Beim vierten Hofer Konzert der Symphoniker erzählt Musik Geschichten. Weihnachtsstimmung verbreiten das Orchester, Dirigent Nicholas Milton und Ralf Hocke als Rezitator mit Pjotr Tschaikowskis „Nussknacker“. Zu Beethovens „Pastorale“ gibt es grandiose Bilder aus der Natur.
Von Michael Thumser
Hof, 16. Dezember – Ob als Kantate oder Lied, in Oper oder Tanztheater: Seit jeher erzählt Musik Geschichten, und schon immer dienen, umgekehrt, Geschichten als Grundlage für Musik. Die Programmmusik, als besondere Spielart einer Tonkunst ‚mit Handlung‘, begann ihren romantischen Siegeszug mit Ludwig van Beethovens sechster Symphonie, der „Pastorale“ von 1808. Unter den Balletten wiederum darf Pjotr Tschaikowskis „Nussknacker“ seit der Uraufführung 1882 als das vielleicht populärste gelten. Indem die Hofer Symphoniker bei ihrem vierten Konzert in der Freiheitshalle beide Werke in Zusammenhang brachten, zeigten sie, wie unterschiedlich Töne Bericht zu erstatten vermögen.
Zum Beispiel, indem sie einen leibhaftigen Märchenonkel beteiligen. vorn auf dem Podium nimmt Ralf Hocke Platz, der Vorweihnachtszeit gemäß in einem altmodischen Fauteuil neben einem Christbäumchen; so erinnert er an den gemütlichen Vorleser aus Loriots berühmtem, bös-parodistischem Zeichentrick-Gedicht „Advent“. Von einer „wunderschönen Nacht“ berichtet auch der vielerprobte Theater-Hof-Schauspieler und -regisseur, allerdings zerlegt in seiner Erzählung, anders als in den Versen des unvergessenen Humoristen, keine Försterin ihren soeben „über Kimm’ und Korn“ erlegten Förster. Aufregend und einigermaßen gewaltsam lässt aber auch er es zugehen, wenn „Nussknacker und Mausekönig“ nach der Weihnachtsbescherung zum Gefecht des Guten gegen die Bösen antreten: Die etwa achtzig Druckseiten des Märchens aus E.T.A. Hoffmanns „Serapionsbrüdern“ sublimierte Hocke zu einer Kurzfassung, worin nicht, wie im Original, ein höheres Medizinalrats-Töchterlein, sondern ein schlichtes Dienstmädchen den Nüsse knackenden Märchenprinzen retten darf.
Klingender Zuckerbäckerstil
In der Musik der Symphoniker geschieht das in kindlicher Erregtheit und klingendem Zuckerbäckerstil. Mit allzu putzigen Süßigkeiten aber warten das Ensemble und Dirigent Nicholas Milton dann doch nicht auf: Allzu bewusst ist ihnen die exquisite Fantasiefülle von Pjotr Tschaikowskis Komposition und deren in jeder Episode spürbare Inspiration. Dreizehn Kapitel verknüpfen sie geschehnisreich zu einer bunten Suite. In einer begüterten Familie wird das geschilderte Christfest begangen, das machen anfangs Passagen gehobener Festlichkeit hörbar. Vor allem aber widmen sich die Musikerinnen und Musiker der erwartungsvollen Freude der Kinder und dem Engagement der Dienstbotin durch spielerische Leichtigkeit, wenn nicht Leidenschaft – bis der Dirigent mittels eines kräftigen Orchestertuttis den hochmütigen Mausekönig und dessen Heerscharen heraufziehen lässt und den Nussknacker in den Kampf schickt.
Mit dem Fortgang der Geschichte löst die Hofer Version die Musiknummern von ihren ursprünglichen Anlässen ab. So entbrennt der Krieg zum Kastagnettengeklapper des „Spanischen Tanzes“. Mit dem pfiffigen „Chinesischen“, dem Tamburin-rasselnden „Russischen Tanz“ illustriert das Orchester das Getrippel und die Stampede der Ratten, die der siegreiche Nussknacker vor seine Kutsche spannt, um mit der zur Heldin avancierten Hausangestellten in sein Märchenschloss zu brausen. Dessen Glanz schildern die („Rohr-“)Flöten mit eleganter Delikatesse. Den vornehmen „Blumenwalzer“ umflattern Harfenarpeggien wie die Flügel der Schmetterlinge im Tross der Zuckerfee. Schließlich vollenden sich die erhabenen Halluzinationen der zur Heldin erhobenen Dienerin in der Zärtlichkeit und Sehnsucht schmachtender Liebesmelodik, in zauberischem Glockenklingklang aus der Celesta, in lichterfülltem Festglanz, der Schubkraft des „Schlusswalzers“ … Alles ist Traum, und die finale „Apotheose“ erspart dem Publikum ein böses Erwachen.
