmittag mit Gabriel Faurés prominentem Solo-Impromptu opus 86. Indem sie salbungsvolle Hymnik und quecksilbriges Temperament verschmilzt, zersplittern Melos und Harmonik, freilich ohne dass die Interpretin sich Unschärfen und Verschwommenheiten erlaubte. Weniger wie ein handfestes Greifen sieht ihre Arbeit an den Saiten aus, eher wie ein Streichen und Streicheln, Kraulen und hätschelndes Besänftigen. Auch in exaltierten Augenblicken behält sich ihr Spiel einen Kern der Empfindlich- und Zerbrechlichkeit vor.

     So auch in Claude Debussys „Danse sacrée et danse profane“. Federico Rüdiger sowie die Damen Gonashvili, Ivanova und Melikian reduzieren die streicherorchestrale, ohnehin intime Begleitung des gegensätzlichen, gleichwohl auseinander hervorgehenden Tanz-Paars in geschmackvoller Zurückhaltung auf die noch konspirativere Dimension des Streichquartetts. Auch in diesem Fall erproben die Musizierenden Varianten einer sich auffächernden Lebendigkeit: Im Drei-Viertel-Takt steigert Ruth Munzert den „weltlichen“ Tanz zunehmend virtuos zu einem nicht leichtsinnigen, doch sorgenfreien Walzer. Zuvor hingegen, im „geistlichen“ Tanz, verschleiern die fünf das gleichfalls dreihebige Metrum „doux et expressiv“, sanft und ausdrucksvoll, hinter mysteriösen Melodie-Fragmenten und Anklängen an die fünftönige Skala exotischer Pentatonik. Gravitätisch und andachtsvoll formen sie ein schier körperloses „Souvenir“, Andenken an die Vorzeiten einer ursprünglichen Spiritualität.

■ Weiteres Kammerkonzert mit Ensembles der Hofer Symphoniker: Freitag, 14. Juni, Stammbach, Marienkirche, 19 Uhr, „Im Garten Eden“.
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Fernfahrt zu den Sternen
Mit Feingefühl und Emphase führte Martijn Dendievel als designierter Chefdirigent die Hofer Symphoniker durch Musik aus Skandinavien und Lettland. Der Deutschlandfunk zeichnete das Konzert – mit Vadim Gluzman als phänomenalem Solisten – auf und strahlte es am selben Abend aus.

Vadim Gluzmann vor den Hofer Symphonikern unter der Leitung von Martijn Dendievel: Gesang der Geister über den Wassern. (Foto: thu)


Von Michael Thumser

Hof, 7. Mai – Was wohl tat am ersten Schöpfungstag der „Geist“, nachdem er genug „über den Wassern geschwebt“ hatte? Er machte sich – so könnte einen die Musik von Pēteris Vasks glauben machen – in den Kosmos davon, zu den klingenden Sphären, den Sternen und ihrem „Fernen Licht“. 

     Wie der Anfang von Allem begann am Freitag beim neunten Hofer Konzert der Symphoniker das so betitelte Violinkonzert des lettischen Komponisten: mit kaum vernehmlichem Tongekräusel aus Vadim Gluzmans Geige, die gut eine halbe Stunde später ihre letzten Äußerungen wiederum ins schiere Nichts eines verschimmernden Piano-Pianissimo entließ. So, vermutlich, hat sich der heute 78-jährige Tonsetzer sein 1997 uraufgeführtes Wunder- und Zauberwerk vorgestellt: Als „Lied, das aus der Stille kommt und in die Stille entschwebt“, beschrieb er es, „voller Idealismus und Liebe“. Stille herrscht nach dem letzten Ton eine ganze Weile auch im Festsaal der Freiheitshalle; bis das Publikum über den israelischen Solisten, das hier nur mit Streichern besetzte Orchester und seinen künftigen Chefdirigenten Martijn Dendievel euphorischen Beifall ergießt.

     Aus der Feder eines tiefgläubigen Menschen ein Werk spiritueller Inspiration: „Mal melancholisch, mal dramatisch“ dachte es sich Pēteris Vasks; dabei liegt das Gros der Kraft in suggestiver Ruhe. Von ihr ausgehend, bändigt der bezwingend expressive Interpret auch die fesselnd bewegten Abschnitte. Namentlich in Perioden kontemplativer Einkehr gemahnt das Konzert an Arvo Pärts „Cantus in memoriam Benjamin Britten“ oder seine „Fratres“. Sacht strömt der Geigenklang Gluzmans durch wechselnde Farbflächen, um sich wiederholt in Clustern, rhythmisch-motorischen Steigerungen, pulsierendem Wetterleuchten erregend zu verdichten. In nicht weniger als drei Kadenzen offenbart er vollends seine Größe und Reife, Entschiedenheit und Differenzierungsgabe, wobei die zweite und dritte den Spieler – und desgleichen die Zuhörenden – radikal herausfordern.

Beschwörend schmerzlich, schmerzlich schön

Einen „traurigen Optimisten“ hat Vasks sich genannt, dennoch lässt er in seinem Violinkonzert Schwersinn nicht zu. Vielmehr bewahren sowohl Vadim Gluzman wie die ungemein penibel agierenden Orchester-Streicher dem Ausdruck eine ungreifbare Leichtigkeit (der nur die störend stampfenden Füße des Solisten widersprechen). Nicht einfach „melancholisch“, sondern beschwörend schmerzlich – und schmerzlich schön – steigen Melodien und Harmonien aus den Saiten auf, indem Gluzman und Martijn Dendievel in spürbar engem Einverständnis alle tragenden Kriterien gleichberechtigt kombinieren: Tempi und Lautstärken, Kolorit und emotionale Intensität. In den Schlussabschnitten tauchen Walzer-Reminiszenzen auf, nicht indes als danse macabre – vielmehr als Tanz „der Geister über den Wassern“.

     Eine Zugabe (Bach) schiebt Gluzman fürs jubelnde Publikum nach; überflüssiges Bonusmaterial: als wäre nicht zuvor schon alles aufs Ergreifendste gesagt gewesen. Nach einem Hauptstück pflegt dergleichen Beiwerk angehängt zu werden, in Hof jedoch gibts eines, wie ein Vorspiel, gleich zum Auftakt des Programms. Das eröffnet Martijn Dendievel mit dem „Interludio“ aus der 1921 uraufgeführten Kantate „Das Lied“ des Schweden Wilhelm Stenhammar. Während fünf oder sechs, wie Kerzenschein gedämpft timbrierter Minuten atmen die Symphoniker, namentlich ihre Blechbläser, sakrale Weihe, gottesdienstliche Feiertäglichkeit. Flächig und pastos malen sie die hymnische Miniatur aus. Entstanden ist sie ursprünglich, um die beiden Teile der chorsymphonischen Komposition zu trennen und zu verknüpfen, die – des Umstands ungeachtet, dass die Kantate leider kaum einmal zu hören ist – zu den grandiosesten Schöpfungen ihrer Art aus dem zwanzigsten Jahrhundert zählt. Der Natur, dem Leben und Gesang huldigt sie; von ihren Mirakeln, Traumhaftigkeiten und Verzückungen lässt ihr (populär gewordenes) Zwischenspiel allein nur wenig ahnen.

Ein „Musikdarsteller“

Eine Elegie ist dies „Interludio“, wie Vasks’ Konzert – und wie die erste Symphonie des Finnen Jean Sibelius. Was der Dirigent in den vorangegangenen Stücken beispielhaft hervorgehoben hat, die fabelhafte Spannweite der Dynamik von extrem niederschwelliger Hörnerv-Reizung bis zur entflammenden Fortissimo-Emphase – hier vollendet er es in vier Sätzen meisterlich. Ein Orchesterleiter, der „Musikdarsteller“ (Hans-Klaus Jungheinrich) ist: Ohne Show-Getue übersetzt Martijn Dendievel die vielfach widersprüchliche Ereignisfülle, das abrupt wandel- und unberechenbare Temperament der so unterschiedlichen wie einander ergänzenden und bedingenden Werkteile in Erschütterungen und Bezähmungen, Spannungen, Beugungen und Straffungen seines flexibel schlanken Körpers, der spontan eine sozusagen beredte Mitteilsamkeit entfaltet. Dendievels Interpretationen zuhören heißt auch, ihnen zuzusehen: Den Hörenden vermittelt der Künstler ein buchstäblich leibhaftiges Bild der Musik.

     Den Kopfsatz führt er von grollendem Paukenwirbel und Thomas Faltlhausers stilgerecht zwielichtigem Klarinettensolo fort in die durcheinanderwehenden und -wirbelnden Motivfetzen der Durchführung, dann zu plötzlicher Klarheit und Ekstase. Den rhapsodischen Grundzug der sibeliusschen Tonkunst, das vage Hell-Dunkel ihrer Atmosphäre betont Dendievel hierbei wie im ganzen Werk. Aus gleichmäßigen Herzschlägen der Harfe heben die Symphoniker mit gedämpften Streichern das Andante heraus, Bläserpassagen, von den Hörnern angeführt, grundieren es mit einer pastoralen Stimmung, deren sanftem Druck allerdings Sturmepisoden entgegenwirken. Eine Musik der poetischen Ungeschliffenheit: Sie verfälschend weich zu waschen und zu glätten, fällt dem Dirigenten zum Glück nicht ein. Schon gar nicht in den fast ungehobelten Kraftsammlungen des Scherzos; das endet, den Mäßigungen in seinem Trio zum Trotz, beinah in Raserei; um dann so gut wie übergangslos in die nervenaufreibenden Zerrissenheiten des Finales einzumünden. In ihm stößt Martijn Dendievel auf flutenden Geschwindstrecken unvermittelt zu paradiesischen Gefilden vor, die sich unter schäumenden Turbulenzen auftun und wieder darin untergehen.

Als Optimist, wenngleich als „trauriger“ wie Pēteris Vasks, gibt sich hier auch Jean Sibelius zu erkennen. Vasks will mit Musik, wie er selbst sagt, „der Seele Nahrung geben“: feine Stärkungen, subtil aromatisiert. Sibelius’ Erste deckt den – begeistert applaudierenden – Zuhörerinnen und Zuhörern die Tafel weitaus deftiger und schenkt ihnen voll ein. Als Genussstücke für empfängliche Sinne taugen beide Werke, jedes auf andere Art. Die Einheit des Abends erwächst aus ihrem Widerspruch.

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Unendliche Weiten
Zwei Weltmeister der Filmmusik: Die Symphoniker inszenieren in Hof den „Sound of Hans Zimmer & John Williams“ als ganz großes Kino für die Ohren. 2500 Besucherinnen und Besucher aller Altersklassen aus nah und fern bereiten ihnen einen ohrenbetäubenden Triumph.

Die Hofer Symphoniker und der Film Choir Prague unter Ben Palmer im Großen Haus der Freiheitshalle: Plastisch und farbsatt, episch, lyrisch und dramatisch. (Fotos [2]: Andreas Rau/www.raulinse.de)


Von Michael Thumser

Hof, 30. April – Das Kino entwirft Bilder, um eine Geschichte zu erzählen. Beides kann auch die Musik. Im Film stehen beide in einem symbiotischen Verhältnis: Das eine kann nicht ohne das andere, und schon Klassiker wie „Psycho“ oder „Spiel mir das Lied vom Tod“, in Deutschland die Karl-May- oder Edgar-Wallace-Adaptionen straften früh das dumme Diktum Lügen, die beste Filmmusik sei jene, die man gar nicht wahrnehme.

     Kino zum Hören gabs reichlich am Sonntag in Hof, und derart plastisch und farbsatt, episch, lyrisch und dramatisch intonierten die Symphoniker die Hits, dass man die Bilder nie entbehrte. Sowohl auf Konzertpodien als auch in den Programmen seriöser Rundfunksender boomt die Filmmusik. Dass sie, als ein Hauptmedium der sogenannten Neuen Klassik, auch dort, wo sie live erklingt, eine geradezu singuläre Anziehungskraft ausübt, das bewiesen die sage und schreibe 2500 Besucherinnen und Besucher aller Altersklassen aus nah und fern, die das Große Haus der Freiheitshalle bis zur letzten Tribüne füllten. Am Ende bereiteten sie den Musikerinnen und Musikern, dem Film Choir Prague und dem Dirigenten Ben Palmer stehend einen Triumph, ohrenbetäubend wie der „Sound of Hans Zimmer & John Williams“ in den Stunden zuvor.

Lange Listen

„Bedenkt man, welche Mengen an Musik Bach komponierte und wie viele Werke Mozart in nur 34 Lebensjahren schuf, durchschaut man, wie unterbeschäftigt ich bin“, spöttelte der große Ennio Morricone selbstironisch – und hatte doch mit seinem unverwechselbaren Idiom etwa fünfhundert Filmen zugearbeitet. Ganz so lang sind die Werkverzeichnisse von John Williams und Hans Zimmer nicht, aber für „unterbeschäftigt“ darf man auch diese beiden nicht halten. Beim gebürtigen Deutschen Zimmer, Jahrgang 1957, schwanken die Angaben zwischen hundert und 150 Partituren, auf etwa hundert hat es Williams gebracht; zuletzt, mit stolzen 91, ließ er sich im vergangenen Jahr bei „Indiana Jones und das Rad des Schicksals“ vernehmen. In Hof rissen seine Klangmalereien unter anderem zu den Steven-Spielberg-Spektakeln „Hook“, „Star Wars“ und „Jurassic Park“ das Publikum hin, im Wechsel mit Atmosphäre-Stürmen Hans Zimmers, so zu „Interstellar“, „Dune“ oder „Fluch der Karibik“. Temperamentvoll, stilkundig und anpassungsfähig arbeiteten die Symphoniker die Eigentümlichkeiten der beiden Persönlichkeiten heraus, soll heißen: die Gemeinsamkeiten ihrer Tonsprachen ebenso wie deren Unterschiede.

2500 Besucherinnen und Besucher: Menschentrauben vor der Freiheitshalle. (Foto: thu)

     Denn Unterschiede gibt es, die vor allem. Einig sind sich die beiden mit Oscars verwöhnten Hauptvertreter des gegenwärtigen Hollywood-Sounds immerhin darin, dass ihre Einfälle, abschließend arrangiert, sich als ‚ganz großes Kino‘ über das ‚ganz große‘ Orchester ausbreiten. In der Freiheitshalle nehmen folglich vor und neben dem Chor aus Tschechiens Hauptstadt auch reihenweise Musiker an Keyboards und Gitarren, Pauken und Trommeln, Glocken und sonstigem Schlagwerk Platz. Kein Programm intimer Beeinflussungen – dafür sorgen schon die Lautsprecherboxen der Soundanlage. Trotzdem wird jedes der beiden komponierenden Alphatiere in seiner Eigenart kenntlich, das verdanken sie dem entspannten, gleichwohl zupackenden Dirigat des auch schon mal launig plaudernden Ben Palmer, der mit seinem Engagement keinen der Heroen spürbar bevorzugt.

     Unterschiede: Zimmer brachte sich das Handwerk selber bei, fügt seine Ideen via Computern zusammen und kann – wie Daniel Boschmann als eloquenter Moderator in seinen witzigen Conférencen verrät – keine Noten lesen. Dagegen ließ sich Williams von der Pike auf ausbilden. Spätromantisch, vielstimmig arbeitet er seine Partituren aus, auf deren teils emphatischen Optimismus sich die Symphoniker mit voluminösen Klang-Symbolen für Aufbruch und Zukunftsglauben einlassen. Durch ausgedehnte Tonräume, durch vielerlei chromatisch sich ablösende Tonarten verfolgen sie das Geschehen und würdigen die Stücke mit satten Bläsereinsätzen und dem Schimmer und Glitzer aus Harfe und Glöckchen als Blaupausen virtuoser Instrumentationskunst. In der deutsch-österreichischen Spätromantik eines Erich Wolfgang Korngold, der als genialer Doyen aus der älteren Geschichte US-amerikanischer Filmmusik herausragt, auch in der marschverliebten britischen Moderne etwa William Waltons wurzelt Williams’ Geschmack – und nicht zuletzt in Gustav Holsts berühmter „Planeten“-Suite, an der er für „Star Wars“ Maß nahm. Den Weltraum und seine sprichwörtlichen „unendliche Weiten“ füllte er mit 45 Themen für neun Filme der Science-Fiction-Reihe.

Düfte und Brisen

Dirigent Ben Palmer und Moderator Daniel Boschmann (links): Launige Plaudereien.

Auch ohne Leinwand, im Konzertsaal, kann seine Musik bestehen. Zum Vergleich daneben und dazwischen gestellt, offenbaren sich Zimmers – nicht minder gehypte – Arbeiten als eher unterkomplexe Begleitung zu den sichtbaren Vorgängen auf der Leinwand. Wenn Williams seine Klänge „wie Düfte“ mischte, so umwehen einen bei Zimmer, der sich an die plakativen Formeln von Rock und Pop hält, steife Brisen dicker Luft. Während Williams sich dem Kinostoff vom Melos her nähert, so Zimmer von der Aura, dem Klima, der Stimmung einer Handlung. Um Effekt und Wirkung ist er dabei freilich nicht verlegen: Wuchtig bis gewaltsam, auch in zurückhaltenderen Momenten wummernd Bass-orientiert, mit absichtsvoll monotonen Strukturelementen der minimal music inszenieren die Symphoniker die Überwältigungsästhetik einer Illustrationskunst, die das krachende Geräusch nicht scheut und bis zu grundschütterndem Getöse hochtürmt – sensurround hieß das in den Lichtspielhäusern der Siebzigerjahre.

