Die andere Seite der Wahrheit
Junganwältin Tessa hat sich auf die Verteidigung von Vergewaltigern spezialisiert, und „prima facie“, auf den ersten Blick, kann ihr dabei nichts gefährlich werden. Wie sie dann, selbst missbraucht, die Kontrolle über ihr Leben verliert, führt im Vogtlandtheater Kristin Heil aufs Ergreifendste vor.
Von Michael Thumser
Plauen, 2. Dezember 2025 – Weit liegen die Zeiten zurück, in denen ein Rezensent eine tolle Schauspielerin nicht für ihre Darstellungskunst allein, auch schlichtweg ihrer Schönheit wegen rühmen durfte. Im aktuellen Fall geht es indes nicht anders. Denn die auffallend hübsche Kristin Heil, groß und gertenschlank, goldblond langhaarig, hochhackig gestylt, muss genau so aussehen, um im Plauener Vogtlandtheater die Rolle der Tessa spielen zu können: ihren Typus zu vertreten. Auf den ersten Blick: den Typus einer attraktiven, smarten, von Selbstbestwusstsein durchtränkten, von Streitlust fröhlich aufgeputschten jungen Frau, die es früh zur Topanwältin gebracht hat. Aus kleinen, dysfunktionalen Familienverhältnissen stammend, ist sie im universitären Haifischbecken des studentischen Konkurrenzkampfs stark und hart geworden - eine brillante Juristin, als Strafverteidigerin sieggewohnt. Auf Vergewaltigungsfälle hat sie sich spezialisiert, allerdings verhilft sie nicht den Opfern zu ihrem Recht. Sie paukt die Täter heraus.
So könnte das ewig weitergehen, von Verfahren zu Verfahren, von Triumph zu Triumph. Bis es anders kommt. „Prima Facie“, der lateinische Titel des Stücks, bedeutet: „auf den ersten Blick“, dem Anschein nach, nur bis auf Weiteres, solange keine begründeten Zweifel aufkommen. Die Zeitweilig- und Widerrufbarkeit einer Situation manifestiert sich in dem rechtswissenschaftlichen Fachausdruck, mit dem die Australierin Suzie Miller ein fesselndes, vielfach preisgekröntes Einpersonenstück überschrieb. Auf Tessa angewandt, bewahrheitet sich der Terminus nach der Liebesnacht mit ihrem Kanzleikollegen Julian, mit dem sie sich in ihrer Wohnung, ihrem Bett betrunken zunächst bei einvernehmlichem Sex vergnügt hat – bis er sie noch einmal ‚nimmt‘, buchstäblich: schmerzhaft jetzt und demütigend gegen ihren erklärten Willen. Danach verstreichen 782 Tage zwischen Tessas Anzeige bei der Polizei und ihrem Gerichtsprozess, bei dem sie nun auf der anderen Seite steht und sich behaupten muss. Obwohl mit den Finten und Fallen vertraut, die Julians Anwalt ihr zumutet, sieht sie sich dem Kreuzverhör wehrlos ausgeliefert.
Von Kristin Heil – die das Publikum am Samstag bei der Premiere auf der Kleinen Bühne mit Fug und Recht stürmisch und stehend bejubelte – verlangen Autorin Miller und Regisseur Dirk Löschner das Äußerste. Nach den flinken, wie auf Droge berauschten Auftaktszenen – sogar tanzen, singen, rappen und performen darf sie – erlebt die um keine Ausdrucksnuance verlegene Schauspielerin, wie vermeinte Sicherheit binnen Minuten in ihr Gegenteil umschlägt, wie ein furchtbarer Vorfall im höchstpersönlichen Lebensbereich ein allzu selbstzufriedenes Leben vor den Augen der Justiz und der Öffentlichkeit in Trümmer zerlegt.
Erst aber darf Kristin Heil sprudelnd vor Wortgewandtheit von Tessas sportlichem Ehrgeiz plaudern. „Trainiert und bereit für den Sprint“ weiß sie sich vor jeder Verhandlung, als wäre, über Recht und Unrecht, Schuld und Sühne, Lüge und Wahrheit zu verhandeln, ein Match: „Das hat für mich nichts mit Gefühlen zu tun. Es geht um das Spiel.“ Entsprechend kühl bis kalt, dabei freundlich lächelnd kalkuliert sie ihre Strategie und Taktik gegen die geschändeten Frauen, die in eigener Sache als Zeuginnen aussagen und Intimstes offenbaren müssen, in ihrem Unglück freilich jeden Schutz verdienten. Vor den Schranken des Gerichts erleben und erleiden sie, wie rhetorisches Raffinement die Wahrheit zu einer „juristischen Wahrheit“ verdreht, die sich gegen sie kehrt.