Auftauchen, verschwimmen, verschwinden
Die wirkliche Welt ist selbstverständlich anders. Sobald Dirigent Milton für Ludwig van Beethovens sechste Symphonie, die „Pastorale“, den Taktstock hebt, wechselt das Konzert vom Märchen in die Realität der Natur, von weihnachtlicher Winterzeit in die freie Frischluft des Sommers – auch von reinen Klangbildern zu Lichtbildern. Freilich bezeugen die auch: Zur Natur gehört längst die Gefährdung und Zerstörung ihrer Schönheit.
Programmmusikalisch schildern die fünf Sätze das Leben auf dem Lande, so wie ein Erholung suchender Städter es einst wahrnahm; ausdrücklich benennen die Satzüberschriften die Erlebnisse seiner Streifzüge, die sich bei den Symphonikern durch vielfältige Koloristik einprägsam abzeichnen. Bei platter Lautmalerei belassen sie es nicht. Ebenso wenig plakativ wollen die großartigen Fotografien und Bewegtbilder, die simultan auf einer großen Leinwand über dem musizierenden Orchester auftauchen und verschwimmen und verschwinden, die Umwelteindrücke illustrieren. Mit reichlich Lyrik und einiger Dramatik befreien Nicholas Milton und die Musiker Lebensformen und Lebenskräfte der Schöpfung, ihr Erwachen, Sich-Regen und -Bewegen, das scheinbare Schweben, ja Stillstehen der Zeit und die Plötzlichkeit existenzieller Umbrüche aus Beethovens Partitur als tönende Zeichen und Symbole. Gleichzeitig scheinen sie in den beziehungsreich inszenierten Aufnahmen des Fotografen (und Musikers) Tobias Melle auf eine durchaus eigene, indes ganz kongruente Art auf, durchweg mit untergründiger Entsprechung, oft auf die Phrase, wenn nicht den Takt genau eingeblendet.
Zwei Künste gehen ineinander auf und auseinander hervor: der Hörgenuss ist Augenweide; und umgekehrt. Schon 2013 und 2018, erst mit Beethoven Neunter, dann mit der „Alpensysmphonie“ von Richard Strauss, hat sich Melles vielerorts erfolgreich erprobtes Kombinationskonzept auch in Hof bewährt. Diesmal zieht der Künstler seine Bilder von solchen Großpanoramen zurück in engere Grenzen. Die „Ankunft auf dem Lande“ ist ein Empfang im Wald, bei Bäumen und Pilzen, Blättern, Keimlingen, bemoosten Rinden. Den Boden sucht Melle ab, blickt aber immer wieder auch himmelwärts. So wie die Musik das Naturempfinden ins Innere verlegt, sehen auch die Fotos und Filme vom äußeren Menschen erst einmal ab. Während der „Szene am Bach“ lösen sich – während behutsam fließender Intonationen der Symphoniker – Wolken, Kräuter, Zweige zu Spiegelbildern auf Wasseroberflächen auf. Unmerklich verwandeln sich die Flügel einer Libelle in die Grünfläche eines durchaderten Blatts. Licht- und Schattenflecken, Schärfen und Unschärfen spielen miteinander. Studien in Transparenz treiben das Orchester und der Fotograf; in mancherlei Varianten des Übergangs sind beide Seiten bewandert.
Verheerungen der Biosphäre
Zumal im dritten Teil der Symphonie, der ihre Sätze drei bis fünf ohne Unterbrechung zusammenfasst. Für das „lustige Zusammensein der Landleute“ sucht Melle die kuriosen Gartenzwerg-Aufmärsche oder Wandbemalungen einer Laubenkolonie oder Dauercampersiedlung auf. Da bescheiden sich auch die Instrumente eine Weile mit schlichter Heiterkeit. Als orchestrales Orkanfauchen und Donnerdröhnen wiederum entfesselt Nicholas Milton ein Unwetter aus „Gewitter und Sturm“ – stimmiger Anlass, auf der Leinwand die un–natürlichen Verheerungen der Biosphäre durch Menschenhand zu dokumentieren: Autobahnen und Industrie, die den Boden versiegeln, Mondlandschaften des Tagebaus, Müll, Dürre, Wüste. Am Ende aber, zu „Hirtengesängen“ der zur Besinnung kommenden, gleichwohl impulsiven Symphoniker, triumphiert die Natur dann doch, erst heimlich, schließlich offenkundig: Aus Gulligittern drängt Blattgrün der Sonne entgegen, in verfallenen Fabrikhallen wuchert anarchische Vegetation.