     Anders als Williams komponierte Zimmer auch fürs songselige Kinomusical. An die Einfallskraft des Älteren reichen seine Melodien dennoch nicht heran; nicht an eine Kanzone wie John Williams’ ergreifend schlichtes main theme zu Steven Spielbergs Holocaust-Drama „Schindlers Liste“: Konzertmeister Lorenzo Lucca als Solist beseelt es mit dem ungebrochenen Schmelz tragischer Tonschönheit. Notgedrungen bleiben cineastische und filmmusikalische Gipfelleistungen wie diese Einzelfälle – angesichts der Flut von Kinofilmen, die Jahr für Jahr in den etwa hundert produzierenden Ländern auf Erden entstehen. Rund 6500 sind es im Durchschnitt: für Soundtrack-Erfinder ein Betätigungsfeld von schier unendlicher Weite.

■ Die Hofer Symphoniker im Internet: hier lang.


Von woandersher
Eine Rarität allein genügt den Symphonikern nicht: Bei ihrem achten Hofer Konzert lassen sie im Festsaal eine ausgewachsene Orgel erklingen. Und sie widmen das Programm (fast) vollständig einer unbekannten Komponistin aus Schweden: Elfrida Andrée hat einen Platz im Repertoire verdient.


Von Michael Thumser

Hof, 16. April – Wenn das Publikum nicht zur Orgel kommen kann, dann muss die Orgel eben zum Publikum kommen. Das Instrument, das am Freitag in Hof erklang, kam sogar von ganz woandersher: aus Essen; natürlich nicht im Ganzen – wie auch. Immerhin besitzt das gewaltige Instrument, das die Schweizer Firma Kuhn Anfang der 2000er-Jahre in der dortigen Philharmonie installierte, 4502 Pfeifen, und die bleiben an der Ruhr, wo sie hingehören. An die Saale fanden am Freitag immerhin ihre hellen und dunklen, feinen und sonoren Stimmen, vollständig digital gesampelt, von den drei Manualen und dem Padal eines schlicht-schwarzen Spieltischs aus via Lautsprecherboxen in den Festsaal der Freiheitshalle projiziert. Eine ausgewachsene „Königin der Instrumente“, ein Orgelkonzert gabs in diesem Raum noch nie. Damit freilich waren die Symphoniker bei ihrem achten Hofer Konzert der Saison noch nicht am Ende der Besonderheiten angekommen.

Christian Schmitt auf der Orgelbank im Festaal: Helle und dunkle, feine und sonore Stimmen. (Foto: H. Dietz Fotografie)

     So gut wie vollständig nämlich ist das Programm einem einzigen fähigen, hierzulande unbekannten Tonsetzer gewidmet – noch dazu einem weiblichen Tonsetzer, der 1929 gestorbenen Schwedin Elfrida Andrée; insofern also ein ausgesprochen weiblicher Abend. Dagegen steht auch nicht, das mit Robert Schumanns Ouvertüre zu seinem dramatischen Tongedicht „Manfred“ ein ausgesprochenes ‚Männerding‘ wenigstens den Auftakt markiert: Fast überraschend, wie überstürzt steigen Dirigent Hermann Bäumer und das Orchester ins Geschehen ein, indem sie über drei Akkorde schnell hinabsteigen in eine vagabundierende Nachdenklichkeit, die sich alsbald zu aufgewühlten Leidenschaften in ebensolcher Natur zusammenbraut. Die zugrundeliegende Dichtung Lord Byrons – kein Bühnen-, sondern ein Lesedrama über Inzest und übermännlich verzweifelndes Schuldbewusstsein vor wilder Gebirgskulisse –, sie wird bei Schumann zu einem Theater im Innern und bei Bäumer zu Momenten einer Seelen-Oper aus dunklem Drängen und Feierlichkeit und mit einem hoffnungslos, aber mannhaft resignierendem Schluss.

     Männer auch wirken als Protagonisten des Abends. Neben Bäumer nimmt der international geschätzte Konzertorganist Christian Schmitt auf der Orgelbank Platz. Dem lebensendlichen Ernst der schumannschen Ouvertüre stellt er den Optimismus und die Beschaulichkeit von Elfrida Andrées zweiter Symphonie für Orgel und Blechbläser von 1892 entgegen. Nicht sakral tönt das Essener Instrument in Hof, sondern ganz und gar diesseitig, während der lichte Bläsersatz, das leichte Bläserspiel des begleitenden Ensembles alles Blaskapellen-Gedöns vermeiden. Konzertierend lösen sich der Solist und die Begleitenden in gegenseitiger Ergänzung ab, indem sie die positive Grundstimmung mal durch ätherische Süße, mal durch Unheimlichkeit brechen. Unerwartet schwermütig endet der Mittelsatz – dem das Final-Allegro mit umso siegesgewisserem maestoso widerspricht. Und allerdings bieten die Komposition und ihre Interpreten genug Geschmack auf, um auch Episoden der Besonnenheit und Regeneration ausreichend Raum zu gönnen.

Weibliche Ermächtigung

Dennoch wächst ein Ganzes nicht recht zusammen, gewinnt doch die auf Chips gespeicherte Expressivität der Orgel von der Ruhr im Festsaal an der Saale nie definitive Gegenwärtigkeit. So wie der Ton einer Violine im Resonanzraum ihres Korpus geboren wird, so bindet sich die leibhaftige Wirkung der Essener Orgel eben doch unlösbar an die gewaltigen Ausmaße der dortigen Philharmonie. Aufs Kleinformat herabgedimmt, scheint ihr Klang von woandersher in den Saal zu gelangen, ohne Fülle und Facetten des ihr angestammten Volumens ausloten zu können. Nicht 4502 Pfeifen, nur die High-End-Lautsprecher klingen.

     Doch zugegeben, als Experiment verdient das Gastspiel des ortsfremden Instruments Interesse – zumal die Komponistin desgleichen und noch größere Aufmerksamkeit verdient. Sowohl als zielstrebige Kämpferin für die gesellschaftliche und künstlerische Gleichrangigkeit sich ermächtigender Frauen in der Männerwelt bewährte sie sich in ihrer Heimat wie als inspirierte Schöpferin eines umfangreichen Œuvres, das einen Platz im Repertoire verdient. Eine schwedische Romantikerin – aber aus exotischer Ferne oder Fremde scheint ihre Musik nicht zu kommen. Offenkundig fühlte sie sich dem deutsch-österreichischen Idiom ihrer Zeit stärker verpflichtet als prominentere Landsmänner wie Hugo Alfvén, Wilhelm Stenhammar oder Wilhelm Peterson-Berger. Während ihre Orgelsymphonie etwa an die Konzerte Josef Gabriel Rheinbergers gemahnt, so empfing Andrée für ihre erste Symphonie in C-Dur aus dem Jahr 1879 hörbar Einflüsse von Schumann und Brahms.

Flirren und Flattern

Eigenwillen entfaltet sich gleichwohl darin, schon mit den ersten Takten, aus deren ungeduldigem Streicher-Flirren und -Flattern Dirigent Bäumer imponierend stimmungsvielfältige Einfallskräfte befreit. Bezwingend betont er kräftige Kontraste, temperamentvoll verweist er auf die Freiheit der Komponistin, die statt eines Scherzos ein „Intermezzo“ mit fugiertem Beginn folgen lässt. Über leitmotivisch bebenden Bratschentrillern entfalten die Symphoniker dann die ungewissen, schwer erklärlichen Stimmungen des breiten Andante, bis sie mit Schubkraft in den Finalsatz aufbrechen. Pressant, auch schon mal launig durchqueren sie ihn, als wärs Schumanns (durchaus verwandte) „Frühlingssymphonie“. In ein Theater im Innern lädt auch dies vielerorts durchsonnte Werk ein: in ein Sommertheater.

     Ganz ohne große Bühne kommt hingegen das kürzeste, vielleicht schönste Stück des Abends aus. Nur mit den Streichern entwirft Hermann Bäumer bewegt und beseelt ein „Andante quasi Recitativo“ Elfrida Andrées, worin sich über dunklem Grund die Konzertmeistergeige Lorenzo Luccas zu schmerzlichen Anrufungen erhebt, bis sich das sanfte Fließen in einer elegischen Träumerei verliert. Eine Miniatur vergänglicher Empfindsamkeit, fragil in Klang und Ausdruck: Mit feinster Akkuratesse formen die Musikerinnen und Musiker sie aus, kaum fünf zeitlose Minuten lang. Nicht gleich ein ganzes Theater des Innern tut sich auf, sondern nur ein paar Szenenbilder, die aber schimmern wie nicht von dieser Welt, berückend transzendent: von woandersher.

■ Der Bayerische Rundfunk hat das Konzert mitgeschnitten und sendet die Aufnahme am Mittwoch, dem 24. April, um 20.05 Uhr auf seinem Programm BR Klassik.
■ Die Hofer Symphoniker im Internet: hier lang.



Frischluft im Sommerwind
Die Hofer Symphoniker bereiten ihrem Publikum in Selb einen rein französischen Abend: Zwischen einer populären Suite von Debussy und einer Rarität aus der Feder Georges Bizets brilliert Orchesterfagottist Tonko Huljev mit dem Konzert von André Jolivet – und fügt noch ein Extra-Feuerwerk an.

Tonko Huljev im Rosenthal-Theater vor den von Enrico Delamboye geleiteten Hofer Symphonikern: "Viele Noten, aber ziemlich kurz" (Foto [1]: thu)


Von Michael Thumser

Selb, 26. März – Der Ton des Instruments sei „edel wie der keines andern“, stand einst in einem Lehrbuch zu lesen, und in puncto „Rührung und Erhabenheit“ stehe es „einzig da in seiner Art“. Wovon war damals, 1840, wohl die Rede? Von der Violine? Dem Cello? Der Oboe? Alles falsch. Das Fagott meinte der Autor des Buchs, Vaclav Neukirchner; kein Wunder: Galt der Böhme doch zu seiner Zeit als der Virtuose auf dem Instrument.

     Als nachgeborener Könner seines Fachs stimmt Tonko Huljev der Eloge sicher zu. Der Solo-Fagottist der Hofer Symphoniker nimmt auf Konzertpodien in der Regel ziemlich weit hinten, mithin wenig sichtbar Platz. Dieser Tage aber trat er in Selb als Fagott-Solist hervor: Im Konzert von André Jolivet stand er an der Rampe des Rosenthal-Theaters. Sein leutseliges Lächeln und das türkisfarbene Schillern seines Galahemdes unterstrichen die Unbefangenheit seines glänzenden Spiels und die Nonchalance des von ihm dargebotenen Werks.

     Dem Neoklassizismus gehören die zwei jeweils zweigeteilten Sätze von 1954 an, doch vom melodisch-harmonischen Traditionalismus etwa eines Francis Poulenc, von der frechen Unberechenbarkeit eines Jean Francaix entfernte sich Jolivet, französischer Landsmann der beiden, doch sehr gründlich. Im klassizistisch kleinen Rahmen bleibt das nur mit Streichern besetzte Orchester, dem zusätzlich ein Klavier gläserne Konturen und die Harfe magischen Nachhall beisteuern. Die Tonsprache aber äußert sich avanciert in beredter Atonalität. 

Spielarten der Eloquenz

Während Enrico Delamboye, als Dirigent häufiger Gast des Orchesters, das Ensemble luzid zurückhält, freilich rhythmisch prägnant agieren lässt, darf Tonko Huljev unangefochten dominieren. Mit sprechendem Gestus, enormem technischem Können und vielgestaltig variierender Ausdrucksgabe führt er das Fagott durch alle Spielarten musikalischer Eloquenz: Nachsinnend oder insistierend, verschleiernd oder begütigend, auch schon mal zeternd durchquert er das einleitende Recitativo, fast als ob er improvisierte, bis er, von vorwärtstreibenden Ensembleakkorden motiviert, das „fröhliche“ Allegro gioviale durch jazzige Synkopen lässig, aber fast ungemütlich vorantreibt. Umso schwebender die Poesie des Largo cantabile zu Beginn des zweiten Teils, das Huljevs Fagott durch getragene tenorale Gesangslinien in die Atmosphäre eines Nocturnes hüllt; als Dialogpartner gibt die Konzertmeistergeige ihm dabei Halt. Kräftig und heftig hingegen, fröhlich kratzbürstig bringen der Solist und seine Begleiter das Werk dann mit einem Fugato zu Ende, durch dessen scharfe Rhythmik sie ihm lebendigen Puls verleihen.

     „Viele Noten, aber ziemlich kurz“: So fasst der blendend aufgelegte Künstler Jolivets Partitur zusammen. Darum hat er, im Verein mit einer handverlesenen Kollegenschar, eine nicht minder effektvolle Zugabe vorbereitet: Den Schlusssatz aus Jean Francaix’ Konzert für Fagott und elf Streicher von 1979 absolviert er meisterlich mit blitzgeschwinden Staccati, coolen Koloraturen und einer brillanten Kadenz, in der er gleichwohl unerwarteten Tiefsinn aufspürt.

Feine Farben

Enrico Delamboye: Vehemenz und hymnisches Pathos (Foto: PR/Künstleragentur Seifert)

Vom Anfang bis zum Schluss ist der Abend französischer Musik gewidmet. Der Anfang: die „Petite Suite“, die Claude Debussy in den späten 1880er-Jahren für Klavier zu vier Händen entwarf. Die heute weitaus populärere Orchesterbearbeitung von 1907, die auch er sehr schätzte, verdankt sich indes Henri Büsser. Ihre feinfarbigen Reize weiß Dirigent Delamboye mit kundigem Geschmack auszuschöpfen. Frischluftgenuss im Sommerwind: Während des ersten Tongemäldes rudern die Symphoniker, zart angeführt von Flöte und Harfe, „Im Boot“ über stille, nur gelegentlich sacht aufgewühlte Wasser. Humorvoll und klar sodann sind sie in einem flotten, fast parodistischen „Festzug“ (Cortège) unterwegs, bevor sie im „Menuet“ wie Verliebte Zärtlichkeitsbekundungen tauschen. Schwungvoll werfen sie sich schließlich in die folkloristisch durchtönte Schlussepisode des nun vollends tänzerischen „Ballet“; feurig erinnern die Musikerinnen und Musiker dabei an die (viel später entstandene) „Iberia“ des Komponisten, passioniert überlassen sie sich der ‚Seligkeit‘ eines geschmeidigen Walzers.

     Den begehrten Rom-Preis gewann Claude Debussy 1884, heimisch aber wurde er in Italiens Hauptstadt als Stipendiat der Villa Medici nicht – vorzeitig kehrte er in die Heimat zurtück. Ganz anders Georges Bizet: Knapp dreißig Jahre vorher ausgezeichnet, verliebte er sich derart in das Land, dass er es nach seinem römischen Aufenthalt noch ausführlich und lustvoll durchreiste. Von Rom und Venedig, Florenz und Neapel wollte er sich zu je einem Satz einer „fantaisie symphonique“ inspirieren lassen – bevor er das Werk dann doch vollständig der Metropole widmete. An den sich stark verändernden Entwicklungsstufen jenes „Souvenir de Rome“ oder schlicht „Rom“ genannten Großwerks arbeitete er sich bis zu seinem frühen Tod 1875 ab; endgültig fertigstellen konnte er es nicht. So gründlich aber, wie Enrico Delamboye die 1880 publizierte Fassung letzter Hand als zweite Halbzeit des Programms ausarbeitet, erscheint die so gut wie unbekannte Symphonie als rund in sich geschlossen – kein wirklich großes, doch ein schönes Werk eines Tonsetzers, den der Musikbetrieb allzu ausschließlich auf seinen Opern-Welthit, die unverwüstliche „Carmen“, reduziert.

Waldeinsamkeit

Allerdings: „Rom“? Von italianità kann keine Rede sein. Ein veritabler ‚Wurf‘ ist trotzdem der Beginn: ein Quartett, das die vier Hornisten der Symphoniker mit sanfter Klangkultur, anheimelnd wie in deutscher Waldeinsamkeit intonieren. Wirklich ist der Kopfsatz, „Ruhe“ fordernd, mit Andante tranquillo überschrieben, doch der Dirigent kennt die Stellen, an denen er die Energie bis zu stürmischer Dramatik zu steigern hat. In der wechselvollen Durchführung lässt er Anmut mit dunklen Emotionen streiten, bevor er das Geschehen berückend im Piano schließt.

     Federnd flattert das Fugenthema des zweiten Satzes durch die lebhaften Streicherstimmen – vibrierend ein Scherzo in flotter Fahrt, das der Dirigent während des Trios durch gemütvolle Liedhaftigkeit abbremst. Ganz in gesammelte Melancholie ziehen sich die Streicher zurück, solange sie im dritten Satz zunächst allein das Wort führen. Die hier recht dünne Substanz der Partitur helfen der Soloklarinettist mit einer fein geschliffenen Kantilene, später arabeskenreich die Sologeige im Verein mit Horn und Flöte adelnd zu verdichten. Nach jähem Orchesterschlag und aufmunternden Pfiffen aus der Piccoloflöte beschließt Enrico Delamboye die Symphonie im Final-Allegro mit Vehemenz und hymnischem Pathos, ohne die Satzvorschrift vivacissimo, so lebhaft wie möglich, ganz wörtlich zu nehmen: Wohltuend unterlässt er es, das Tempo zu überhitzen, sodass dem Orchester auch in heiklen Passagen Atem genug bleibt, durch deklamatorische und intonatorische Genauigkeit zu glänzen. 