Jene Schranken des Gerichts hat Annabel von Berlichingen in Plauen erfinderisch auf einer Drehbühne installiert: als Aufbau in dunkelstem Grau, der sich auch in eine Sitzreihe, ein Büro, einen Bartresen verwandeln kann; auch in das Bett, in dem das Verbrechen geschieht. Eine Schranke – das ist eine Barriere, die einen Einlass blockiert. Fortan bleibt auch für Tessa, zum Opfer geworden, der Zugang zu ihrem Recht versperrt. Aus der inneren Versteinerung, die sie während des brutalen Übergriffs gelähmt hat, entlässt die Schauspielerin die Figur nicht wieder. Als erlitte sie den Gewaltakt Mal um Mal neu, krümmt sich ihr Körper wie unter Krämpfen, mit dem Trauma, dem gellenden Aufschrei der Retraumatisierung macht sie unter der hochtönenden Dickfelligkeit des strahlenden Anfangs die dünne Haut eines verletzlichen, erst halb erwachsenen Mädchenwesens kenntlich. Ihre Antworten im (beklemmend virtuos simulierten) Kreuzverhör reduziert sie atemlos auf einsilbiges „Ja“ und „Nein“, „Könnte sein“, „Kann mich nicht erinnern“. Statt über den Täter wird über Tessa geurteilt: Sie muss beweisen, „keine Schlampe zu sein“.
Am Ende hört dies Stück Theater auf, Theater zu sein: Kristin Heil hört auf, Tessa zu verkörpern. Nun gibt sich der bislang lebensnah-empathische Text doch noch als lehrreiches, freilich klug konstruiertes Fallbeispiel zu erkennen. Denn jetzt, von der höchsten Plattform der Drehbühne herab, hält die Schauspielerin als Aktivistin mit den wohlgesetzten Worten einer Streitschrift ein Plädoyer gegen eine seit eh und je von Männern und für sie gemachte Justiz: „Die weibliche Erfahrung sexualisierter Gewalt passt in kein von Männern geprägtes System. Sie entspricht keiner juristischen Wahrheit, und deshalb kann es auch keine Gerechtigkeit geben.“ Gut gesagt. Daran kommen, weder auf den ersten noch den zweiten Blick, begründete Zweifel nicht auf.
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.
Durch Leiden lernen
Drei Stücke in einem: Mit der antiken Trilogie der „Orestie“, auf knapp drei Stunden eingedampft, startet das Hofer Schauspiel-Ensemble überwältigend in die neue Spielzeit. Nach blutigen Rachefeldzügen biegen die Tragödien ab in ein Lehrstück über das Gebot der Rechtsstaatlichkeit.
Von Michael Thumser
Hof, 9. Oktober 2025 – So. Das hätten wir. Erledigt. Nach getaner Arbeit tritt Klytaimnestra vor ihr Haus, die verschmierte Axt noch in der Hand und sehr mit sich zufrieden. Mit dem Beil hat sie gerade ihren Gatten Agamemnon totgeschlagen und dabei selbst was abbekommen: Sie trieft von Blut. Zehn Jahre lang sammelte der König in Troja Kriegs- und Heldenruhm auf das nun gespaltene Haupt, dann, just am Tag der Rückkehr, ereilt ihn daheim der Tod, als die Gattin ihre lang geplante Rache an ihm vollendet; hat der gleichgültige Gemahl doch einst den Göttern die Tochter Iphigenie geopfert.
Eine düstere Geschichte, weitgehend grausam. Entsprechend beherrschen die Farben Dunkelgrau und Rot die Bühne. Seit der – vom überwältigten Publikum stehend gefeierten – Premiere zeigt das Theater Hof die drei Dramen der „Orestie“ an einem einzigen, fesselnd blutigen und aufregend dichten, fabelhaft gespielten und unverhohlen belehrenden Abend. Gleich zum Auftakt der neuen Schauspiel-Saison eine prima Produktion: Guten Gewissens könnte sie sich wohl auf jeder deutschen Bühne sehen lassen.