In der halluzinierten Unschuld eines Zuckerfeenreichs spielt sich diese Schöpfungsgeschichte nicht ab, sondern ist der bedrohlichen Wirklichkeit abgeschaut. Dennoch behalten die Prinzipien Hoffnung und Leben die Oberhand, der Gegenwart zum Trotz und Trost. Derart ‚aktuell‘ erlebt man die romantische „Pastorale“ des Klassikers Beethoven kaum je: nie so wenig weltfremd, und auch nie so visionär.
Das nächste Konzert der Symphoniker: „Hogmanay – das schottische Neujahrskonzert“ am 6. Januar im Großen Haus der Hofer Freiheitshalle.
William Walton porträtiert den Clown als Ganoven, Benjamin Britten ängstigt sich vor dem Krieg, Ralph Vaughan Williams schildert London im Herbst: Das Hofer Orchester und die Geigerin Carolin Widmann pflegen die hierzulande kaum je aufgeführte Musik Englands.
Von Michael Thumser
Hof, 23. November – Mit der Tonkunst Frankreichs oder Italiens aus den vergangenen 150 Jahren haben wir kein Problem, nicht mit der Musik Skandinaviens oder Ungarns … Aber die Komponisten von den britischen Inseln mag kaum ein Orchester hierzulande aufführen. Gerade mal, dass wir Edward Elgar dem Namen nach kennen und eine Melodie seiner „Pomp and Circumstance“-Märsche mit der englischen Nationalhymne verwechseln. Die romantischen Vorläufer aber wie Parry oder Stanford, Nachfolger wie Delius und Ireland, Bax oder Bliss, Innovatoren wie Finzi, Tippett, Alwyn … – oder den Besten von allen, Frank Bridge: Wer nennt die Namen, kennt die Klänge? Am jahrzehntelang kolportierten, darum nicht minder unsinnigen Vorurteil, dass „England keine Musik“ besitze, halten viele Veranstalter und Programmplaner auch in Deutschland, ob aus bornierter Ignoranz oder tumber Unkenntnis, mit eiserner Unbelehrbarkeit fest.
Die Hofer Symphoniker nicht. Nachdem sie vor vier Wochen den Vereinigten Staaten ausführlich die Ehre erwiesen hatten, wandten sie sich nun exklusiv den britischen Inseln zu – was offensichtlich auch andernorts als Ausnahme-Ereignis auffiel: Der Deutschlandfunk Kultur zeichnete das Programm auf, um es am Donnerstag ab 20.03 Uhr zu senden. Damit bereitet der Radiosender seinen Hörern keinen leichten Abend, sondern ein forderndes, vor allem aber erfüllendes Vergnügen.
Sarkasmus der Commedia dell’arte
Was nicht allein an den gespielten Werken liegt, sondern in gleichem Maß an ihrer exzellenten Wiedergabe durch das Orchester. Sein drittes Hofer Symphoniekonzert am Freitag in der Freiheitshalle eröffnete es nicht mit einem Raus-, sondern einem ‚Reinschmeißer‘: einem Eröffnungsstück schon dem Titel nach, einer „Lustspiel-Ouvertüre“. William Walton widmete sie einer Figur der italienischen Commedia dell’arte, dem ausgesprochen zwielichtigen Diener Scapino; dass man es bei dem mit keinem Spaßmacher reinsten Wassers zu tun hat, machen die Musikerinnen und Musiker aufs Unterhaltsamste mit zwar unbändigen, allerdings sarkastischen, ja grimmigen Aktionen vernehmlich. Vom ersten zündenden Takt an geriert sich da nicht der Clown einer Komödie, sondern ein heimtückischer Halunke. Ungebührlich rüttelt, rasselt und prasselt das Schlagwerk. Penibel lässt Dirigent Hermann Bäumer die gewagten Rhythmen des antriebskräftigen, zugleich trickreichen Stücks ausfeilen. Selbst die Poesie der serenadenhaften Zwischenteile drängt er unablässig mit untergründiger Unruhe voran. Scapino meint es nicht gut: Der spöttische Gauner lacht – über seinen Herrn.
Woher die Schärfe und Erregung? 1941 kam das prachtvolle Werk in Chicago heraus, in Weltkriegszeiten. Drei Jahre zuvor, 1938, als Nazideutschland die Sudetenkrise vom Zaun brach, hatte Benjamin Britten die Arbeit an seinem Violinkonzert begonnen, in dem der Komponist, auch unterm Eindruck des Spanischen Bürgerkriegs, zu bekennen scheint, dass ihm das Lachen vergangen ist. Die Symphoniker und Carolin Widmann als zutiefst nachdenkliche, mitdenkende Solistin reflektieren jene Stimmungslage einer Vorkriegszeit nicht als Panik, sondern in einer für die geigerische Spieltechnik heiklen, dabei vollkommen un–virtuosen, extrem geistigen Musik. Um sie in aller Tiefe auszuforschen, schließen sich der Dirigent und die international renommierte Geigerin zu einer zwingend deutenden Einheit zusammen.