     „Erhaben“, auch „rührend“ in gewisser Weise und allemal „edel“ – so wie das Fagott Vaclav Neukirchners und Tonko Huljevs – klingt Bizets Rarität in Selb, ein „Souvenir“ durchaus: wenn schon nicht eines an Rom, so doch an eine ‚gute alte‘ Zeit, in der Romantik ungetrübt glühen und schwelgen, sich freuen und begeistern durfte.

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Sechs Kinder in sechs Männern
Heimspiel im „Wohnzimmer“: Vor 25 Jahren schlossen sich junge Mediziner mit hohem musischem Ehrgeiz zum Bläser-Ensemble zusammen. Jetzt feierten die „Brassmatiker“ in Hof, „wo alles begann“, mit einem aufgedrehten Jubiläums- und Benefizkonzert Geburtstag – und einen rauschenden Triumph.

Weder Asthmatiker noch Pragmatiker - die "Brassmatiker" im vollbesetzten Festsaal der Freiheitshalle: (von links) Henning Büscher und Dominik Scheruhn, Christian Albert und Bernhard Frey sowie Benedikt Wittmann. (Foto: Andreas Rau)


Von Michael Thumser

Hof, 14. März – In ausgelassenen Kumpelrunden pflegt sich das Kind im Manne munter zu vermehren. Sechs Kinder in sechs Männern mit grellroten Perücken und in signalgelben T-Shirts rockten, wie man so sagt, den Festsaal der Freiheitshalle, indem sie als strubbelige Pumuckl-Klone quietschvergnügt tutend und blasend die Erkennungsmelodie des beliebten Fernseh-Kobolds intonierten. Es wurde Geburtstag gefeiert, Kindergeburtstag, könnte man meinen: Vor 25 Jahren schlossen die „Brassmatiker“ ihr Bündnis, seit 23 Jahren spielen die Doktoren Scheruhn und Büscher, Albert, Frey und Wittmann als „deutsches Ärzteblech“ zusammen. Zum Jubiläumskonzert holten sich die musisch hochambitionierten Mediziner am Samstag zwei Freunde hinzu: den Trompeter Attila Szegedi von den Symphonikern und Andre Fourie als Schlagzeuger. Drei Stunden dauert der Auftritt in Hof, „wo alles begann“: für die weltweitgereiste Formation ein Heimspiel „in unserem Wohnzimmer“, wie der Hofer Orthopäde Dominik Scheruhn bei der Begrüßung sagte.

     Brechend voll ist es, das „Wohnzimmer“. Achthundert Besucherinnen und Besucher haben kostenlos Zutritt zum Benefizkonzert zugunsten des Inklusiven Posaunenchors der Hofer Lebenshilfe erhalten.  Vergebens begehren vor dem Foyer weitere Trauben von Zu-spät-Gekommenen Einlass; mit Bedauern weist die Security sie zurück. Drinnen kulminiert die Stimmung schon gleich beim Einmarsch des Quintetts (mit „Just a closer Walk“), und obwohl es seine Festgäste hauptsächlich mit Stücken aus dem leichten Fach glänzend unterhält, bezeigt es auch der Klassik seine Reverenz: In Antonio Vivaldis As-Dur-Konzert für Piccolotrompete absolviert Scheruhn als Protagonist mit gellenden Spitzentönen, fliegenden Fingern und flatternden Lippen abenteuerliche Koloraturen; und Henning Büscher, das Volkslied „Mein Hut, der hat drei Ecken“ variierend, feiert einen nicht minder halsbrecherischen „Karneval in Venedig“ – Geschwindigkeit als Hexerei. Während die Truppe zu fünft den Kopfsatz aus Anton Bruckners vierter Symphonie, der „Romantischen“, anstimmt, nutzt Christian Albert die Gelegenheit, mit erhabenen Intervallen aus seinem Horn die Natur zu beschwören. Das passt: Auch einen runden Geburtstag Bruckners feiert die Musikwelt heuer, den zweihundertsten.

Blödeleien und Klamauk

„Wir geben alles“, versichert Dominik Scheruhn mit charmantem Humor. Und wirklich, die Musiker, obwohl sogenannte Laien, erweisen von Fall zu Fall Profiqualitäten. Ungescheut wagen sie sich bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten und, angefeuert von immer stürmischeren Ovationen, auch schon mal darüber hinaus. Zwar, „Brassmatiker“ nennen sich die heilkundigen Instrumentalisten, aber um Atem ringen, wie die beklagenswerten Asthmatiker, müssen sie in keinem Augenblick, und auch für Pragmatiker, die sich kraft sachbezogener Vernunft primär auf Nützliches besinnen, wird sie niemand halten. Denn für Blödelei und zweckfreien Klamauk sind sie in ihrem Schwung durchaus zu haben. 

     Bei „Brooklyn“ wirft sich Bernhard Frey mit entfesselter Posaune mächtig ins Zeug, worauf Hornist Albert und Benedikt Wittmann ihm unverdrossen nacheifern. Letzterer, hauptsächlich Tubist, hat sich für seinen - von André Fouries Drums krachend durchbebten - Moment ein kreisrundes Susaphon um den Leib geschlungenen, dem er durchdringende Wummerbässe entlockt. Und als die fünf aus lauter „Zuversicht und Dankbarkeit“ den Gospel „When the Saints go marching in“ kontrapunktisch mit dem „Halleluja“ aus Georg Friedrich Händels „Messias“ verschmelzen, lassen sie sich zu einer Vokaleinlage hinreißen. Das Publikum, von Anfang an zum Mitklatschen aufgelegt, darf hier sogar mitsingen.

Der Bergdoktor in der Schwarzwaldklinik

Wer sich Tag für Tag als Arzt gefordert weiß und obendrein viel Freizeit mit Notenstudium und Üben verbringen muss, der sieht wahrscheinlich nicht viel fern. Trotzdem kennen sich die „Brassmatiker“ aus in Programmen von gestern bis heute. Von Hans Zellner, dem versierten Arrangeur der „Harmonic Brass“, haben sie sich ein Medley durch populäre Weißkittelserien anfertigen lassen, sodass sich jetzt der „Landarzt“ und der „Bergdoktor“ vereint die Ehre geben und gemeinsam im „Medicopter“ über der „Schwarzwaldklinik“ kreisen. Und weil auch studierte Männer im Herzen Kinder bleiben, machen sie fast noch mehr Freude mit einem vergleichbaren Längsschnitt durch TV-Serien für die lieben Kleinen: Da schaut dann Heidi die „Sendung mit der Maus“, und Jim Knopf flaniert über die „Sesamstraße“. Schon gar nicht darf die Biene Maja fehlen; und fehlt auch nicht: Gelb-schwarz gestreift und mit Fühlern auf dem pelzigen Kopf spielt sie links außen leibhaftig mit.

     Versteht sich, dass die Zuschauenden aus dem Häuschen sind – nicht zuletzt die Brass-Kolleginnen und -Kollegen aus dem Inklusiven Posaunenchor, in dem die Hofer Lebenshilfe seit 2015 Frauen und Männer mit und ohne Behinderung versammelt. Ihnen kommt der beachtliche Erlös des – unter anderen vom Lionsclub Hochfranken gesponserten und organisierten – Konzerts zugute: Sage und schreibe neuntausend Euro kamen allein in den Spendengläsern an den Ausgängen zusammen. Dominik Scheruhn freut sich: „Danke, dass wir heute mit euch auftreten dürfen.“ Quirlig motiviert gibt das vor sympathischem Eifer kaum zu bändigende, von Cornelius Kelber behutsam zur Ordnung gerufene Kollektiv den Spiritual „He’s got the whole World in his Hands“ und eine Variante des Kanons von Johann Christoph Pachelbel zum Besten. Jubel schlägt ihnen dafür entgegen. „Das Publikum war heute wieder wundervoll“, trällern (an anderer Stelle) die „Brassmatiker“, den Zeichentrickhasen Bugs Bunny zitierend. Ein junger Mann verbeugt sich mit ausgelassenem Lachen im begeisterten Gesicht tief und immer tiefer und winkt vom Podium herunter, als nähme er den rauschenden, kaum endenden Beifall stellvertretend für die ganze strahlende Schar entgegen.

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Nach oben und nach innen

Spiritueller Abend mit den Symphonikern: Beim siebten Hofer Konzert bewegt sich das Orchester, von Hermann Bäumer tiefenkundig dirigiert, mit Werken von Olivier Messiaen, Tōru Takemitsu und Anton Bruckner eindrucksvoll zwischen Dies- und Jenseits sowie anderen Extremen.

Kris Garfitt vor den Hofer Symphonikern: Einschmeichelnde Weichheit, Sanftmut wie die eines Saxofons. (Foto [1]: H. Dietz Fotografie)


Von Michael Thumser

Hof, 12. März – Wars ein Hundeleben? Als Sonderling bewegte sich Anton Bruckner beharrlich, wenngleich stockend, stolpernd, unbeholfen durch ein asketisch karges Dasein, von so manchem Komponistenkollegen nicht recht ernst genommen, für sein Orgelspiel, auch für seine Messen bewundert, trotzdem beständig von Zweifeln an seinen Schöpfergaben bis zur Verzweiflung ausgezehrt, mit dem Anlauf zu seinem ehrgeizigsten Ziel, der grundstürzend großen Symphonie, Mal um Mal bei Null beginnend …

     Richtig gut ging es ihm wohl selten. Dann auch noch das: ein „Me too“-Vorfall. Beim Klavierunterricht in einer Fachschule für angehende Lehrerinnen beschwerte sich eine junge Schülerin, nachdem er sich ihr mit den Worten „Mein lieber Schatz“ zugewandt hatte. Sogleich witterte die Presse sexistische Übergriffigkeit – bei einem bekanntermaßen keuschen Josef. Greifbar finden sich Reflexe jener sorgenvollen Lebensperiode in Bruckners zweiter Symphonie aus den 1870er-Jahren, nicht in der Klanggestalt allein, ebenso in Brüchen, Abbrüchen und stummen Unterbrechungen. „Pausensymphonie“ wird sie gelegentlich genannt.

Die Stille gibt Laut

Auch Pausen zum Klingen bringen, Stille laut werden lassen: Darauf wurden die Symphoniker von Hermann Bäumer, ihrem conductor in residence, vor ihrem siebten Hofer Konzert am Freitag eingeschworen. Überhaupt bereitete er sie trefflich vor auf den unvergleichlich überwältigenden ‚Bruckner-Sound‘ mit seiner Bipolarität aus majestätischem Pathos und zartfühlender Introspektion, auf die Architektur und Statik einer aus kompakten Blöcken und lichten Durchlässen voluminös errichteten Tonkunst. Nicht zuletzt durch das Prinzip der Pause verbinden er und die Musikerinnen und Musiker die oft übergroßen, aber nie groben Bauteile, und natürlich erst recht durch die notorischen gewaltige Steigerungsschübe, deren expressives und dynamisches Wachstum Bäumer mit imponierender Ausdauer zu vergrößern weiß, bis zu machtvollen Entladungen – oder zum plötzlichen Umschlag in eine neue, umso verhaltenere, sich neuerlich auftürmende Episode.

     Aus dem Disparaten und dem Desperaten der Themen und Motive, also aus ihrer Ungleichartigkeit wie aus ihrer Neigung zu Stimmungen des Aussichtslosen, formt der Dirigent den Kopfsatz; geradezu inständig fleht dessen Beginn. Gemütsruhe lässt Bäumer ins folgende Andante einkehren, immer aber stellt das Orchester – insgeheim gelenkt vom akkuraten Solohorn – mit Formulierungen der Skepsis und starken Kontraste die ersehnte Gelassenheit infrage. Gleichwohl gehen, über alle Zäsuren hinweg, die Teile organisch auseinander hervor. Anders im Scherzo: Schnell und schwer stampft es los gegen das – am Ende lang applaudierende – Publikum im Festsaal der Freiheitshalle, abrupt aber legen die Violinen im Trio die Druckkräfte vorübergehend lahm durch zarten Saitenzauber wie aus Richard Wagners „Lohengrin“.

Erlösendes LIcht

Fürs Finale sammeln die Symphoniker denn auch wieder Kräfte, in kreiselnden Figuren, als liefe erst ihr Motor warm. Dann fügen sie die attackierenden Schärfen des Satzes mit seinen klaffenden Pausen und seiner Vielzahl divergierender Klangstärken, rhythmischer Impulse und Koloristiken zu einem kolossalen Monument von unumstößlicher Geschlossenheit zusammen. Erinnerungen an die Messvertonungen des  frommen Komponisten schlichen sich in die Partitur ein, und wirklich meint man zu spüren, wie Bruckner sich aus dem Dunkel seiner tiefen seelischen Bedrängnisse zu einem erlösenden Licht durchgräbt, himmelwärts. Das Fragment seiner Neunten hat er, so wird überliefert, „dem lieben Gott gewidmet“; seine Zweite vielleicht auch.

Hermann Bäumer: Klangmonumente von unumstößlicher Geschlossenheit. (Foto: PR)

     Ausdrücklich ganz dem Himmel eignete Olivier Messiaen sein Œuvre zu. Mit dem ersten seiner Orchesterwerke haben die Symphoniker den spirituell durchfluteten Konzertabend eröffnet: mit drei freitonalen Bildern eines tönenden Flügelaltars, die der schwärmerische Katholik 1930 als „Offrandes oubliées“, vergessene Opfergaben, darbrachte, dem Schöpfer und seinem Messias zur Ehre, der lasterhaften Menschheit zur Lehre. Der „Sünde“ ist der durchdringende Mittelteil gewidmet: Brachial, schrill, rhythmisch zerrissen, mit teuflischem Toben aus der großen Trommel entriegelt Hermann Bäumer die Büchse der Pandora. Zuvor hat er über einem Urgrund aus liegenden Bläserakkorden die betroffen einherschreitenden Streicher ans „Kreuz“ geleitet. Zum guten Schluss versammelt er die Musiker beim Abend- und Versöhnungsmahl: Atmosphärisch ungemein fein gesponnen, vollzieht sich die „Eucharistie“ in verklärten, zwischen Dies- und Jenseits schwebenden Streicherflächen und verweht im Äther fast lautlosen Flageoletts.

     Eine „meditation symphonique“. Auch Tōru Takemitsus „Fantasma/Cantos II“ ist eine. In seinen Kompositionen verlegte der Japaner das Geistliche ganz ins Geistige, ins innere Leben und Erleben. Aus einer Grundhaltung konzentrierter Zurückhaltung erwachsen fast alle seine Kammer- und Orchesterstücke, so auch dieses, das 1994, zwei Jahre vor seinem Tod, entstand. Wenn Takemitsus Intimität sich durch „schweres Blech“ entfalten soll, dann braucht es dafür einen Posaunisten wie Kris Garfitt, der 2022 beim bekanntermaßen hürdenreichen ARD-Musikwettbewerb glanzvoll als erster Preisträger hervorging. In Hof belehrt der 31-jährige Brite all jene eines Besseren, die sich womöglich voreilig vor den Durchschlagskräften seines Instrumentes gefürchtet haben. 

Magie der Farben

Nichts von festlichen Fanfaren und scharfen Signalen: Mit solcher Sanftheit singt und spricht Garfitts Posaune, dass ihre Stimme an die eines seidigen Saxofons, einer kantablen Klarinette denken lässt. Harfe und Glocken, Vibrafon und Tamtam füllen die Luft im Saal mit Magie, Farbwolken wie von Debussy schweben aus den Reihen der Symphoniker auf, übersinnlich, plastisch, tief gestaffelt. Und der (vom Publikum gefeierte) Solist, makellos rein in Tonansatz und Phrasenbau, so behutsam wie stringent in den „fantastischen“ Melodieverläufen seines Parts, auch um Glissandi, Aufrauhungen des Klangs und andere moderne Spielweisen nicht verlegen – er schmiegt sich mit einschmeichelnder Weichheit an die wunderbar transparenten, jede Erdenschwere transzendierenden Klang-Aerosole des Orchesters an.

     Hingegen bearbeitet Kris Garfitts rechter Fuß den Boden der Tatsachen während der Solo-Zugabe mit rhythmisch tappenden Tritten: So imitiert er den wedelnden Schwanz eines geliebten Hundes, von dem Leonard Bernstein einst mit einem fröhlichen Klagegesang Abschied nahm. Wie ein improvisiertes Jazz-Solo swingt die „Elegy for Mippy II“ aus dem Schalltrichter der Posaune, sonnig, sorgenfrei und gut gelaunt. Seliges Ende eines erfüllten Hundelebens: Sehr gelitten hat das Tier wohl nicht.

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Spaziergang in der Dämmerung

Drei Gitarren, eine Flöte: Zum Kammerkonzert laden die Symphoniker zwei Duos in die Hofer Klangmanufaktur. Musik „mit Herz und Leidenschaft“ ist angekündigt, obendrein treffen die Eleganz der Renaissancemusik und die zeitgenössischen Spielweisen der Avantgarde aufeinander.