Fesselnd blutig
Eine Art Turmburg beherrscht die wunderbar weite, durch Wechsel des Lichts (Jürgen Burger) immer neu modellierte Szenerie von Ausstatter Markus Pysall; eine finstere Festung, immerhin hell im Innern. Dort aber schaut es aus wie am Set eines Splattermovies. Verkrümmte Tote liegen herum, in Blut gebadet; das Weiß der Wände: rot bespritzt. Das Töten selbst zwar erspart Regisseur Frank Behnke dem Betrachter, doch sind die Ergebnisse schaurig genug.
Ein „Menschenschlachthaus“ nennt Kassandra (Alrun Herbing) den Bunker, als sie, Agamemnon folgend, ihrem letalen Schicksal entgegengeht. Klytaimnestra selbst, nicht lang danach, muss dran glauben, und ihr Gespiele Aigisthos, ein geiler Proll, der so ziemlich wie Charles Bukowski aussieht, gleich mit (Stefan Lorch, der für den erkrankten Marco Stickel einsprang). Opfer der Vendetta beide: Orest, der Sohn, schneidet ihnen die Hälse durch, auf dass sie Vaters Tod sühnen.
Aufregend dicht
Was sich von vornherein verbietet: Naturalismus. Einfalls- und erfindungsreich hat Frank Behnke Bühne und Handlung stilisiert und dabei scharfsinnig auf die hohe, schwere Kunst der Reduktion gesetzt, gleich doppelt: Den Schauplatz ließ der Regisseur mit nichts als hundert dunkelvioletten Stühlen füllen; und den Text aus dem alten Hellas, sich auf die Prosa-Übersetzung Peter Steins mit ihrer mitteilsamen Modernität verlassend, strich er konsequent zusammen. Da fällt, in aller Ausführlichkeit, nicht ein Wort zu viel. Oft überspitzen sich die zügigen Mono- und Dialoge zum Aphorismus, und manche Zuschauerin, mancher Zuschauer wünscht sich womöglich da und dort eine verzögernde Sekunde, um die Schärfe und Prägnanz ganz zu erfassen. Das Ensemble weiß alles nur Sentenziöse zu vermeiden.
Freilich, Devisen werden kernig formuliert, einprägsame Losungen. „Die Toten töten die Lebenden.“ Oder „Durch Leiden lernen“: So bringt der Chor den Zündstoff des Stücks auf den Punkt. Aus einem einzigen Mann – dem ergötzlich wendigen Oliver Hildebrandt – kann dies Kollektiv bestehen, das dann keines ist, eher Partner oder Kommentator. Oder es tun sich drei und mehr zusammen. Immer ist der Chor das leib- und lebhafte Gegenüber der Protagonisten, duckmäuserisches Untertanenvolk oder schräger Einflüsterer oder plumper Propagandist, oder kluger Mahner und banger Warner. Insgeheim gehört auch Hannes Götz dazu, wenn er sich, wiewohl im Hintergrund, wortlos mindestens ebenso viel Geltung verschafft: Am Drumset steuert der Perkussionist eine Bühnenmusik nur aus Geräusch und Rhythmus bei. So unterschiebt er dem Reich der Finsternis eine schwingende und pulsierende, irisierende und oszillierende Atmosphäre. Auch er: ein Protagonist.
Fabelhaft gespielt
Als furiose Furie positioniert sich Anja Stange als Zentrum in der ersten Hälfte der Aufführung. Mit der Hacke in der Hand bekennt sich ihre Klytaimnestra als Vollstreckerin eines exterminatorischen Feminismus. Ihr sei, sagt sie, mit dem Gattenmord ihr „Meisterwerk“ gelungen. Man ahnt, dass sie damit ein Zeichen setzt, dem Patriarchat insgesamt den Garaus zu machen und dies mit Wonne zu genießen.