Balance zwischen Dur und Moll
Als „enormes Schwergewicht“ empfand der Komponist 26-jährig selbst das Meisterstück. Und doch finden der Pauker, mit dem rhythmischen Leitmotiv des ganzen Werks, und die Solistin mit behutsam schwebenden, aber unauflöslichen Linien einen ruhigen Ausgangspunkt der Reflexion. Beruhigung indes ist Widmanns Sache nicht: Leidenschaftlich, mit fast leidendem Gesicht bekundet sie ein Krisenbewusstsein, das sich in ihr so paradox wie bündig sowohl als Kontemplation manifestiert wie als Unentschiedenheit. Denn zwischen Dur und Moll balanciert die Musik hin und her, und Widmanns Spiel tut es ihr nach mit Sanglichkeit wie mit energisch-spröder Gegenrede, halb mit Wehmut, halb mit Vehemenz.
Ein Totentanz: Den Unwillen und die Gereiztheit, womit die Künstlerin in den Mittelsatz einbricht, untermauert das Orchester mit harten Tutti-Akzenten. Drahthart strafft die Geigerin ihren Ton – und löst ihn auf zu pfeifenden Flageoletts. Nach der zerklüfteten Kadenz geleiten die Posaunen sie in die Passacaglia des Schlussteils hinüber, wo sie (wenngleich nicht immer mit letztmöglicher Tongenauigkeit) die stupende Vielfalt ihres Ausdrucks auffächert. Selbst in Momenten gesteigerter Dynamik und Intensität überspannt sie den Bogen nicht. Entschieden wechselt sie mit den Klangstärken ab, die auch in leisestem Piano ihre Substanz nie verringern. Endlich: finale Verklärung, ein offener Schluss – nicht Moll, nicht Dur. Erinnert er daran, dass sogar 1938 noch einmal Hoffnung auf Weltfrieden keimte?
Dunkel und Helligkeit einer Metropole
Keimte 1914 welche? Da erklang in Englands Kapitale erstmals die Symphonie, die Ralph Vaughan Williams 1911/12 als seine zweite geschaffen hatte. Sie aber schildert nicht die Lage der sich vorm ersten Weltkrieg verfinsternden Welt, sondern das Dunkel und die Helligkeit der Metropole: „A London Symphony“ schrieb der Komponist über das Werk, das man auch als Zyklus aus vier Tondichtungen verstehen darf. So, nicht zwar programmmusikalisch, gleichwohl plastisch, anschaulich, malerisch farbenreich fasst Hermann Bäumer den so kolossalen wie feingliedrigen Fünfzigminüter auf. Zwei Mal, im ersten und im letzten Satz, erklingt aus der Harfe Big Ben, die Glocke aus dem Uhrturm von Westminster Palace. Im ersten Satz sind zuvor die Orchesterinstrumente – lento –aus der Nacht erwacht; dann lassen die Symphoniker den Tag nicht an-, sondern buchstäblich hereinbrechen, mit einem Donnerschlag.
Und doch geht der Dirigent über die vielen kammermusikalischen Momente nicht hinweg, die diese ungemein raffiniert und reichhaltig instrumentierte „Symphonie der Großstadt“ auszeichnen (um Walter Ruttmanns legendären Berlin-Film von 1927 zu zitieren). Bäumer mag die Wucht, aber auch die Nuancierung des anfänglichen Allegro risoluto. Im dahinfliehenden Scherzo, später, tariert er die Instrumentalstimmen fein aus und sorgt für luzide Transparenz, um der Wirkung alles Bedrückende zu ersparen. Im Final-Allegro führt er weihevoll einen imperialen Marsch herauf, erschafft aber auch eine Zauberatmosphäre, die alles gewaltsam Auftrumpfende aufhebt.
Ein Novembernachmittag
Als „Nocturne“ hat sich Vaughan Williams das Scherzo gedacht. Wirklich zum Nacht-, obendrein zum Hauptstück der Symphonie aber wird der geheimnisvolle, durch wunderbare Soli des Englischhorns und erst recht der Bratsche geadelte zweite Satz. Auch wenn er am „Bloomsbury Square an einem Novembernachmittag“ spielt, klingt er in Hof nicht lichtarm, aber dämmrig, nicht düster, aber dunkel, nicht betrübt, aber elegisch, denn das Orchester, statt ihn grau zu zeichnen, lässt ihn in mannigfachen gedämpften Kolorationen changieren. Sein Ende findet er erst eigentlich mit dem „Epilogue“ des Finales, wenn das Werk mit einem Piano-Pianissimo-Dreiklang der Kontrabässe verklingt.