Johannes Bauer, Benjamin Doß (rechts) in der Klangmanufaktur: Intimes Piano. (Fotos: thu)


Von Michael Thumser

Hof, 7. März – Eines der Stücke im Repertoire von Johannes Bauer und Benjamin Doß heißt „Bad Boy“, kommt aus Japan und stammt von Tōru Takemitsu; aber eigentlich haben es in England die Beatles erfunden. Bad boys, böse Jungs, sind die Künstler nicht gerade. Im Gegenteil, als „Duo chitArte“ wissen sie sich bescheiden zu betragen, streiten nicht miteinander und spielen mit ihren Gitarren dem Publikum keine Streiche. Beim Kammerkonzert, zu dem die Hofer Symphoniker sie und ein weiteres Duo in die mit hundert Besucherinnen und Besuchern ausverkaufte Klangmanufaktur geladen hatten, da entfalteten Bauer und Doß ihre Kunst am Sonntag in sacht bewegter Gleichzeitigkeit des Zusammenspiels, interpretatorisch stets eines Sinnes, ausgehend von der Prämisse eines intimen Pianos. „La guitarra, un corazón“ ist der Abend überschrieben und verspricht „Gitarrenmusik mit Herz und Leidenschaft“. Wirklich herrscht an beherrschtem Gefühl bei den zweien kein Mangel. Ihre Temperamente entfalten sich aber vornehmlich leise. Nicht leisetreterisch, indes ein wenig schüchtern wirken sie vom ersten Beitrag an – drei englischen Renaissancetänzen von William Byrd, bei denen sie ihre Gitarren mit vornehmer Eleganz fast wie Lauten klingen lassen – bis zum britisch-japanischen Schlussstück.

     Dazwischen breiten sie ihren Musizierstil exemplarisch in zwei Sätzen eines Haydn-Streichquartetts (Hob.III:8) aus: durch einen Gestus der Unverfälschtheit und des Effektverzichts; erst im Trio des Menuetts nimmt das Spiel, nun fast grimmig, Fahrt auf. In Isaac Albéniz’ „Córdoba“ aus den „Cantos de España“ schildern sie, nach unheimlichen Glockentönen aus den tiefen Saiten, einen beherzten „nächtlichen Spaziergang“ durch die andalusische Stadt, der sich gut in den verdämmernden Hofer Vorfrühlingsabend vor den Fenstern der Klangmanufaktur einfügt. Schwermütiger, rhythmisch markant halten sie einen Tango Astor Piazzollas dagegen, düsterer auch. Sein Titel: „Lo que vendra“, „Was kommt jetzt?“

Merkwürdige Vermählung

Gabriella Balog, David Antigüedad Mangas: Ungewohntes Klanggewand.

Jetzt kommt ein Duo, das erst einmal aus einem allein besteht: Als männliche Hälfte stellt sich David Antigüedad Mangas zunächst solistisch mit einem „Capricho árabe“ Francisco Tárregas vor, fein in seiner nicht arg ernsten Melancholie, zwischendurch mit der spielerischen Neigung, das Gemüt unaufhaltsam aufzuheitern. Erst dann folgt dem Spanier Gabriella Balog aus Schottland aufs Podium, mit ihrer Querflöte, die zu Beginn des Zusammenwirkens der beiden eine Arpeggione ersetzt. Dies merkwürdige Instrument, in dem sich zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts Gitarre und Violoncello vermählen sollten, wäre längst vergessen, hätte Franz Schubert ihm nicht eine prominente a-Moll-Sonate mit Klavierbegleitung (D 821) gewidmet. In Hof, wo der erste Satz erklingt, erfinden die Interpreten das – heutzutage meist mit Cello dargebotene – Werk gewissermaßen neu: Nach strengem Auftakt kleiden sie es, beseelt von jugendlicher, aber seriöser Munterkeit, in ein völlig ungewohntes Klanggewand.

     Derart motiviert, lassen sie mit dem Allegro aus einer Sonate des US-Amerikaners Lowell Liebermann das hitzigste Stück des Abends folgen – konzertierend virtuos, aufgeregt bis zur Empörung –; allerdings ging ihm, zwischen Getriller und kantablen Linien der Flöte wechselnd, ein „Nocturne“ voraus, nicht so sehr dissonant wie bitonal und polyrhythmisch. Mit dem avanciertesten Beitrag beenden sie das reich beklatschte Konzert: Die Sonatine des Bulgaren Atanas Ourkouzounov eröffnet Gabriella Balog mit einer schier unendlichen Melodie „comme un chant“: „wie ein Gesang“; aber auch kurze perkussive Luftstöße schickt sie durch die Flöte oder lässt klanglos lang den Atem durch sie strömen. Schließlich treibt sie einen folkloristischen Tanz über verschachtelt-unregelmäßige Gitarren-Metren und -rhythmen. Nicht ungezogen als bad girl, aber ungezügelt absolviert die Künstlerin dieses „Rondo Serbe“, gleichsam atemlos. Freilich, die Puste geht ihr nicht aus.

■ Die Hofer Symphoniker im Internet: hier lang


Ein Erstes und ein Letztes
Christian Zacharias beschließt mit den Symphonikern seinen Hofer Beethoven-Zyklus als Dirigent und Pianist. Stehend bejubelt das fast tausendköpfige Publikum die sorgsam ausgearbeitete, im Schlusschor angemessen triumphale Neunte. Eine Zugabe gibts auch – davor statt danach.

Die Sängerinnen und Sänger der "Klangverwaltung" und des Theaters Hof mit den Symphonikern und den Solisten (vor dem Chor von links: Sophia Brommer und Stefanie Irányi, Sung min Song und Christian Valle): Luftschloss eines ewigen Friedens. (Fotos: Andreas Rau)


Von Michael Thumser

Hof, 13. Februar – Warum erreicht der Mensch nicht auch im Leben, was ihm in der Kunst gelingt? „Alle Menschen werden Brüder“, singt Friedrich Schiller optimistisch in seiner „Ode an die Freude“, postuliert Ludwig van Beethoven hochgemut im chorsymphonischen Finale seiner Neunten, schmetterte am Freitag euphorisch der Chor, als die Hofer Symphoniker das ikonische Monumentalwerk in der Freiheitshalle vor fast tausend Zuhörerinnen und Zuhörern ausbreiteten. Hingegen kam am Tag danach gegenüber im Theater ein Studiostück heraus, das in makabren Einzelszenen den Spielarten zwischenmenschlicher Gewalt nachgeht. Und wieder tags darauf spielte am selben Ort eine erschütternde Performance das Grauen des Hamas-Massakers in Israel und des seither hemmungslos ausgefochtenen Gazakriegs am Beispiel einer bangen Mutter durch. Wann drängte sich noch grässlicher der Verdacht auf, dass Brüderlichkeit auf Erden offenkundig nicht zu haben ist?

     Wer auf Gaza, die Ukraine, auf den Jemen schaut, wer nach Ursachen und Folgen globalen Unheils fragt, der fragt zuletzt nach Gegenwart und Zukunft, Leben und Tod, den ersten und den letzten Dingen. Das tut die Neunte auch, beileibe nicht erst an ihrem Schluss mit den gellenden Tönen zu Schillers Strophen. Auch Christian Zacharias, als Dirigent eines Sinnes mit dem Dichter und dem Komponisten, entscheidet sich für das Leben und die Zukunft, für die Chance auf Neubeginn. Der Chor aus Vokalistinnen und Vokalisten der „Klangverwaltung“ und des hiesigen Theaters frohlockt die Verse des Gelegenheitsgedichts heraus, als würden all die wunschtraumschönen Bilder darin für Augenblicke wahr, als wäre das Luftschloss des „ewigen Friedens“, wie Immanuel Kant es in seiner utopischen Schrift entwarf, durch die Klarheit der Worte, die imponierende Klarheit auch der Stimmen, durch seelenvolles Engagement in beidem herbeizuzwingen.

Kultivierte Begeisterung

Soweit die Partitur, nach Exzessivem strebend und sich in immer höhere Register versteigend, dies überhaupt erlaubt, hält sich der exzellente Chor vor entfesselter Schreierei zurück und stimmt sich dadurch angemessen mit dem kultiviert-begeisterten Quartett der Solisten ab: mit Christian Valle, dessen stattlich-soignierter, wenn auch ziemlich vage intonierter Bass durch ein aufmunterndes Rezitativ das Freudenfest einleitet, sowie dem ausstrahlenden Tenor Sung min Song, der Sopranistin Sophia Brommer und ihrer Alt-Kollegin Stefanie Irányi. Gemeinsam üben sie sich in vornehmer Homogenität.

Chistian Zacharias als Klaviersolist und Dirigent: Melodienseligkeit und schlichte Anmut.

     Ausdauernd und stehend spendet das Publikum nach dem letzten Fortissimo frenetischen Applaus. Da könnte man beinah vermuten, dass es auch bei dieser Aufführung, wie sonst oft, hauptsächlich auf die Überwältigung durch den breitenwirksamen Schlusschor angekommen wäre. Doch ging der Dirigent nicht in die Falle, die Symphonie platt nur auf ihn hin zu orientieren. Vielmehr hat er sich zuvor mit dem Orchester auch die – kompositorisch bedeutend gehaltvolleren – Sätze eins bis drei gründlich vorgenommen. Am Anfang des Kopfsatzes sammelt er noch kaum klingendes Atmosphären-Material wie aus einem Nichts, um wenig später zerklüftete Klanggebirge aus Leidenschaften aufzuschichten, aus reichlich Pathos auch, weil sich das nun mal so gehört. Trotz aller Unrast folgt ihm das Orchester mit einer Transparenz, durch die Details, die sonst leicht unbemerkt verhallen, überraschend hörbar werden.

Kanonenschüsse aus der Pauke

Allerdings: Ein linkisch anschiebendes und schaufelndes Dirigat, oft aus dem vorgedrückten Unterleib heraus, hat Zacharias sich angewöhnt. Schön schauts nie aus, wirkt oft läppisch und widerspricht wunderlich der Geisteswachheit und robusten Autorität, die er in der Symphonie offenbart. Phasen geballter Willensstärke und Episoden zersetzenden Zweifels arbeitet er im Kopfsatz durch, ohne dass die gegensätzlichen Impulse einander ausschlössen. Im Scherzo, nach grimmig aggressiven Kanonenschüssen aus der mit harten Schlägeln traktierten Pauke, fügt er die Endlosketten kleiner Notenwerte in ansteckender Nervosität aneinander, eisern an Tempo und Metrum festhaltend; ein betont ungesanglicher Satz. Umso entschiedener hält er im anschließenden Adagio mit dessen Kantabilität dagegen. Auf die „pastorale“ Idyllik der Sechsten scheint er sich mit dem beschaulichen Fluss des Satzes zu besinnen – bis zwei Fanfaren erhebend aufs Chorfinale deuten … Dann, endlich, dürfen „alle Wesen“ auf dem Podium wie im Auditorium zur Genüge „Freude trinken an den Brüsten der Natur“.

     Erste und letzte Dinge – zum Glücks-Fanal, mit dem der Tonsetzer 1824 den Zyklus seiner Symphonien und jetzt Christian Zacharias seinen Hofer Beethoven-Zyklus beschloss, gibt es eine Zugabe, nicht jedoch danach, sondern davor: das nominell zweite, in Wahrheit chronologisch erste Klavierkonzert. Da sei die Erkundigung erlaubt, ob sich dergleichen bei einem Werk empfiehlt, das beanspruchen darf, mit seiner Durchschlagskraft ganz für sich zu stehen. Als Klaviersolist leitet Zacharias die Symphoniker vom Flügel aus und eher beiläufig. Dem ersten Satz prägt er einen spielerisch markanten Mozart-Gestus auf. Nur leider unterlaufen seinen nicht immer ganz geläufigen Fingern Fehlgriffe und Mauscheleien, die er mit (zu) viel Pedaleinsatz wohl zu kaschieren sucht – und im jugendmunteren, teils gar schmissigen Schlussrondo trefflich überwindet. Melodienselig und mit schlichter Anmut intoniert er das Adagio, wobei er altersweise seinem Instrument die Dominanz abspricht, als wollten er und das Orchester in luzidem Einverständnis ein Beispiel geben für Ausgleich, Einvernehmen, Harmonie. Warum gelingt das nur der Kunst und nicht den Menschen? Alle Musiker und Musikerinnen in der Freiheitshalle „werden Brüder“, ein paar Minuten lang. Und Schwestern. An die hat Schiller mit seiner Ode leider nicht gedacht.

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Geistig geschaut, fein empfunden

Die Symphoniker frönen ihrer „Reiselust“: Nach Schottland und London und irgendwie sogar in die Türkei gehts bei ihrem jüngsten Hofer Konzert. Der griechisch-albanische Geiger Jonian Ilias Kadesha transformiert Mozarts fünftes Violinkonzert zu einer Gestalt, der man so wohl kaum je begegnet.

Reisende soll man nicht aufhalten: In Wolfgang Amadeus Mozarts fünftem Violinkonzert machen das Orchester, Dirigent Martin Rajna und der Geiger Jonian Ilias Kadesha vorübergehend auch an der Grenze zwischen Orient und Okzident Station. (Foto: Harald Dietz Fotografie)


Von Michael Thumser

Hof, 23. Januar – Wenn Musikstücke Namen tragen, ist Misstrauen geboten. Meist entstammen sie der blühenden Fantasie von Nachgeborenen statt von den Komponistinnen und Komponisten selbst; oft können sie einem abgehoben oder absurd vorkommen; manche haben sich darum nie wirklich durchgesetzt; und der Wirkmacht der Werke tragen die wenigsten bei. Als freilich die Hofer Symphoniker bei ihrem fünften Konzert im Festsaal der Freiheitshalle intensiv ihrer „Reiselust“ nachgaben – so war der Abend betitelt –, da fügten mehr oder weniger geläufige Überschriften die drei Beiträge zu einem Programm unternehmungslustiger Globetrotterei zusammen.

     Entsprechend rastlos tritt der Dirigent auf. Ungeduldig eilt Martin Rajna, eine der bedeutenden jungen Pulthoffnungen Ungarns, von der Hinterbühne vors Orchester – und mit ihnen zur Nordwest-Küste Schottlands, zur sturmumbrausten Inselgruppe der „Hebriden“ und dort zur „Fingals-Höhle“; so hieß Felix Mendelssohn-Bartholdys berühmte Konzert-Ouvertüre zunächst und wird bisweilen noch immer so genannt. Ein Meisterwerk – selbst der geifernde Antisemit Richard Wagner rühmte die Partitur des aus jüdischer Familie stammenden Tonsetzers: „Da ist alles wundervoll geistig geschaut, fein empfunden und mit größter Kunst wiedergegeben“.

„Meeresstille und glückliche Fahrt“

Eben so, geistig „geschaut“ und nicht billig als Illustration aus einem tönenden Reiseführer, entwickelt sich die Tondichtung unter Martin Rajnas sinnreich prägnanter, momentgenauer Führung. Was da unter den Musikerinnen und Musikern anfangs unheimlich heranrollt, ähnelt nur vordergründig einer Meeresbrise oder Brandung mit ihren Brechern – genau genommen spiegeln sich im dunklen Drohen, dann im stolz auftauchenden Thema die Verzagtheiten eines schlingernden Gemüts, seine „Meeresstille“ sowohl wie manche „glückliche Fahrt“ (um eine weitere Symphonische Dichtung Mendelssohns zu zitieren). Wenn sich die aufgepeitschten Empfindungen zu entrückter Idyllik klären, dann scheint es, als hätte die finstere Fingals-Höhle ihren Ort auf einer imaginären Insel der Seligen.

     Würde es Jonian Ilias Kadesha auf ihr lange aushalten? Eher nicht. Viel zu umtriebig, beflügelt, gleichsam nichtsesshaft kommt er einem als Reisender vor, wenn er vor dem hellauf begeisterten Publikum seine Geige entfesselt. Das fünfte, letzte und gediegenste Violinkonzert Wolfgang Amadeus Mozarts nimmt er sich vor, mithin ein wahrlich vielgespieltes Stück des Repertoires, das er, seltsam genug, dennoch nicht auswendig spielt. Auf einem Pult vor sich hat er die Noten, und doch verfährt er mit ihnen vollkommen frei, losgelöst von vermeintlich gesicherten Konventionen. Als „Türkisches Konzert“ firmiert das Werk mitunter – und wirklich, ein gerüttelt Maß Exotik mischt der 1992 in Athen als Sohn albanischer und griechischer Eltern geborene Solist in die österreichische Klassizität.

Jonian Ilias Kadesha: Ein gerüttelt Maß Exotik. (Foto: PR)

    Agil eröffnet das Orchester,  beinah abenteuerlustig; bis Kadesha dem Tatendrang jenes „Allegro aperto“, also für alles „offenen“ Kopfsatzes erst einmal mit Adagio-Wendungen von verzückter Zartheit Einhalt gebietet. Dann gibt er seinerseits das Signal, jetzt erst recht forsch loszulegen. Das Zarte aber hat der Künstler verinnerlicht: Geradezu dezent hält er die Intonation vielfach zurück und bewahrt ihr so eine Kammermusikalität, der er hochglänzende Grandezza bewusst vorenthält, ohne ihrer Präsenz Abbruch zu tun. Denn Temperament steckt durchaus in dem Künstler und seinem Spiel, das sich musikantisch, gelegentlich artistisch und auch schon mal folkloristisch verbreitet.