Nicht leicht ist gegen eine Darstellerin solchen Schlages aufzukommen. Das weiß Benedict Friederich, wenn er das Schlachtfeld betritt. Schlank, in Anzug und Krawatte, tut er es als Orest, und vielleicht tut ders nicht gern, denn er will nicht eigentlich, er muss. Apollon zwingt ihn: Jörn Bregenzer (anfangs Agamemnon) wird aus dem Bühnenhimmel als herablassende Lichtgestalt herabgelassen, schick in Gelb und Gold auf einer Schaukel. Alles andere als ein Kämpfer steckt in Friederichs Orest, lieber wohl würde der nett-naive junge Mann mit Elektra, seiner Schwester (Alexandra Ebert), chillen, als auf Muttermord zu sinnen. Nach getaner Bluttat denkt er nicht einmal an Flucht, schon gar nicht daran, sie abzuleugnen: Schmächtig von Gestalt, doch von wachem Verstand stellt er sich mutig dem Gericht.
Wo auf der Bühne so viel Tragisches so drastisch sich ereignet, droht die Travestie. Im Theater ist Blut nur ein Effekt und kein besonderer Saft. Geschickt mit Humoristischem darum bannt Regisseur Behnke die Gefahr des Lächerlichen: Ralf Hocke gibt Orests Amme pausbäckig im hartnäckig rutschenden Rock, Peter Lorch macht als Putzmann mit Wischmopp redselig den Dreck aus Blut und Erde weg, für ein paar Takte Sirtaki ist immer Zeit, drei wenig ernst zu nehmende Erinnyen schnarchen und schmatzen, maulen und fauchen versifft wie abgetakelte Gespenster … – die Komik der Katastrophe. Ironie bricht zum Glück auch den Optimismus des Schlussteils, bevor er allzu verstiegen in eine ideale Zukunft weist.
Unverhohlen belehrend
Aus dem Abgrund von Verderbtheit und Verderben fördert Regisseur Behnke eine eindeutige Moral zutage und scheut sich nicht, sie unverhohlen kundzutun. Eine message nannte man das früher, eine faustschlagwortartige Moral. Hier besagt sie: dass – um mit Schiller zu reden – eine „böse Tat fortzeugend Böses muss gebären“; dass – um mit Aischylos zu reden – „Tod anderen Tod schafft, Rachetod“; dass Blut, wie die Gegenwart beweist, ein Suchtstoff ist. Wo es ein Mal floss, gieren die Menschen dauerhaft danach.
Katharsis interaktiv: Zum erlösenden Gericht über Orest lädt Alrun Herbing als Athene, antik gewandet in göttliches Sonnengelb, Damen und Herren aus dem Zuschauerraum auf die Bühne. Zu Geschworenen ernannt, sollen sie den geständigen Bluttäter freisprechen oder aburteilen. Dergestalt kanalisiert die glanzvolle Göttin Volkes Stimme kontrollierbar und befestigt das mehrheitsdemokratische Prinzip der freien, gleichen, geheimen Abstimmung: Rechtsstaatlichkeit. So, das hätten wir, erledigt?
Wohl nicht. Seit mindestens zweieinhalb Jahrtausenden träumt jede Zivilisation von Gesetz und Sicherheit und war und ist doch, wie die gegenwärtige, stets von atavistischen Ausbrüchen barbarischer Gewalt entstellt. Was im Epilog ausgerechnet, aber nicht zufälligerweise Anja Stange, die Rachemörderin des ersten Teils, mit mustergültiger Bühnenhochsprache dem Publikum ins Gewissen ruft, aus allen Rollen heraustretend, wohlmeinend jetzt, als müsste sie es Kindern erklären: ein Schluss- und Friedenswort wie die Präambel zu einem zeitlosen Grundgesetz.
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.
■ Werkeinführung jeweils 45 Minuten vor Beginn.
■ „Touch Tour“ für blinde und sehbeeinträchtigte Menschen sowie alle Interessierten am Sonntag, 12. Oktober, um 16.30 Uhr. Mit dem Erwerb der Eintrittskarte zur Vorstellung ist die Tour kostenlos. Teilnahme nur nach vorheriger Anmeldung bis eine Woche vor der Vorstellung (E-Mail: buchung.jungestheater@theater-hof.de; Telefon: (09281) 70 70 123)
■ Theatertalk „Nachgefragt ... Die Orestie“ am Samstag, 1. November, nach der Vorstellung in Mocky's Backstage Bistro.