Wahrlich kein fröhlicher ‚Rausschmeißer‘, Aber ebenso wenig ein endzeitlicher Runterzieher. England im November, Deutschland im Herbst: Erfüllt uns Menschen hier wie dort in diesen Wochen nicht die gleiche endzeitliche Stimmung zwischen Trauer und Trost? Unbegreiflich, warum die Musik von den Inseln hierzulande kaum jemand spielt.
Das nächste Konzert der Symphoniker in Hof: 10. Dezember, Freiheitshalle, Großes Haus, 19.30 Uhr, Pjotr I. Tschaikowsky, Auszüge aus „Der Nussknacker“, Ludwig van Beethoven, Symphonie Nr. 6, „Die Pastorale“, mit live projizierten Fotografien von Tobias Melle.
Drei Mal Musik aus Amerika und das Bläser-Doppelkonzert eines Komponisten, der in den USA sein Handwerk lernte: Die Symphoniker setzen bei ihrem zweiten Hofer Konzert mutig und klangmächtig auf Tonkunst der vergangenen hundert Jahre.
Von Michael Thumser
Hof, 26. Oktober – Im Großen Haus der Freiheitshalle tropft es. Zum Glück nicht durch die Decke, aber vom Podium herab. Zu warmem Geriesel aus dem Regenstab träufeln, triefen, sickern aus Xylofon und gezupften Streichersaiten Einzeltöne, dringend bestrebt, zu Rinnsalen, Bächen, flüssig-schillernden Klangflächen zu verfließen. Musik wie eine Welle – elementare Musik: „Die vier Elemente“ hat Wolf Kerschek die Komposition überschrieben, und die Symphoniker, bei ihrem zweiten Hofer Konzert, sind nicht gesonnen, die vier mythischen Urbestandteile der Schöpfung Stück für Stück einzeln abzuarbeiten: Der erste Satz des Werks könnte, statt des Wassers, auch der Luft gewidmet sein, das Feuer des zweiten flackert auch auf der Erde. In allen Abschnitten rührt sich vereinend ein Wabern und Glänzen, Driften und Glühen, ein Strömen und Atmen zugleich.
Vor 52 Jahren kam Wolf Kerschek in Hamburg zur Welt; die Tonsprache des weitgereisten und in den Vereinigten Staaten geschulten Künstlers aber wurzelt ausdrücklich in der Welt- und der stark klangfarb- und effektorientierten US-Filmmusik. „Neue Klassik“ und der Symphonische Jazz stützen seinen Personalstil auf der einen Seite; auf der anderen garantiert Kerscheks souveräne Handhabung einer zeitgemäß avancierten Schreibart ein originelles und originäres Idiom. Ausführlich und abwechslungsreich führt er es in seinen „Vier Elementen“ aus, einem Doppelkonzert für Trompete und Horn, das er dem glänzenden Vater-Sohn-Duo Matthias und Tillmann Höfs auf die Leiber schrieb und mit ihnen gemeinsam konzipierte. Denn Matthias Höfs darf hier eine von ihm erfundene, wenig ansehnliche, dafür raffiniert tönende Spezialtrompete mit doppeltem Schalltrichter einsetzen: zwei Instrumente in einem. Insofern ists fast ein Tripelkonzert, vom faszinierten Publikum üppig mit Applaus quittiert.
Steife Brisen aus der Windmaschine
Schnarrend bereiten die Solisten im „Feuer“-Satz, nach einer Tutti-Explosion und vor dreinschlagenden Akzenten des Orchesters, eine Art Stampede der apokalyptischen Reiter vor. Auf trittfester „Erde“ verschmelzen Horn und Trompete beim strammen Marschtakt des dritten Teils, der unter ihren getragenen Stimmlinien pathetisch-feierlich zur Schönheit einer berührenden Melancholie aufblüht. Steife Brisen aus der Windmaschine bereiten das Schlussstück „Luft“ vor, das freilich nicht lange luftig bleibt: Gewaltsam besinnt sich das Orchester an Seesturm und Meeresbrandung des ersten, des „Wasser“- Satzes zurück und steigert sich zum finalen Temperamentsausbruch.
Kluge und innige Stellungnahmen gibt das Bläserduo ab, nicht ohne das Ohr mit mancherlei eigenwilligen Intonationsweisen zu überraschen. In einvernehmlichem Unisono verbünden sich Vater und Sohn, so eng, dass ihre Bläserstimmen untrennbar eins zu werden scheinen, oder sie diskutieren ihre Positionen bei schlagfertig kurzen, undogmatischen Debatten aus. Durchaus ernst meinen sie die Musik und missbrauchen sie nicht zur veräußerlichenden Schau. Artistische Kunststückchen werden ihnen auch gar nicht abverlangt. Allerdings wären sie dazu durchaus in der Lage: So phänomenal entfesselt, wie Matthias Höfs auf einem Youtube-Video im Internet Wolf Kerscheks „Spanische Weihnacht“ exekutiert, sieht und hört man kaum je einen Virtuosen Trompete blasen.