„Janitscharen-Musik“

Am feinfühligsten deutet er den Adagio-Mittelteil aus, friedvoll in sich gekehrt mit leise schwebenden Wendungen. Da spielt er nur für sich; in die Moll-Passagen des Satzes fühlt er sich so empathisch hinein, dass er sie schier nicht mehr verlassen will. Kernig dagegen die Ecksätze: In so vielgestaltig effektvoller, trick- und überraschungsreich aufgebrochener Darstellung, noch dazu durchsetzt mit derart experimentierfreudigen Kadenzen, erfüllt Mozarts Musik vielleicht nicht jeden traditionsbedürftig Hörenden mit Freude. Der euphorischen Energie zumal des Schluss-„Rondeaus“ indes, in dem sich Kadesha mehrfach selbst an die Kandare nimmt, um gleich wieder auszubrechen, zumal der eingeschalteten „Janitscharen-Musik“ hält wohl selbst die konservativste Skepsis schwerlich stand: Teufelsgeigereien alla turca.

    Doppelt benamst, wie Mendelssohns Tonpoem vom Beginn des Abends, ist auch Joseph Haydns 104. Symphonie an seinem Ende: Die „Londoner“ heißt sie, und ist dabei doch die letzte von insgesamt zwölf „Londoner Symphonien“, die der Tonsetzer in und für Englands Metropole schuf. Hier und da geistert sie auch als Symphonie „mit dem Dudelsack“ über die Podien, was sich – für heutige Ohren schwer nachvollziehbar – dem Finale und dort den langen Haltetönen in der tiefen Begleitung verdankt. Doppelsinn offenbart auf eigne Art auch der Kopfsatz: Fanfarenartig pompös gehen die Symphoniker ihn an, sogleich aber nimmt der bis zur Akribie werkkundige Dirigent den Druck zurück und stimmt stattdessen eine veritable Trauermusik an. Endlich lässt er dann doch dem beschwingten Thema die Zügel schießen, strikt vorwärtsorientiert, nie aber gleichgültig über Zäsuren, Einschnitte, Bruchstellen hinweg.

Spannung der Pausen

Überhaupt die Pausen: Mit erwartungsvoller Spannung füllt Martin Rajna sie in allen vier Sätzen, auch im luftig durchhörbaren Andante, wo die Stopps und Lücken mancherlei Ausdruckswechsel gliedern. Zu einem geschwinden Scherzo verfestigt der Dirigent das zügige und unzerbrechliche Menuett, dessen Feuer er mit einem lauschigen Trio aufwiegt. Im Finale schwenkt er gegen Ende von ungetrübter Beschaulichkeit in unheilschwangere Augenblicke vibratoloser Fahlheit um, wie wenn er die bis dahin und danach vorübereilende Zeit verzweifelt für ein paar Atemzüge anhalten wollte.

     Nach der Uraufführung der „Londoner“ Symphonie 1795 zitierte ein Kritiker der Hauptstadt „Kenner“, die „behaupten, sie überträfe mit ihrer unerschöpflichen Fülle und Herrlichkeit alle anderen Werke Haydns“. Dem Urteil wird die Hofer Präsentation des Werks 229 Jahre später fesselnd gerecht. „Mit größter Kunst wiedergegeben“, glückt auch sie „geistig geschaut“ und „tief empfunden“. An einen Dudelsack, das womöglich grauenerregendste aller Musikinstrumente, mag dabei gewiss niemand denken.

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Ein Winternachtstraum
Bei ihrem Hofer Konzert in der Adventszeit machen die Symphoniker dem Publikum traditionsgemäß warm ums Herz. Zwischen zauberischer Romantik von Humperdinck und Rimski stellt die Britin Sarah Beth Briggs das famose Klavierkonzert von Hans Gál vor – noch so ein zu Unrecht Vergessener.

Sarah Beth Briggs vor den Hofer Symphonikern: Definitiv hellwach, damenhaft unerschütterlich. (Foto: Harald Dietz)


Von Michael Thumser

Hof, 13. Dezember – Bei den Brüdern Grimm hat das Märchen von Dornröschen mit dem Fest der Feste nichts zu tun. Man kann es aber auch so erzählen, wie es vor zehn Tagen in der Hamburger Laeiszhalle geschah: als „turbulentes Weihnachtsabenteuer“ mit Pjotr Tschaikowskis berühmter Musik. Da erhielt, wie Fernsehmoderator Juri Tetzlaff den kleinen und großen Leuten im Auditorium berichtete, die titelgebende Prinzessin die schicksalhafte Spindel mitsamt Spinnrad nicht als Geburtstagsgeschenk, sondern als Gabe unterm Tannenbaum. Natürlich sticht sie sich daran und fällt ausdauernd in Ohnmacht – bis das Publikum nach gefühlt hundert Jahren die schlafende Schöne mit Weihnachtsliedern wiedererweckt. Ein aufregender Festabend.

     Oder man erzählt dasselbe Märchen in der Weise, für die sich die Hofer Symphoniker entschieden: mit Musik von Engelbert Humperdinck. Der schuf zwar mit seinem zeitlosen Bühnenhit „Hänsel und Gretel“ den Inbegriff der Weihnachtsoper – doch gibt das Orchester diesmal „Dornröschen“ den Vorzug. Mit dem Vorspiel zu Humperdincks kaum je aufgeführter Oper eröffnete es sein viertes Hofer Konzert und entfaltete dabei Wohllaut der sublimsten Art. Mit „Die Nacht vor Weihnachten“ haben die Programmplaner den Winterabend im Festsaal der Freiheitshalle überschrieben; dennoch: Der Jahreszeit zuwiderlaufend, erinnern die sachten Akkorde des Beginns sekundenlang an die Ouvertüre zu Felix Mendelssohn Bartholdys „Sommernachtstraum“, bis Dirigent Enrico Delamboye eine Schmeichelweise über pulsierendes Pizzicato der Bässe gleiten lässt. Leichtherzig belebt er das Geschehen, intensiviert es sogar kurzzeitig mit Leidenschaft. Den gemütvollen Grundton aber verlässt er bis zum abschließenden Holzbläserchor über Gefunkel aus der Harfe nie. Ein himmlischer Winternachtstraum: nicht weihnachtlich, aber märchenhaft.

Oper, auch mal ohne Stimmen

Der Hofer Generaltitel verdankt sich Nikolai Rimski-Korsakow, dessen Oper „Die Nacht vor Weihnachten“ ihrerseits nur oberflächlich – und damit nicht viel enger als das grimmsche Märchen – mit dem Christfest in Kontakt steht. Der Fantastik einer Novelle Nikolai Gogols folgend, handelt sie volkstümlich-komödiantisch vom Mond als Diebesbeute, einem Pakt mit dem Leibhaftigen und sogar einem Hexensabbat. Wie die meisten der fünfzehn Bühnenwerke, die der russische Romantiker hinterließ, fasste auch dieses aus dem Jahr 1895 hierzulande nicht Fuß, anders als die ausführliche Suite, die Rimski selbst daraus destillierte. In der Vielfalt ihrer instrumentatorischen Feinreize kennt sich der Dirigent so genau aus, dass sich beim Hören der Verdacht aufdrängt, Stimmen theatralischen Operngesangs könnten beim Genuss vielleicht nur stören.

Die Ersteinspielung mit der Solistin des Hofer Konzertabends am Klavier (Avie, 1 CD, Nr. AV2358).

     Auch diesmal scheinen die eröffnenden Horn-, dann Holzbläser-Akkorde für einen Moment an den „Sommernachtstraum“ anspielen zu wollen, und wiederum glänzt Goldklang aus der Harfe durch die erst entrückte, dann feierliche, auch tänzerische Heimlichkeit des Melos und der Harmonien. Belebt, biegsam und nicht ohne Koketterie wertet Enrico Delamboye die „Tableaus“ der Partitur über die bloße Präsentation einer Setlist bestrickender musikalischer Einfälle hinaus auf: Er lässt die vier ineinander übergehenden Abschnitte dramaturgisch so konsistent zusammenwachsen, dass er beinah eine zunftgemäße Symphonische Dichtung aus ihnen formt. Trotz der eingangs sommerlichen Assoziationen tobt irgendwann ein Wintersturm; Hörner blasen zur Jagd; Fanfarenmotivik des Blechs entfesselt einen Festmarsch. Aber auch Gogols Neigung zum versponnen Übernatürlichen kommt zu ihrem Recht, wenn das Xylofon wie mit Knochen klappert und der Dirigent das Orchester zu behänden Luftfahrten wie auf Hexenbesen anhält. Bis Glockenschläge und sakrale Choralwendungen dann doch an heiligabendlichen Kirchgang denken lassen.

Meister des Melos

Dornröschen, die Märchenmaid der Brüder Grimm von 1812 – sie ist die Schwester (oder eigentlich Urenkelin) der gut hundert Jahre älteren „Belle dormant“ des Franzosen Charles Perrault. In Hof betritt als Solopianistin aber keine „schlafende Schöne“ das Podium, sondern eine definitiv hellwache, damenhaft unerschütterliche Spezialistin. All dies – das Raffinement, die Kultiviertheit und Souveränität – investiert Sarah Beth Briggs in Hans Gáls Klavierkonzert von 1948. Zwar hat der Österreicher, der 1938 beim „Anschluss“ seiner Heimat an Nazideutschland als Jude nach England auswich, das vergangene Jahrhundert mit vier herrlichen Symphonien bereichert, doch erst seit etwa zehn Jahren wird er wiederentdeckt und -erweckt, vor allem diskografisch. Die Live-Begegnung mit ihm in Hof – und also das Spiel der 51-jährigen Britin, die sein Opus 57 auch glanzvoll auf CD aufnahm – erweist ihn als Meister des Melos ebenso wie als mutigen Verfechter einer Virtuosität, die nicht dem oder der Interpretierenden zur Selbstdarstellung dient, sondern ganz der tonkünstlerischen Substanz verhaftet ist.

Enrico Delamboye: Dynamische Schattierungen bis zum gehauchten Pianissimo. (Foto: PR / © Künstleragentur Seifert)

    Mag sein, dass der frenetische, sogleich stürmisch mitreißende Beginn des Anfangs-Allegros noch ein wenig verhaspelt gerät – spätestens in der ersten Kadenz kurz darauf hat Briggs die volle Kontrolle über die reibungslose Motorik ihrer Finger gewonnen. Insistierend und markant greift sie mit ihnen nach dem Kopfsatz, weiß dabei aber sehr wohl, dass Gál das Werk als ‚symphonisches Konzert‘ konzipiert hat, in dem die entwickelnde Rolle des Orchesters hinter der des Soloinstruments nicht zurücksteht. Wurde darum der Deckel des Flügels im Festsaal abgenommen? Jedenfalls prallt der Klang aus den Saiten nicht unangemessen vorlaut in den Zuhörerraum, sondern lässt den Symphonikern Raum für eigenständige Prozesse. Entsprechend variabel feilt der Dirigent die Nuancen aus: In feinen Tönungen mischt Enrico Delamboye das Kolorit, ist auf jede rhythmische Pointe vorausschauend gefasst und schattiert die Dynamik ab bis ins gehauchte Pianissimo.

Zugabe aus saisonalen Gründen

Thematisch mit dem ersten Satz verwandt, atmosphärisch als krasses Gegenstück dazu breitet sich das Adagio aus. Nach kurzer Einleitung durch Flöte und zwei Violinen fügt Briggs die ersten Takte aus Einzeltönen und losen Tonverkettungen zusammen und fährt mit ähnlicher kammermusikalischer Reserve auch fort. Im festen Willen zu filigraner Zartheit verbünden sich Pianistin, Dirigent und Symphoniker – was Briggs erlaubt, eine aufbrausend entfesselte Zwischenepisode mit pianistischen Akkordtrillern, Oktavgängen und Passagenwerk erst recht schroff und unaufhaltsam hervortreten zu lassen. Im Finalsatz beschließt sie das famose Werk vollends musikantisch mit dem Schwung einer Polka.

     Was aber könnte Hans Gáls Klavierkonzert und das Klavier mit Weihnachten verbinden? Das Werk: nichts. Hingegen entspricht Sarah Beth Briggs dem langen Beifall bereitwillig mit einer saisonal bestens passenden Zugabe: In Jonny Mays erst schmachtender, dann schmissiger Jazz-Version von „O Tannenbaum“ fährt sie mit dem abgenudelten Christfest-Hit gehörig Schlitten. Ein gewagter Winternachtstraum: Süßer die Ohren nie klingen.

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Kontrolliert aufgeregt

Zwei Hauptwerke der Romantik, das eine einst verrissen, das andere in den Himmel gehoben: In Selb beeindrucken die Hofer Symphoniker das Publikum mit Schuberts „Großer C-Dur“-Symphonie und Tschaikowskis Violinkonzert. Als Solistin demonstriert die junge Hawijch Elders Könnerschaft und Reife.

Hawijch Elders vor den Hofer Symphonikern unter Ivo Hentschel: Ratio, Empathie und "meisterliche Technik der Composition". (Foto: thu)


Von Michael Thumser

Selb, 25. November – Man soll als Kritiker nicht über Kritiker lästern. Erst recht nicht, wenn es um Kritikerpäpste geht. So einer war Eduard Hanslick zu seiner Zeit, im neunzehnten Jahrhundert, unangefochten. Bisweilen aber greift selbst der Klügste mal daneben, gern auch kräftig, und dann darf ein Rezensent am anderen auch schon mal laut Anstoß nehmen. Über Wagner etwa, Bruckner oder Mahler konnte Hanslick sich mit ausformulierter Niedertracht aufregen; am heillosesten vielleicht verlor er die Kontrolle über sich, als er nach der Wiener Uraufführung 1881 Pjotr Tschaikowskis Violinkonzert verriss: Dem Werk, heute ein Leib- und Magenstück des klassisch-romantischen Repertoires, keifte er nach, es werde darin „nicht mehr Violine gespielt, sondern Violine gezaust, gerissen, gebläut. Wir sehen lauter wüste, gemeine Gesichter, hören rohe Flüche und riechen Fusel“; namentlich der Finalsatz brachte ihn „zum ersten Mal auf die schauerliche Idee, ob es nicht auch Musikstücke geben könne, die man stinken hört.“ Metaphern sind Glückssache, meistens indes Unglückssache. So in diesem Fall. Doch dazu später.

     Denn jubeln lässt sich über Musik genauso wider alle Vernunft, in einer Weise, die kein Halten mehr kennt. Als Robert Schumann die so gut wie verlorene Partitur von Franz Schuberts achter und letzter Symphonie, der „Großen C-Dur“ von 1826, nach Jahren unverhofft entdeckt und, vor Staunen fassungslos, durchgesehen hatte, da zeigte er sich nicht nur überwältigt von der „meisterlichen Technik der Composition“, ihrem Kolorit und Ausdruck; vor allem imaginierte er balsamische „Bilder der Donau, des Stephansturms und fernen Alpengebirgs, zusammengedrängt und mit einem leisen katholischen Weihrauch überzogen“. Sollte es demnach am Donnerstag, als das monumentale Ausnahmewerk in Selbs Rosenthal-Theater erklang, wie in einem Gotteshaus geduftet haben? Um mit Eduard Hanslick zu fragen: Kann Musik riechen?

„Himmlische Länge“

Das denn doch nicht. Ivo Hentschel, der als Musikchef des Theaters Hof die Symphoniker meist unsichtbar im Orchestergraben leitet, nun aber auf der Bühne am Pult agiert, er lenkt das Orchester nicht in ein verzücktes Kopfkino à la Schumann, auch keine aromatischen Bouquets fächelt er durch den Saal; dem einstündigen Werk nähert sich seine durch Plastizität fesselnde Darstellung verstandesgemäß, wenn auch keineswegs prosaisch, nicht manipulativ, gleichwohl anschaulich. Von „himmlischer Länge“ schrieb Schumann – langweilig aber wirds einem bei Hentschel nicht.

     Den großen Bögen und inneren Verstrebungen ist dies zu danken, die er bei aller Ausführlichkeit haltbar durch das Geschehen zieht, und gleichzeitig seiner Detailarbeit. Ein Dirigent der graziösen, sogar filigranen Gesten ist er, kein Zappler, aber unentwegt bewegter Feinarbeiter am Augenblick. Die Musikerinnen und Musiker geleitet er im Kopfsatz ebenso gemessen durch die ostentativ-feierliche Hörner-Introduktion wie, das Tempo anziehend, durch die deutlich zügigeren Themen und Durchführungen. Kein Leisetreter, ebenso wenig ein Einpeitscher: Wenn sich das folgende Andante in seiner Mitte vom bisher grundlegenden Marschmetrum abkehrt, verleiht Hentschel gerade diesen zarteren Teilen eine Transparenz, die Schuberts kunstreiche Polyphonie durchhörbar macht. Und auch die Stille ist ihm wichtig: Nach unheilvollen Klangballungen lässt er das Orchester schweigen, eine abgründige Generalpause von ‚höllischer‘ Länge lang.

Heurigenseliger Humor

Walzerartigen Schwung gibt er dem Scherzo mit, zwischen Schroffheit und glattem Gleichlauf balancierend. Zum humoristisch-musikantischen Gestus, den er ihm zurechnet, passen gut die heurigenseligen Weisen des Trios. Forsch beendet er den Satz – um sich in die mehr als tausend Takte des Finales zur stürzen. Der Ausgelassenheit der Streicher, der Launigkeiten der Holzbläser setzen geballte Ladungen schmetternden Blechsounds die Krone auf: eine schier nicht endende Lektion in schallender Unaufhaltsamkeit, gleichbleibend von Basisrhythmen wie von einem Motor angetrieben. So sehr reißt sie Hentschel selber mit, dass er, sichtlich nun vollends in Feuer geraten, sich nun als Enthusiast bekennt.