Vollendung in Europa
Transatlantisches hopping: Maßgeblich in den USA erhielt der Komponist seine musikalische Ausbildung; umgekehrt reisten die Pioniere der amerikanischen Konzertmusik nach Europa, um sich zu vervollkommnen, beispielsweise Aaron Copland – oder George Gershwin, der sich in einer weltberühmten, genialen Tondichtung selbst als faszinierten „Amerikaner in Paris“ beschreibt. Ein von pausenlosen, oft plötzlichen Stimmungs-, Rhythmus- und Artikulationswechseln strotzendes Werk: Virtuosität ist mithin auch von den Symphonikern gefordert. Doch Hermann Bäumer am Dirigentenpult verhindert mit freundlicher Umsichtigkeit, dass Hektik oder gar Panik aufkommt.
Beiläufig entspannt, sogar fast spannungslos führt er die Musikerinnen und Musiker in den abrupten Anfang des bunten Stücks. Rasch aber gewinnt ungebrochene Gutlaune vital an Kräften, wobei Bäumer inmitten quirliger Betriebsamkeit Erholungsorte schwebenden Innehaltens und impressionistischen Zaubers aufspürt. Dem Trompeter gibt er Raum für sein schwelgerisches Solo, das der auskostend genießt. Dass Leonard Bernstein die Partitur Gershwins offenkundig eingehend studierte, lässt sich an- und abschließend aus den drei „Dance Episodes“ aus dem Musical „On the Town“ heraushören, mit denen Bäumer und die Symphoniker geradezu bedenkenlos wie mit der Tür ins Haus fallen: Vor und nach der vergleichsweise entrückten Mittel-Episode lärmen, knallen, dröhnen die Sätze eins und drei schmissig und scheppernd – ein bravouröser Rausschmeißer.
In seliger Ruhe
Das ließ der Beginn des Abends nicht erwarten. Da machte sich Musik der Stille breit. Aaron Coplands „Appalachian Spring“ von 1944 erzählt episch davon, wie unter nordamerikanischen Pionieren vor gut zweihundert Jahren ein junger Farmer und seine Braut ihr Heim begründen, wie sie mit Nachbarn feiern, sich den Einreden eines Predigers entziehen – wie man sie schließlich in Ruhe lässt, in seliger Ruhe.
Ungemein friedvoll fördert der Dirigent die ersten Takte der Programm- und Ballettmusik aus der Lautlosigkeit des Saals zutage. Dann macht sich im Ensemble Unrast bemerkbar, aber die Trompete webt einen breiten cantus firmus hinein. Ironisch lässt der Dirigent das Orchester die Pausbäckigkeit des ländlichen Lebens illusrieren, mit einem schlichten folkloristischen Melos, das indes wegweisend für viele große Kino-Soundtracks, speziell für Western, wirkte. Den Feinheiten der Farbmixturen widmen sich die Symphoniker mit kammermusikalischer Delikatesse. Stop and go: Lebendigen Vorwärtsdrang unterbrechen sie mit transparent dünnen, gleichwohl dichten Momenten träumerischer Stagnation. Glasklare Tonalität und dissonante Freizügigkeit vermischen sich in beschaulicher, zukunftsgläubiger Harmonie. Es ist, als begegneten Copland und Kerschek einander wie Vorfahr und Enkel: Der eine wie der andere steht mit dem Ehrgeiz und den Inspirationen seiner Musik für eine Moderne, die man sowohl verstehen wie erfühlen kann.
Zur Eröffnung der Saison tragen die Symphoniker unter Elias Grandy feierlich ein trauriges Mädchen zu Grabe: „Pelléas und Melisande“ von Jean Sibelius, dazu Mozarts „Jeunehomme“-Konzert stehen im Mittelpunkt ihres ersten Hofer Konzerts.
Von Michael Thumser
Hof, 5. Oktober – Da hätten die Experten noch lange forschen können. Über hundert Jahre lang behaupteten Handbücher und Programmhefte, Wolfgang Amadeus Mozart habe sein neuntes Klavierkonzert für eine junge, einzigartig begabte Französin geschrieben, von der kaum mehr als der Name bekannt sei: „Mademoiselle Jeunehomme“. Hitzig wurde gerätselt: Wer war, woher kam die Unauffindbare? In welchem Verhältnis stand sie zum damals 21-jährigen Komponiergenie? Hatte sie gar eins mit ihm? Alles Unsinn und „willkürliche Erfindung“, stellte der Musikwissenschaftler Michael Lorenz vor fünfzehn Jahren endlich klar und warf der Mozart-Forschung einen „massiven Blindheitsanfall“ vor. In Wirklichkeit hieß die Dame Louise Victoire Jenamy und spielte wohl tatsächlich exzellent Klavier, aber kaum je öffentlich. Auch in der Musikgeschichte gilt: Namen sind Schall und Rauch.
Manchmal freilich fallen sie dennoch ins Gewicht. Wer etwa schuf das Werk, mit dem die Symphoniker ihr erstes Konzert der neuen Spielzeit im Festsaal der Hofer Freiheitshalle eröffneten: Bach, der Kontrapunktiker mit dem imposanten Riesen-Œuvre? Oder der puristische Wenigschreiber Anton Weber, der minimalistischste Vertreter der Neuen Wiener Schule? Der nämlich bearbeitete 1935 eine Fuge aus Bachs „Musikalischem Opfer“ derart gründlich, dass er das Ergebnis unter seine bedeutendsten Eigenkompositionen rechnete. Die sechs Stimmen jener zweiten Ricercata entrollte er über die gesamte Farbenbreite des klassischen Orchesters – und zwar so, dass die in kleiner Besetzung agierenden Symphoniker einzelne Tonkombinationen, ja sogar Einzeltöne unter sich aufteilen wie unterschiedlich angemalte Mosaiksteine. Hinter den Klangmixturen, deren kurzzeitiges Auftauchen und Verschwinden einem genauen Plan folgt, duckt sich das Original, als ob es wegtauchen wollte, so dekonstruiert sich die Faktur. Es ist, als hätte gar kein Orchester auf dem Hofer Podium Platz genommen, vielmehr scheinen dort mehrere Kammerensembles zu musizieren und einander mit ihren Einsätzen zu wider- oder zu entsprechen. Immer neu erfinden sich die Gruppen. Zwar hält ihr sprödes Gefüge rhythmisch nicht immer ganz zusammen, doch weiß Dirigent Elias Grandy die Bruchstücke letztlich zu einem integrativen, schwermütig in schweren Dunkelfarben schillernden Ganzen zusammenzuschließen. In den Ausdrucksgraden sacht changierend, blüht die Fuge auf als Belegstelle einer Spätestromantik und zugleich expressionistischen Moderne aus dem altehrwürdigen Geist des strengen Satzes.
Geheimnisvoller Symbolismus
Bach oder Webern – „Pelléas und Mélisande“. Diese beiden Namen gehören untrennbar zueinander. So stark beeindruckte Maurice Maeterlincks Schauspiel von 1893 um Brudermord und Liebestod die Tonsetzer an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert, dass sich etliche bemühten, die beschwörend raunende Geheimnisfülle des symbolistischen Textes in Musik zu übertragen: so Fauré, Schönberg, der Gesinnungsgefährte Anton Weberns, oder Debussy … – auch Jean Sibelius. Einen „nordischen Ton“ schlägt Elias Grandy in der 1905 entstandenen Schauspielmusik des Finnen an, reserviert, indes nicht kühl, nicht bunt, doch intensiv koloriert. Im Zentrum stehen Melisandes tönender Charakter und das elegisch singende Englischhorn. Die rastlose Ruhe des mysteriösen Waldmädchens löst der Dirigent zeitweilig in doppelbödige Tanzreminiszenzen auf, die das Orchester mit demselben Fatalismus untertönt, mit dem Sibelius im Jahr zuvor schon seine „Valse triste“ tränkte. Am „Meeresstrand“ scheinen dunkle Wellen und fahles Mondlicht aufzulaufen, im „Pastorale“ schiebt sich eine Morgenstimmung aufklarend in den sonst so wehmutsvollen Rahmen. „Am Spinnrad“, das eilig in den Streichern kreiselt, steigern die Symphoniker Melisandes Unheilsahnungen zur Panik, bis sie noch einmal klangsatt dagegenhalten mit munterer Ungeduld. Die aber bleibt „Intermezzo“, Zwischenspiel, vor „Melisandes Tod“, den Grandy als letztes Aufbäumen und unwiderrufliches Erlöschen einer hoffnungslosen Leidenschaft inszeniert, ein Klangbild von trostloser Endgültigkeit.