     Jener ekstatische (und vom Publikum reich beklatschte) Symphonieschluss steht am Ende des Abends, so beeindruckend, dass er die Erinnerung an den antagonistischen Programmanfang auszulöschen droht; obwohl der doch, auf seine ganz andere Weise, nicht weniger ans Gemüt gegriffen hat. Da nämlich intonierten die Symphoniker berührend zart die Einleitung in Pjotr Tschaikowskis Violinkonzert, und auch des Weiteren zügelte Ivo Hentschel die Kräfte zunächst zugunsten herzbewegender Empfindungen. „Allegro moderato“, steht über dem Satz: durchaus lebhaft, aber in Grenzen. Nur nichts überstürzen, denkt sich wohl auch die Geigerin Hawijch Elders, die sich schon mit ihren ersten Takten auf den – von Eduard Hanslick so gründlich ignorierten – Fein- und Schönheitssinn des Werks besinnt.

     Den Lichtenberger Henri-Marteau-Wettbewerb dieses Jahres entschied die Geigerin im Mai für sich, beim Preisträgerkonzert in Hof brillierte sie mit Niccolò Paganinis erstem Violinkonzert: mit schlichter oder schmachtender Sanglichkeit, imponierendem Elan, spektakulärer Ausdauer beim Sprint über die Gipfel des überhaupt Spielbaren. Wandernde Doppelgriffe, rasende Galopps durch alle Lagen, Oktavpassagen und -sprünge, Flageoletts ... – solche und andere enorme Herausforderungen gibt es bei Tschaikowski zwar auch zuhauf, und die 25-jährige Niederländerin steht nicht an, dabei die Potenziale ihrer unverkrampften Virtuosität zum allgemeinen Staunen des gebannten Publikums einzusetzen. Anders aber als im Stück des Italieners bringt sie neben dem Mumm ebenso viel Mäßigung auf. Repräsentable Leuchtkraft und ehrliches Temperament führt sie wohltrainiert zusammen, ohne physisch an irgendwelche Grenzen zu stoßen, doch auch ohne leeres Blendwerk. Einen Einzelton weiß sie für einen expressiv hinausgezögerten Moment einfach in der Schwebe zu halten, eine seelentiefe Phrase darf sich entfalten, so lange es nötig ist.

Schmelz und Geschmeidigkeit

Kerzengerade steht die junge Frau da, Entschlossenheit in den Zügen. Mit starker Hand greift sie nach Toccata-artigen Brillanz-Passagen, ja, nach einer besonders glanzvoll absolvierten Etappe hebt sie schon mal triumphal den Bogenarm. Nicht weniger aber setzt sie auf gleitende Geschmeidigkeit und Schmelz, und selbst in der hochproblematischen Kadenz stellt sie sich zuallererst die Aufgabe, den Ausdrucks zu vertiefen. Ganz und gar zieht sie sich in der „Canzonetta“, dem von den Holzbläsern mild eingeleiteten Mittelsatz, auf Sehnsucht und schwermütiges Begehren zurück. Zwischendurch, in der belebteren Mitte, klingt Elders’ Geige, als sänge sie eine Arie aus „Eugen Onegin“, und liebevoll wie zum Duett vereint sie sich in der Reprise kurz mit der Klarinette und der Flöte.

     In voller Fahrt hingegen wirft sie sich ins „Vivacissimo“ des Finales. Die Tat-, ja Stoßkraft eines Floretts überträgt ihr rechter Arm dem Bogen, faszinierend aber variiert sie auch den mal streichelnden, mal gravierenden Druck auf die Saiten. Zwei Mal kehrt sie sich von dem Treiben, das sie selbst entfesselte, ab, um sich in Ruhe-Episoden ganz nach innen zu wenden. Ratio und Empathie halten in der noch jungen Künstlerin bereits reif die Waage, und noch in Phasen stürmischer Impulsivität bleibt sie, was Eduard Hanslick als Tschaikowski-Kritikaster nicht sein konnte: kontrolliert aufgeregt.

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Im Wandel der Farbe, des Lichts

Reisen zu tönenden „Sehnsuchtsorten“: über Syrien und Spanien nach Hof. Zwischen Hauptwerken des französischen Impressionismus bereitet der Ausnahmeklarinettist Kinan Azmeh dem Publikum der Symphoniker eine westöstliche Überraschung von überwältigender Einmaligkeit.

Kinan Azmeh mit Dirigent Joseph Bastian vor den Symphonikern im Hofer Festsaal: Charismatisches Selbstbewusstsein eines Nonkonformisten. (Fotos: Andreas Rau)


Von Michael Thumser

Hof, 14. November – Nur weil einer als Genie der Tonkunst gilt, muss man nicht jeden Satz für bare Münze nehmen, den er über sein Metier vermeldet. Zum Beispiel Franz Schuberts berühmtes Diktum, er kenne „keine lustige Musik“: barer Unsinn. Oder Maurice Ravel, der meinte, sein „Bolero“ enthalte „keine Musik“, oder Claude Debussy, der es sich verbat, ein Impressionist genannt zu werden … Dergleichen Schnickschnack darf man ignorieren.

     Umso mehr zuzustimmen war hingegen dem Komponisten und Klarinettisten Kinan Azmeh, als er sich am Freitag, beim dritten Hofer Konzert der Symphoniker, dazu bekannte, dass seine Musik „nicht zu trennen“ sei „vom eigenen Leben“. Seines begann in Syrien vor 47 Jahren; für fünf Jahre machte er in New York Station; von Fall zu Fall kehrt er in Deutschland ein … - überhaupt führt er sein Leben als Reise. Aus Harlem, aus Damaskus, aus einem Dorf irgendwo in seiner Heimat berichtet seine konzertante „Suite for Improvisor and Orchestra“. Nach ihren letzten, vehement-virtuosen Takten tobt das Publikum im Festsaal der Freiheitshalle so euphorisch, wie es nach klassischer Musik kaum einmal geschieht: der Sensationsdarbietung eines Ausnahmemusikers angemessen.

Alles schwarz

Kinan Azmeh – das ist keiner aus der Menge. Mit dem charismatischen Selbstbewusstsein eines Nonkonformisten betritt der Individualist den Schauplatz; sogar sein Instrument sieht ungewöhnlich aus: Schwarz ist an dieser Klarinette alles, sogar Klappen und Gestänge. Neben dem Pult von Dirigent Joseph Bastian, doch anders als er ohne Noten, positioniert er sich, in Hemdsärmeln, für eine Musik indes in ausgesuchten Bildern, die alles andere als hemdsärmelig ist. Im Gegenteil. Um, zunächst, aus New Yorks 139th Street zu erzählen, spannt er erst zarteste Töne, Weisen, Arabesken aus einem kaum hörbaren Nichts zu einem weiten Solo aus, bevor er sich von den Bratschen, Celli, Bässen als Atmosphäre- und Farbenmischern sanft tragen und beflügeln lässt; eine Handtrommel misst den Puls. Als Augur des inspirierten Augenblicks erweist sich der „Improvisor“ – Improvisator – Azmeh, als Selbsterfinder und Selbstdeuter aus dem beseelten Moment heraus, als Meister undurchschaubar unregelmäßiger Metren, als Verknüpfer und Zertrümmerer einer unwiderstehlich stimulierenden Rhythmik.

"Improvisor" Azmeh: Selbsterfinder und Selbstdeuter aus dem beseelten Moment heraus.

     Mal um Mal neu verortet er sein von nahöstlicher Folklore durchtränktes Spiel zwischen zwei Grundparametern lebendigen Musizierens: der Struktur der festen Form hier, den Freiheiten einer entgrenzten Stegreif-Intuition dort. Stets unumstritten bleibt er Hauptakteur, auch in der turbulenten, taumelnden Hochzeit („Wedding“) des letzten Satzes. Da ist sie: die „lustige Musik“ – nicht aber als banaler Spaß und burlesker Übermut, sondern als Herzensergießung schierer Lebens- und Liebesfreude. Das Mittelstück hingegen, in dem die Klarinette, über Streicherteppichen und -pizzicato rhapsodisch den sehnsuchtsvollen Bogen von den USA zurück nach Syrien schlägt, ergreift mit aufgerauhter Leidenschaft durch schöne Schmerzlichkeit. Eine aromatische Träumerei: Geständnis des Heimwehs? Gut möglich.

Magie der Monotonie

Auf Reisen sind die Symphoniker desgleichen in den anderen Beiträgen des Programms, unterwegs zu „Sehnsuchtsorten“, die ihm insgesamt den Titel gaben. Nach Spanien führt Dirigent Bastian sie mit Schöpfungen zweier Meister aus Frankreich, die am Anfang des vergangenen Jahrhunderts dem grassierenden „Hispanismus“ frönten. Mit fremdländischen Düften, schattenhaften Abendaromen schwängern die Musikerinnen und Musiker den Festsaal sattsam. Gleich zu Beginn des Konzerts versuchen sies nach Kräften, im „Prélude de la nuit“, dem magisch monotonen „nächtlichen Vorspiel“, mit dem Maurice Ravels „Rhapsodie espagnole“ anhebt. Vielleicht aber kommt ihnen das Idiom (noch) allzu spanisch vor: Übervorsichtig formulieren sie die vier Sätze, als trauten sie sich nicht recht mit der eigentümlichen Tonsprache heraus. Im letzten, einer rauschenden „Feria“, lassen sie sich dann aber doch auf einen gemäßigten Festrausch ein.

     Heftiger entflammen sie später für das Triptychon von Claude Debussys „Iberia“. Von den belebten „Straßen und Wegen“ des ersten Abschnitts weg streifen sie im zweiten durch die „Parfüme der Nacht“, um im dritten neuerlich bei einem „Festtag“ einzukehren. Keine Bekundungen „aus dem eigenen Leben“ Debussys – nur ein Mal hat er Spanien bereist; doch unbedingt ein Werk, das dem Irrtum des Komponisten, er habe mit dem Impressionismus nichts zu tun, Hohn spricht: Als „Malerei“ verstand er selber seine synästhetische Musik, die viele „Variationen der Farbe und des Lichts“ in sich vereint. „Images“, Bilder, heißt der Zyklus, der „Iberia“ enthält.

Kastagnetten-Solist

Daran hält sich der Dirigent. Aus Anspannungen und Verzögerungen spannt Joseph Bastian, am Pult ein Gentleman der geschmackvoll fließenden Bewegung, ein dramaturgisches Netz von unmittelbarer Anschaulichkeit aus. Den Enthusiasmus der Streicher fängt es ebenso sicher wie die Anfeuerungen der Holzbläser, die Hornsignale auf, das Geprassel aus Schlagwerk und Tamburin und die Fragmente einer Elegie des Englischhorns, schließlich, im ausgelassen feiernden Finale, die Derbheiten der Musikantenklarinette und -geige wie die zauberischen Verheißungen aus Harfen, Glocken und Celesta. In all dem lässt Bastian einen hingebungsvollen Kastagnetten-Solisten – unverdient unsichtbar ins linke Off des Podiums verbannt – beharrlich landestypische Klapperrhythmen zelebrieren.

     Zu guter Letzt entfesselt sich imposant das volle Werk des Orchesters – nicht anders als in der Apotheose des „Bolero“. Dort aber, in Ravels berühmtester, zugleich scheinbar einfachster Partitur, sammeln, fügen, ballen die Symphoniker den Zusammenklang zuvor erst nach und nach, in achtzehn sich übertrumpfenden Varianten eines einzigen thematischen Kerngedankens. Das soll „keine Musik sein“? Es ist Musik in reinster Manifestation. Denn genial folgerichtig – und wie die erst gut dreißig Jahre später in den USA erfundene minimal music – führt Ravel die Tonkunst auf ihre zwei ursprünglichsten Parameter zurück: auf Wiederholung und Veränderung. Von der Flöte, dann der Klarinette ausgehend, sodann über immer exzentrischere Instrumentenkoppelungen und Mixturen hinweg baut Joseph Bastian immer ekstatischer eine sinnbetörende Magie der Monotonie auf. Wiederum ein Beispiel französischer „Eindruckskunst“, aber ein radikal veräußerlichtes: entfaltet doch der Impressionismus in diesem Sonderfall unmittelbare Körperlichkeit, etwas begehrlich Drängendes, aufgestaut Erotisches – bis die Dämme brechen: Der Höhepunkt des „Bolero“ ist keiner der Lustigkeit, sondern, ziemlich unverhohlen, einer der Lust.

■ Die Hofer Symphoniker im Internet: hier lang.



Reise nach Jerusalem
Schubert und Mendelssohn beim Großen Herbstkonzert in Waldsassen: Andreas Sagstetter, Musikchef der Stiftsbasilika, stellt „katholische“ Kompositionen eines Kirchenskeptikers und eines Protestanten mit klangschöner Eindringlichkeit und plausibler Spiritualität nebeneinander.

Dirigent Andreas Sagstetter mit (von links) Jana Hrochová und Manuela Falk, Tomáš Černý und David Szendiuch vor den Chören aus Waldsassen und Blansko sowie den Czech Virtuosi: Eindrucksvolle Stimmen in ausgewogener Gemeinschaft. (Foto: thu)


Von Michael Thumser

Waldsassen, 8. November – Glaube und Kirche sind nicht selten zweierlei. So trachtete Franz Schubert zwar in nicht weniger als 39 geistlichen Werken danach, seine katholische Frömmigkeit musikalisch auszudrücken, aber in keiner seiner sechs lateinischen Messen brachte ers über sich, den für das „Credo“ maßgeblichen Passus „… et in sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam“ – „Ich glaube … an die heilige katholische [soll heißen: allumfassende] und apostolische Kirche“ – zu vertonen. Felix Mendelssohn Bartholdy hingegen arbeitete gefügig der römischen Kirche zu, als er 1846 sein „Lauda Sion“ zum 600. Jubiläum des Fronleichnamsfestes schuf; über das darin verherrlichte Abendmahlsdogma allerdings – das auf der „Realpräsenz“ von Leib und Blut Christi im Brot und Wein der Kommunion beharrt – dachte er als praktizierender Protestant naturgemäß ganz anders.

     In Waldsassens vollbesetzter Stiftsbasilika unternahmen am Sonntag Vokalisten und Instrumentalisten zusammen mit dem Publikum eine „Reise nach Jerusalem“, in den Saal der Abschiedsmahlzeit Jesu mit seinen Jüngern; so umschrieb Pfarrer Dr. Thomas Vogl in kurzen, treffenden Begrüßungsworten das spirituelle Anliegen des „Großen Herbstkonzerts“ und verwies gerade angesichts der aktuell ausufernden Schrecken im Heiligen Land auf das Bedürfnis der Gläubigen, „den Frieden zu besingen, zu erbitten und erfahrbar zu machen“. Eben dafür stehen beide Tonsetzer mit beiden Opera: ist doch Jerusalem, sakrales Zentrum sowohl der Juden wie der Moslems, zugleich Keimstätte eines Christentums, das über den Konfessionen steht.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Den veränderlichen Nachdruck der zwei Partituren weiß Kirchenmusikdirektor Andreas Sagstetter als ungeziert und mit Bedacht agierender Dirigent sinnvoll einzuteilen. Vornehmlich begleitende Aufgaben weist er dem Orchester Czech Virtuosi zu, was ihn nicht davon abhält, einzelne Instrumentengruppen – vor allem das gepflegt intonierende Holz – zu kultivierten Intermezzi herauszufordern. Sein Hauptinteresse aber gilt den vereinten Chören und den teils komplexen Polyfonien und ausladenden Fugen, mit denen sie das Gros der Aufführung bestreiten. Dabei beweisen die Sängerinnen und Sänger der Basilika und des seit Langem mit ihnen verpartnerten Ensembles „Rastislav“ aus dem südmährischen Blansko, wie eingehend sie sich mit den romantischen Gemeinsamkeiten wie den stilistischen Unterschieden zwischen den Kompositionen vertraut gemacht haben.

Andreas Sagstetter: Ungeziert und mit Bedacht agierend. (Foto: Pfarrei Waldsassen)

     In vertrauensvollem Kontakt mit dem Dirigenten, ohne Kraftaufwand und Schärfe klar in den Höhen, akkurat bei den zahlreichen Wechseln der Harmonien und Lautstärken, der Stimmung und ihrer Schwankungen, rhythmisch fast immer punktgenau -  so lassen sie sich auf Schuberts Es-Dur-Messe (D 950) ein; und verheimlichen nicht, dass es dem Tonsetzer in seinem Todesjahr 1828 nicht um eine landläufige klerikale Jubelfeier zu tun war. Im „Gloria“ beispielsweise geben sie durch sinistre Modulationen und klangfarbliche Verdunkelungen Momenten des Krisen- und Schuldbewusstseins einschüchternd Raum. Beim „Qui tollis“ grollt geradezu Unheil aus den Streichern – bis die Chöre zagend und zärtlich die Erbarmensbitte des „Miserere“ dagegenstellen, um sodann die große Fuge „Cum sancto spiritu“ mit behäbiger Gewichtigkeit – wenngleich ein wenig zu schwunglos – anrollen zu lassen.

     Desgleichen verweigern sie dem „Sanctus“ mit seinen zwielichtigen Dur-Moll-Wechseln die Bekundung reiner Freude. Hier haben die Solostimmen Gelegenheit, eindrucksvoll in ausgewogener Gemeinschaft aufzutreten. Neben Manuela Falks mädchenhaft lichtem Sopran versenkt sich Jana Hrochová mit prächtigem Timbre in die umso tieferen Untergründe ihres Alts, gegen den sich Tomáš Černý mit markantem, auch schon mal fordernd hartem Tenor behauptet. (Kurz gesellt sich aus dem Chor Ottmar Andritzky kollegial zu ihm). Mag Schubert auch die unterste Solopartie vergleichsweise stiefmütterlich behandelt haben – David Szendiuch hindert dies nicht, sich im baritonalen wie im Bass-Register gleich präsent zu präsentieren. Abermals vereinen sich die vier Stimmen im abschließenden „Agnus Dei“ – nach vorangegangenen schicksalsschweren, wie mit Posaunen des Jüngsten Gerichts anhebenden, von insistierenden Tönen der Trompete schrill durchschnittenen Anrufungen des Chors. Zusammen mit ihm tritt das Quartett endlich beim Friedensgebet des „Dona nobis pacem“ in einen zuversichtlichen Dialog melodiöser Schlichtheit ein: Alles bisher Bedenkliche, für Augenblicke wiedergekehrt, wandelt sich besiegelnd in die Helligkeit der Hoffnung.

Hörenswerte Rarität

Auch Felix Mendelssohn Bartholdy wollte sich, wie er mehrfach äußerte, an einer lateinischen, „katholischen“ Messe versuchen. Er unterließ es, wäre indes wohl kaum an solchem Großprojekt gescheitert. Dies bezeugt, am Beginn des Konzertnachmittags stehend, seine Kantate „Lauda Sion“, eine Rarität - und eine unbedingt hörenswerte. Auch hier mischen sich Solistinnen und Solisten zusammen beweglich mit reifem Ernst in die ausgesuchte Schönheit des Stücks ein, doch tritt in drei von sieben Sätzen namentlich die Sopranistin Manuela Falk mit hellstimmiger, gleichsam naiver Natürlichkeit hervor.

     Zeremoniös eröffnet Andreas Sagstetter mit einem Hymnus der tiefen Bläser die Liturgie, der sodann der Chor, in sich ruhend, Worte verleiht. Dem Schau- und Hörplatz angemessen – immerhin wird in einer Päpstlichen Basilika musiziert –, gelingt den Vokalisten das Bekenntnis zum Dogma der Realpräsenz im fünften Teil besonders plausibel, homofon archaisch über prozessionshaft schreitendem Metrum. Durch den Bitt- und Bußgang des ausgedehnten finalen Abschnitts ziehen der Chor und die Czech Virtuosi, als wärs ein karfreitäglicher Trauermarsch. 

     Freilich ist mit dem „wahren Brot“, von dem der Text zum Schluss spricht, nicht erst ein „Manna“ des ewigen Jenseits gemeint, sondern durchaus hiesig und heutig eines der diesseitigen „Güter im Land der Lebenden“. Sie, die Sterblichen, sehen sich von den letzten Versen berufen, „Tischgenossen“ Christi zu sein, nicht anders als vor zweitausend Jahren die apostolische Tafelrunde in Jerusalem. Der Friede, den Schuberts Messe an ihrem Ende erfleht, tritt hier schon ein.

■ Die nächsten Konzerte in der Basilika Waldsassen: 2. Dezember, 15.30 Uhr, Adventskonzert mit den Wiener Sängerknaben; 10. Dezember, 16 Uhr, Alpenländisches Weihnachtsoratorium von Hans Berger.
■ Die Basilikakonzerte und weitere Veranstaltungen im Internet: hier lang.



Der Schlüssel zur Glückseligkeit

Tod – und Verklärung? Die Symphoniker stimmen in Hof, passend zu den aufgewühlten Zeitläuften, Musik über die letzten Dinge an. Vor allem mit Werken von Richard Strauss führt Dirigent Hermann Bäumer das Orchester eindrucksvoll übers Lebensende hinaus zu Ahnungen jenseitigen Friedens.

Hermann Bäumer vor den Symphonikern bei ihrem Hofer Konzert am Freitag: In Zeiten des Krieges Musik über Zeiten des Krieges. (Foto: Hofer Symphoniker)


Von Michael Thumser

Hof, 24. Oktober – „Ist dies etwa der Tod?“, lässt der 84-jährige Richard Strauss die Interpretin des letzten seiner „Vier letzten Lieder“ singen, „wandermüd“, „im Abendrot“. Etwa – und: ein Fragezeichen; denn was und wie er ist, der Tod, kann niemand wissen, der noch lebt. Der keineswegs nur pessimistische Philosoph Arthur Schopenhauer hielt ihn für einen „inspirierenden Genius“: „Schwerlich würde ohne den Tod philosophiert werden.“ Und schwerlich gedichtet, gemalt – komponiert. Ganz ähnlich hatte zuvor schon Wolfgang Amadeus Mozart gedacht: Er, dem beschieden war, sehr jung zu sterben, war mit 31 Jahren doch altersweise genug, um im Tod einen „der besten Freunde des Menschen“ zu erblicken, mehr noch: „den Schlüssel zu unserer wahren Glückseligkeit“.

     In Zeiten des Krieges, da in der Ukraine und im Heiligen Land hundertfach gelitten und gestorben wird, eröffneten die Symphoniker ihr zweites Hofer Konzert am Freitag mit Musik über Zeiten des Krieges; genauer: mit mythologischer Musik von Mozart und Strauss über Zeiten, da der Trojanische Krieg gerade vorüber ist. In den beiden Instrumentalstücken aus Opern breitet sich folglich die Freude am Frieden aus, in Mozarts Ballettmusik vom Schluss seiner Oper „Idomeneo“ sogar als Triumph. Nur um einen gewonnenen Krieg kann es sich hier handeln, so kraftvoll, wie das Orchester im Festsaal der Freiheitshalle gleich in den ersten Takten mit der Tür ins Haus fällt, frisch und munter wie der helle Tag. Zwar, auch verhaltenere Passagen naiver Beschaulichkeit schiebt Hermann Bäumer als conductor in residence ein, auch heftigere Reminiszenzen an vergangenes Unheil. Doch einer Stimmung der Dankbarkeit, entronnen zu sein, räumt er entschieden den Vorrang ein und ballt sie zur Strahlkraft eines ungebrochenen Maestoso, das er eine begeistert abschließende Schnellstrecke hindurch ans euphorische Ziel treibt.

Traumphasen

Mit „Divertissement“ ist dies Ballett überschrieben und auch so gemeint: als Zeitvertreib, Unterhaltungsmusik zur Zerstreuung. Weitaus substanzieller und nuancierter hat Richard Strauss in seiner (kaum je aufgeführten) Oper „Die Ägyptische Helena“ die posttrojanische Nachkriegszeit ins Innerliche übertragen, zumindest in der schillernden Orchester-„Fantasie“, die Karl Anton Rickenbacher aus Kernelementen des ersten Akts erarbeitet hat. Nicht nach Art eines ‚kleinen Querschnitts‘ durch das Bühnendrama rollt Hermann Bäumer dies Kondensat aus, schon gar nicht als Vokalmusik ohne Vokalisten; vielmehr entwickelt er daraus eine eigenständige symphonische Dichtung von hohem emotionalem Flair. 

     Mit beängstigendem Gewaltgetöse beginnt sie, worauf der Solo-Oboist, gleichsam auf den Leibern der Gefallenen, ein trostloses Lamento anstimmt. Bald aber dehnen die Musikerinnen und Musiker den spätestromantischen Vollton – mit zwei Harfen – über eine beeindruckend breite Farbpalette hinweg aus, um in Traumphasen schwelgerischer Ruhe einzumünden. Deutliche Themen bemänteln in subtiler Harmonik die kleinasiatisch-orientalische Handlung mit einem gehobenen österreichischen Idiom, das an Strauss’ „Rosenkavalier“ und seine „Ariadne“ erinnert, wenn auch zu einer Vielfalt gravierender Empfindungen intensiviert. Alle oberflächliche Äußerlichkeit, die zuvor Mozarts Tanz-Stück vorantrieb, nimmt der Dirigent zugunsten einer suggestiven Magie zurück, der zuliebe er in der Schlussepisode jede Übertreibung unterbindet. Wahrlich lyrische Musik gelingt den Symphonikern: ein Ton-Poem.

Flacher Puls, stockender Atem

Dem entspricht, weit treffender als die Lustbarkeit aus dem „Idomeneo“, Mozarts „Maurerische Trauermusik“. Während weniger Minuten der Betrübnis leitet das Orchester mit ihr schwermütig in den zweiten Teil des Konzertabends hinüber, im Gestus still gramgebeugt, gelegentlich scharf in den Klageklängen, doch auch mit Aufhellungen, Erleuchtungen. Mithin vermählen sich schon hier „Tod und Verklärung“ unauflöslich, wie sie es an- und abschließend in der gleichnamigen Tondichtung des 25-jährigen Richard Strauss noch drängender tun. Letzte, peinsame Momente eines endenden Lebens gilt es in jenem chef d’œuvre des Programms zu schildern, aber ebenso den Aufstieg in ein Elysium. Ersterbend flach hält der Dirigent den Puls des Orchesters zunächst, mehr stockend als tief lässt er den imaginierten Sterbenskranken todmatte Atemzüge schöpfen. In Wehmutsweisen mischen die Instrumentalisten lichte Momente schmelzenden Sentiments, umgekehrt senken sie Fiebertraumfetzen und Glückssekunden in Dumpfheit zurück; bis rigorose Klangattacken die Qual der Krampf- und Schmerzanfälle auf die Spitze treiben. Immer weltverlorener aber eröffnen sich, wie in einem Abendrot, phantasmagorische Inseln der Beseligung …

     Die heikle Aufgabe, jenseits drohender Abgeschmacktheit in der formidablen Komposition das Gleichgewicht von Panik, Pathos und Apotheose zu halten, löst Bäumer grandios – wofür nach den letzten Takten sowohl das Stillschweigen des Publikums in gefangener Ergriffenheit als auch der dann jubelnd ausbrechende Beifall spricht –; schlüssig hat Bäumer die orchestralen Massen komprimiert und ebenso verstanden, sie in aller Wucht und Verve transparent zu halten. So lang es irgend geht, erlaubt er dem dünnen Lebensfaden nicht, zu reißen; der überdauert, aller Schwäche ungeachtet, zumal in konstanten Tiefen von Bässen und Blech, Harfen, Gong, bis er sich endlich befreien darf. Dann löst das Orchester die Verstrickung von Not und Tod und Hoffnung in einen Hymnus an das Leben auf, ans Licht: Vielleicht scheint die Sonne des Friedens in einer posttraumatischen Nachkriegszeit über den Kampfgebieten irgendwann wieder; vielleicht scheint sie im Jenseits ja auch.

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Bloß keine Kinkerlitzchen

Das Atrium-Quintett kombiniert in Hof Bläsermusik der klassizistischen Romantik und klassischen Moderne. Technisch extrem herausgefordert, brillieren die fünf Mitglieder der Symphoniker mit Klangkultur und -farbigkeit und einer imponierenden Gleichzeitigkeit des Zusammenspiels.

Birgitta Kurbjuhn (Querflöte), Pawel Kondakow (Oboe), Alan Korck (Horn), Tonko Huljev (Fagott) und Thomas Faltlhauser (Klarinette, von links) im Saal der Klangmanufaktur: Die Musik eines „Kleinmeisters“ muss keine Lappalie sein. (Foto: thu)


Von Michael Thumser

Hof, 20. Oktober – Wo die großen Persönlichkeiten die Richtung weisen, bleiben für manch andere, nachrangige, oft nur Nebenwege. Gleichwohl sollte man, was ihnen dort gelingt, nicht für Bagatellen halten. So musste Anton Reicha zwar erleben, dass sein gleichaltriger Jugendfreund Ludwig van Beethoven ihn als Tonsetzer um Längen überholte; dennoch schrieb der Böhme, gelernter Flötist, sich nicht nur mit etwa hundert Kammermusiken geistreich in die Kulturgeschichte ein, sondern vor allem – 1817 in Paris – mit der Erfindung des Bläserquintetts, einer Gattung, der er selbst 24 Werke beisteuerte. Was hätte für das Atrium-Quintett näher liegen können, als sein Konzert in der Hofer Klangmanufaktur mit einer Schöpfung Reichas zu eröffnen?

     Das Atrium, nach dem das 2005 gegründete Ensemble aus Mitgliedern der Hofer Symphoniker sich benennt, ist ein nach den Seiten und nach oben offener Raum im Zentrum einstöckiger Gebäude – mithin ein von allen Seiten zugänglicher Bereich, geschaffen für den Blick hinauf zu Sonne, Mond und Himmel. Wirklich treffen sich solcherart eine Flötistin und vier männlichen Kollegen auf halber Strecke, indem sie gleichrangig ihr je Eigenes einbringen, ohne einander in die Begleiterrolle abzudrängen oder ein exponiertes Solo zu missgönnen.

     Humoristisch brummig gibt in Anton Reichas Quintett opus 88/2 das Fagott Tonko Huljevs das Thema für den Kopfsatz vor, den in der Folge der Klarinettist Thomas Faltlhauser und Alan Korck mit dem Horn, sodann Birgitta Kurbjuhns Flöte und die Oboe Pawel Kondakows mit kultivierten Duetten bereichern. Eher sprudelnd als tänzerisch das Menuett; danach, im „graziösen“ Andante, tritt der Oboist aus der Gruppe mit einem Kantabile heraus, das Alan Korcks Horn mit sanfter Salbung übernimmt. Mit Jagdmotiven führen die fünf das gutgelaunte Werk an ein volkstümliches Ende. Es zeigt sich: Die Musik eines spätklassischen „Kleinmeisters“ muss keine Lappalie sein.

Wohlerwogene Störtöne

Reizvolle Gemeinsamkeiten sowohl wie aufschlussreiche Widersprüche zu dieser Komposition offenbaren die Künstlerin und ihre vier Gefährten im g-Moll-Werk (opus 56/2) aus Franz Danzis insgesamt neun Arbeiten der Gattung. Einerseits widmen sie sich auch hier gewissenhaft einer filigranen Kontrapunktik und finden sich sozusagen Schulter an Schulter neuerlich harmonisch durch die „durchbrochene Arbeit“ der Partitur, indem sie Themen und Motive zwischen ihren Instrumenten hin und her wandern und wechseln lassen. Andererseits legen sie bei Spieltechnik und -tempo ordentlich zu und stimmen sich gleich im behänden Anfangs-Allegretto in geistvoll changierende Moll-Dur-Wechsel ein. Gegen die beständige Unaufgeregtheit im romantisch modulierenden Andante erheben sie im folgenden Menuett mit Vehemenz – und wohlerwogenen Störtönen aus der Klarinette – Protest, den sie im Schluss-Allegretto noch steigern. Da ist Virtuosität gefragt.

     Dergleichen ist wahrlich kein Kinkerlitzchen, Klein- und Kleckerkram. Auch György Ligeti kann die Betitelung von sechs scheinbar launig-nichtigen Bläser-Miniaturen als „Bagatellen“ nur ironisch gemeint haben. Dass die Piècen aus dem Jahr 1953 sich einem strikten Willen zur Reduktion verdanken, verführt die Hofer Interpreten nicht dazu, in Klangfülle und Tonpräsenz nachzulassen. Halb schnippisch, halb aufgeregt greifen sie nach dem ersten der Stücke. Kummervoll und deutlich dissonant klagt das zweite, ein Lamentoso, das sie unter den Druck schmerzend greller Akzente setzen. Ganz tonal hingegen die Nummer drei, eine Art minimal music mit ostinaten Figuren, von den Instrumentalisten untereinander weitergereicht. Vorschriftsmäßig ruvido, grob, zerreißen sie das metrisch-rhythmisch widerborstige Presto. Dann lassen die fünf aus folkloristischem Melos die Geheimnisse einer düsteren Rhapsodie erwachsen, die Ligeti dem Gedenken an Béla Bartók widmete; bis sie, tonsprachlich nun näher bei Dmitri Schostakowitsch, den Zyklus mit dem Tumult eines grotesken Spaßes beschließen. So augenzwinkernd lässt sich in einen Himmel blinzeln, an dem der Mond nicht viel weniger hell scheint als die Sonne.

„Wie ein Sinnenrausch“

Ähnlich verstehen sie den Spieltrieb, der den Franzosen Jean Françaix wie „ein Sinnenrausch“ beim Komponieren überkam. Sein zweites Quintett, 1987 uraufgeführt, nennt Alan Korck „das Hauptwerk“ des Hofer Programms, an dessen Schluss es mitreißend effektvoll steht. Der zweite der fünf Sätze – nach dem wiegend-schiebenden Gleichmaß des Auftakts – fordert als Kollektiv-Etüde die Fertigkeiten der Musizierenden restlos heraus, ein perpetuum mobile, das sie mit staunenswerter Synchronizität am unstet-überstürzten Laufen halten. Mit scherzando, tändelnd witzig, überschrieb Françaix den dritten Satz – freilich könnte die Vorschrift über dem ganzen vollreifen Alterswerk stehen: Der vermeintlich regellosen Vielgestalt seiner Sätze stellt sich das Ensemble mit wacher Übersicht, genauer Kenntnis der polyphonen Verstrickungen und Klarheit in der vielfarbig durch mancherlei Tonarten vagabundierenden Chromatik. Im vierten Satz vertauscht Pavel Kondakov die Oboe mit dem Englischhorn; der Ton der schwelgerischen Schalmeienweise, die er damit melodieführend anstimmt, lässt an die leicht rauchige Melancholie eines Saxofons denken. Mit einem Baritonsolo revanchieren sich Alan Korck und sein Horn im Schlusssatz, der in seiner zwitschernden Flatterhaftigkeit so flink gerät, dass über den Noten nicht einfach Allegro, sondern superlativisch Allegrissimo steht.

     Hier wie während des ganzen Abends bekennt sich das Atrium-Quintett zu einer Musik der Eleganz und Leichtigkeit, die sich von allzu ausdrücklichem Tiefsinn zwar abkehrt, ohne sich jedoch in der Gediegenheit ihrer Machart Schwächen zu erlauben. Jeder Beitrag des Abends und ebenso die Interpreten dürfen Feinsinn und Ausdruck für sich reklamieren, Stil- und Formgefühl, Geschmack. Letzterer sei „die Kunst, sich auf Kleinigkeiten zu verstehen“, hat Françaix’ Landsmann Jean-Jacques Rousseau gesagt. Er wusste, wovon er sprach: Der große Denker hat auch komponiert und war, nebenbei, Flötist.

■ Nächstes Kammerkonzert der Hofer Symphoniker: 17. November, Hof, Klangmanufaktur (Kulmbacher Straße 1), 19.30 Uhr, „Faszination Horn“. Informationen im Internet: hier lang.
■ Das Atrium-Quintett im Internet: hier lang.



Balu hat den Bogen raus

Wundersame Vermehrung: Die „projects4cellos“, entstanden aus den „Vier Evangcellisten“, sitzen in Selb auch schon mal zehn- bis elfköpfig auf der Bühne des Rosenthal-Theaters. Beim „Release-Konzert“ für die neue Einspielung der Truppe macht sich die versprochene CD „Verismo“ hingegen rar.

Aus vier mach acht (von links): die "projects4cellos" mit den "Evangcellisten" und Freunden. (Fotos: thu)


Von Michael Thumser

Selb, 6. Oktober – Zu viert haben sie fünfzehn Jahre auf dem Buckel, immerhin. Im Oktober 2008 schlossen sich die Weimarer Hochschulabsolventen Markus Jung und Mathias Beyer, Lukas Dihle und Hanno Riehmann als „Die vier Evangcellisten“ zusammen, unterm gleichsam biblischen Ensemblenamen, weil jeder von ihnen mehr oder weniger so heißt wie einer der neutestamentlichen Evangelisten. Inzwischen sind sie auch als „projects4cellos“ unterwegs – wobei die 4 in der Mitte sich zwar einerseits gleichfalls auf die Besetzungsstärke des Ursprungsquartetts bezieht  (four), andererseits aber, wie so oft, als das englische for gelesen werden kann: Projekte für Cellos bringen die Herren seit anderthalb Jahrzehnten auf den Weg, wobei sie sich gelegentlich gern mit anderen Musikern verbinden und sich dann in puncto Ensemblegröße kaum Zwänge auferlegen.

Markus Jung: "So viele waren wir noch nie."

     Fünfzehn Jahre: Als offizieller Zeitraum für ein Jubiläum gilt die Frist zwar nicht. Aber die „Evangcellisten“ nutzen trotzdem die Gelegenheit zum Feiern: Die Spielzeiteröffnung in Selb bestritten sie mit einem „Release-Konzert“ für ihre neue CD „Verismo“, und nicht nur ein an gepflegt-unalltäglicher Kammermusik interessiertes Publikum war ins Rosenthal-Theater eingeladen (wo es lebhaft applaudierte), sondern ebenso eine nicht geringe Schar von Mitstreitern. Fünf Kollegen bringen die vier mit, die einzuspringen pflegen, wenn unter ihnen am Mann ist: Nassib Ahmadieh und Sebastian Chong, Alexey Shestiperov von den Hofer Symphonikern, Alexandre Castro-Balbi und Florian Bischof; dazu „als Gast“ Ariel Barnes. Mithin dürfen sich die Akteure den Luxus leisten, auch schon mal zu zehnt in langer, sacht geschwungener Reihe auf der Bühne Platz zu nehmen. Naturgemäß erinnert das dann an die berühmten „12 Cellisten der Berliner Philharmoniker“. Bei denen wirken allerdings zwei Damen mit; anders die „projects4cellos“: Standhaft eingeschlechtlich figurieren sie als reine Männerrunde.

Vom Falsett zum Kontrabass

Ansonsten aber folgen sie wichtigen Tugenden des vorbildhaften metropolitanen Spitzenensembles. Monoton tenoralen Gleichklang ihrer Instrumente vermeiden sie, indem sie ihr Registerspektrum von Falsett-nahen Höhen bis in fast Kontrabass-tiefe Untergründe ausbreiten. Fließend wechseln sie einander in der Stimmführung ab. Vom satt-sonoren Ton, der sich geübtem Bogenstrich verdankt, wechseln sie postwendend zu schnippisch-plauderhaften Pizzicato-Piècen (von Markus Jungs Vater Fredo, Johann Strauß Sohn und, in der Zugabe, Udo Hartlmaier). Und ihr Repertoire – das neben einigen Originalkompositionen vornehmlich aus Arrangements von eigener und fremder Hand besteht – reicht von Swing und Tango über Grandseigneur-haft schmachtende Operettenmelodien und süffiges Opernarien-Sentiment (in Selb von Giacomo Puccini) bis zur Bearbeitung altehrwürdigen Liedguts: Mit Franz Schuberts „An die Musik“ statten sie gleich zu Anfang der „holden [Ton-]Kunst“ ihre Huldigung ab.

     „Wahnsinnig gut“, sagt Markus Jung als Moderator, eigne sich das Cello „für Schicksalsschläge“. Gern glaubt mans, wenn acht Streicher das „Requiem“ des Böhmen David Popper anstimmen: schmerzlich schön, fast leidverliebt. Umso temperamentvoller geraten ihnen zwei Sätze aus Heitor Villa-Lobos’ erster „Bachiana Brasileira“: rhythmisch ungeduldig das „Preludio“, fiebernd feurig, phasenweise humoristisch; doch die folgende „Introdução“ klagt wiederum, teils tragisch, teils mimosenhaft.

Lässige Jazz-Partner: Saxofonist Christopher von Mammen und Harry Tröger am Schlagzeug.

     Für Richard Gallianos „Opale Concerto“ tritt der Hofer Ausnahme-Akkordeonist Harald Oeler ins Zentrum der Streicher: Heftig, geradezu unwirsch rückt er den aufregenden dritten Satz des Werks nah an das Idiom Astor Piazzollas heran, durch resolute Resignation und mondäne Melancholie. Mit souveräner Saxofon-Coolness postiert sich Christopher von Mammen an der Rampe und verwandelt, gemeinsam mit dem nicht minder lässig-überlegenen Harry Tröger am Schlagzeug, Paul Desmonds Jazz-Standard „Take Five“ improvisierend zu einem weiteren top act des Programms. Zehn Cellisten und der Drummer (Markus Jung: „So viele waren wir noch nie“) „probieren“ es schließlich „mit Gemütlichkeit“, nicht freilich wie im Disney-„Dschungelbuch“ Balu der Bär bedächtig und in Seelenruhe, sondern wie es sich gehört: frech, munter und agil.

     Um über die verheißene CD „Verismo“ die „Wahrheit“ zu berichten: Sie trat an diesem Abend erst ziemlich spät und darum für das Gros der Besucher gar nicht in Erscheinung.

■ Das Ensemble im Internet: hier lang.
■ Für das kommende Jahr planen die „Vier Evangcellisten“ eine weitere Ausgabe der traditionsreichen „Hofer Cellotage“.


Die zarte Pflanze Hoffnung

Zum Saisonsauftakt der Symphoniker bekommen es die Zuhörenden in Hof mit mitreißenden Frauen zu tun: Tianyi Lu brilliert als präzise Dirigentin, Harriet Krijgh lässt ihr Cello wie in der Oper singen und agieren, und die Komponistin Anne Clyne schildert eine monströse Mitternacht.

Tianyi Lu und Harriet Krijgh vor den Hofer Symphonikern: Tödliche Tutti-Schläge. (Fotos: H. Dietz Fotografie)


Von Michael Thumser

Hof, 3. Oktober – Was ist Musik? Schwer zu sagen. Jeder Mensch erkennt sie, wenn sie ihm begegnet, aber zu definieren vermag er oder sie den Begriff darum noch lange nicht. In etlichen einschlägigen Fachlexika, sogar in solchen von Renommee, fehlt das Stichwort völlig. Warum sich also nicht auf die Dichter verlassen – etwa auf den Spanier Juan Ramón Jiménez. In einem Kürzest-Gedicht beschrieb der Nobelpreisträger von 1956 la musica als „mujer desnuda, corriendo loca por la noche pural“, als eine nackte Frau, rennend durch die tiefe Nacht.

     Gleich drei außerordentliche Frauen, bekleidete natürlich, exponierten die Symphoniker, als sie am Freitag ihre neue Spielzeit eröffneten. In rot-rauschender Galarobe trat die 32-jährige Harriet Krijgh mit ihrem Cello als Solistin aufs Podium; zum Taktstock griff die um nur ein Jahr ältere Tianyi Lu, eine in China geborene Neuseeländerin, zierlich und zackig; und den programmatischen Auftakt machte eine Londonerin, die in New York lebt: Anna Clyne (Jahrgang 1980). Sie ließ sich von den zitierten knappen Versen Jimenez’ 2015 zu einer grandiosen Tondichtung inspirieren, die im Festsaal der Freiheitshalle als schwarzes Nocturne erklang, im Vollton einer Besetzung wie für eine Tschaikowsky-Symphonie, schwergewichtig, doch nicht schwer verständlich: „This Midnight Hour“.

Flucht durch die Dunkelheit

Nicht etwa mit den zwölf obskuren Glockenschlägen einer Geisterstunde beginnt diese Mitternacht. Stattdessen brechen die Symphoniker mit stürmischem Forte schlagartig zu einer schaurig-schönen Flucht durch die Dunkelheit los; indes durch eine Dunkelheit, die unter Tianyi Lus Anleitung in vielen Farben schillert. Nicht allein die Pauke pocht, die Kontrabässe tun perkussiv desgleichen. Zwischen unheilvoll dräuende Pulse fügt die Dirigentin Schichten sinistrer Ruhe oder sogar stille Zwischenräume ein, Spalten in der Dramaturgie, Pausen der Unergründlichkeit. Warnrufe wie aus Sirenen weichen übersinnlichen Hochtönen oder den barocken Dur-Schlüssen eines täuschend stoischen Chorals. 

Tianyi Lu: "Eine nackte Frau rennt durch die tiefe Nacht."

     Aus den scharfkantig abgebrochenen Fragmenten entfesselter Energien schieben die Bratschistinnen und Bratschen, wie mit verstimmten Instrumenten, die schwermütig-schrägen Reste eines französischen Musettewalzers ein. Denn die Komponistin hat auch ihren Charles Baudelaire gelesenen (die „Blumen des Bösen“ und darin das Gedicht „Abendklänge“): „Die Geige bebt, ein Herz klagt aus den Saiten, / Schwermütiger Walzer, zärtlich sanftes Gleiten“ … Schließlich postieren sich zwei Trompeter auf dem Podium hinten links und rechts, um mit begütigenden Signalen überraschend träumerische Schlusswendungen einzuleiten; die dann doch mit einem letzten Tutti-Schlag totgeschossen werden.

Schicksalsdramatik

Das deutet schon mal voraus auf das zweite reine Orchesterwerk des Abends, auf die vierte Symphonie Pjotr Iljitsch Tschaikowskis, die er nicht weniger strikt mit Schicksalsdramatik aufgeladen hat. Zu Frauen, nackten jedenfalls, fühlte sich der Tonsetzer nicht hingezogen: Schwer litt er an seiner Homosexualität und stürzte sich darum im Entstehungsjahr der f-Moll-Komposition, 1877, in eine absurde Ehe und einen Suizidversuch: „Ein Herz klagt aus den Saiten …“ Mit dem Titel „Fatum“ sieht man die Vierte gelegentlich versehen, und so hängen denn auch die Hofer Musikerinnen und Musiker das dadurch insinuierte Verhängnis wie ein Damoklesschwert hörbar über den Zyklus, als wärens die Posaunen des Jüngsten Gerichts: Mit der leitmotivischen Anfangsfanfare verleihen sie der Symphonie insgesamt einen katastrophischen Grundzug, dem Kopfsatz zuallererst.

     In der Zerrissenheit seiner Rhythmik spiegelt sich die Zerrissenheit von Tschaikowskys Gemüt. Ein Tumult, obgleich geordnet: Aufgewühlt, wenn nicht ungemütlich fügen sich die Stimmungen aneinander, oft als Verzweiflung hervorbrechend trotz vereinzelter Gebärden des Triumphs. Moderato con anima schrieb der Komponist über den Satz, und die Dirigentin befolgt die Vorschrift, indem sie dessen unglückliche Friedlosigkeit in gemäßigtem Tempo und „mit seelenvollem Ausdruck“ verbreitet. Bei aller Deutlichkeit ihrer Gebärden feuert sie das Orchester nicht einpeitschend an, sondern motiviert es ökonomisch, weil sie seinen Kräftehaushalt, seine packenden, pathetischen, seine poetischen Potenziale präzis erkennt. Letztere entfalten sich im Andantino, wo der eingangs räsonierenden Oboe alsbald die Celli, dann das Tutti mildernd widerspricht. Zu einer gewissen Festlichkeit steigert Tianyi Lu den Gestus, behält aber die Haltung einer vitalen Skepsis bei, von der sie und das Orchester sich vollständig – und überaus reizvoll – nur in den spielerisch-heimlichen Trippeleien des Scherzos lösen. Im Finale entfalten sie Getöse im Übermaß, als wollten sie mit Scheppern, Rasseln und Radau das Glück erzwingen, am Schicksal und seiner wiederkehrenden „fatalen“ Fanfare vorbei.

„Zärtlich sanftes Gleiten“

Das Publikum im vollbesetzten Saal feiert die Musikerinnen und Musiker, auch und erst recht die leutselig lächelnde Dirigentin frenetisch; und nicht weniger die Niederländerin Harriet Krijgh, der das mit „Schicksalsfragen“ betitelte Programm kaum zwanzig Minuten Zeit gewährt, ihre tiefe Musikalität und hohe Bravour zu erweisen. Was ist Musik? Camille Saint-Saëns definierte sie ganz richtig als „die Kunst, Klänge simultan als Harmonie oder sukzessiv als Melodie zu kombinieren“. Treffende Worte, wenn auch arg nüchterne. So kalt, zum Glück, gerät das erste Cellokonzert des Romantikers aus Frankreich in Hof denn doch nicht.

Harriet Krijgh: Extrem leibhaftiger, gelegentlich rabiater Ton.

     Im Gegenteil. Die Bewegtheit und Erregung, wie sie die Werkfolge des Eröffnungskonzerts überhaupt durchzieht – auch hier ist sie zu spüren, schon im allerersten Augenblick. Dem nämlich verpasst das Orchester einen Tutti-Schlag etwa von der Art, mit dem es der zarten Pflanze Hoffnung in Anna Clynes Nachtstück den Garaus gemacht hat. Sogleich danach stürzt sich die Solistin in eine erhitzt-rhapsodische Erzählung, in die sie durch Klagemotive die Diktion einer impulsiven Beichte oder Leidensgeschichte überträgt. Dazu passt der extrem leibhaftige, gelegentlich beinah rabiate Ton der Künstlerin (auch wenn er ihr erst in der zugegebenen Bach-Sarabande lückenlos perfekt gelingt). Hingebungsvoll auf dem Stuhl sich wiegend, lockt sie aus den Saiten ein grammfein schwebendes Pianissimo – „zärtlich sanftes Gleiten“, auch hier –; lang ausgehaltene Töne lässt sie dafür üppig blühen. Eindringlich gelingt ihr das Spiel in tiefen Lagen, wo der Klang ihres Instruments sich mit der Noblesse eines edlen Charakterbasses adelt. 

Tempo und Brillanz

An anderer Stelle legt Harriet Krijgh über zarte, hohe Figurationen der rücksichtsvollen, obendrein gedämpften Streicher einen vorsichtig-zärtlichen Saiten-Gesang. Aber die Durchschlagskraft, die in dem Werk so gut wie in ihr selber steckt, verhehlt sie in keinem Augenblick. Das Lyrische stellt sie hinter die Leidenschaft zurück und führt, im Verein mit dem symphonisch nuanciert agierenden Orchester, ihre Virtuosität temporeich und brillant zum guten Schluss.

     Wer ihn, diesen Schluss, und den der Tschaikowsky-Symphonie mit dem Anfang vergleicht, der versteht: So rundet sich plausibel ein Abend elementarer Kraftentfaltungen, nicht ohrenbetäubend, doch schallend, eindringlich und dauerhaft. In Fällen wie diesem halten sich die Zuhörenden am besten an den hochmusikalischen Humoristen Heinz Erhardt, der ganz ernsthaft empfahl: Wenn solche Stücke „dich umbrausen / mit Getön, / dann genieße auch die Pausen: / sie sind schön“.

■ Die zitierten Verse aus Charles Baudelaires „Harmonie du Soir“ übersetzte Terese Robinson.
■ Die Hofer Symphoniker im Internet: hier lang