Mit seinen Weisungen wendet sich der 41-Jährige den Musikerinnen und Musikern leutselig zu, mit einer schmucken Eleganz des Temperaments, die kein Showeffekt ist. Das erweist sich, als der aufgeklappte Deckel des Flügels ihn vor dem Publikum im Parkett verbirgt: Auch bei Mozarts Es-Dur-Klavierkonzert (KV 271) mit dem verballhornten Beinamen verstrahlt er vornehm, doch nicht geckenhaft kluge Wendig- und Tüchtigkeit. Bevor Grandy die Symphoniker in und durch die Orchestereinleitung führt, gibt der um zwei Jahre jüngere, im Festsaal reich beklatschte William Youn am Klavier das Thema vor, um sich dann, nach kurzem Verstummen, mit einem feinen, doch markanten Triller neuerlich das Gehör zu verschaffen, das ihm als Solisten gebührt.
Mannigfaltigkeit des Klangs und der Bewegung
Denn wohlüberlegt, dabei nie zerfasernd gliedert der Südkoreaner die Lagen seines Parts auf der Tastatur, wertet die tiefe sonor auf, ohne die hohe zu überdecken und ohne die mittlere zu vernachlässigen, die ihn gelegentlich am meisten interessiert. So gewinnt er in den beiden ersten Sätzen eine Mannigfaltigkeit des Klangs und vitale Vielfalt der Bewegungen. Indes kommt sein feiner Anschlag namentlich dem Einzelton und -akkord zugute. Bei etlichen der zahlreichen Läufe hingegen, die besondere Transparenz und Leichtigkeit verlangen, wird ihm die Schwerkraft der Tonketten und -gebinde hinderlich, was er durch Pedalgebrauch zu verschleiern sucht – und nur schlimmer macht. Trotzdem lässt er sichs nicht nehmen, das Presto des Schlusssatzes unsinnig rasant zum Prestissimo hochzukurbeln (wodurch er das eingeschobene, umso intimer aufgefasst Menuett entwertet): Flüchtig und verwischend übereilt er sich; kaum dass die Symphoniker den Anschluss halten.
Für all das entschädigt er immerhin im Mittelsatz. Verharmlosend mit Andantino ist er überschrieben; doch wie aus der Grabestiefe einer unglückseligen opera seria holt Youn die Melodie hervor und gibt sich ihrer abgründigen Tragik empathisch hin. Zwar hellt sich der Kummer auf, doch stellen Orchester und Pianist solche Trostinseln jedes Mal infrage und tilgen sie schließlich gleichsam rückwirkend durch grimmige Akzente, um schließlich vollends ins tief ergreifende Trauerspiel zurückzukehren. Jener Gebrochen- und Verzagteit passt der Interpret die Kadenz des Satzes an: In ihr verlegt er die Schmerzlichkeit in ein Seelenleben, das – mögen Namen auch Schall und Rauch sein – weniger nach dem eines jeune homme, eines „jungen Mannes“ wie dem erst 21-jährigen Mozart klingt als nach dem reifen Beethoven. Man staunt, wie (scheinbar) leicht William Youn Musik von solcher Schwermut und Schwere gelingt.
Die Rezension behandelt die zweite der beiden Aufführungen des Programms am 1. Oktober.
Nach zwei Jahren Corona-Pause tritt der Kammerchor Hof wieder klangvoll vors Publikum. Um „Dankbarkeit und Zuversicht“ wirbt sein geistliches Programm, in dessen Mittelpunkt Wolfgang Weser die D-Dur-Messe Antonín Dvořáks stellte.
Von Michael Thumser
Hof, 2. Oktober – Wollte mans kitschig beschreiben: so beginnt das Programm, als sängen drei Engel. Junge Frauenstimmen – von Judith Schnabel, Monika Tschuschke und Yvonne Berg – schwingen sich gleichsam überirdisch, fast süßlich schön in die Höhe und durch die Hofer Kreuzkirche, um die Zuhörerinnen und Zuhörer himmlischer Hilfe aus dem Jenseits zu versichern. „Hebe deine Augen auf …“: Das berühmte Terzett aus Felix Mendelssohn Bartholdys „Elias“-Oratorium appelliert mit der naiven Frömmigkeit des 121. Psalms an diesseitige Langmut und Seelenruhe, denn „der dich behütet, schläft nicht“.
Auch der Kammerchor Hof hat sich während fast zweier Corona-Jahre nicht ausgeruht, wenngleich die Sängerinnen und Sänger auf öffentliche Auftritte verzichten mussten. Die allerdings, die motivierende Direktansprachen ans Publikum, sind wichtig, um eine hohe Qualität, wie sie das weithin renommierte Ensemble auszeichnet, auf Dauer zu halten. Weitgehend gelang das in der Zwangspause. Zwar kann der Chor noch nicht in jeder Hinsicht an den exzellenten Gütegrad anschließen, mit dem er vor der Pandemie zu imponieren pflegte. Aber sehr weit ist er nicht davon entfernt: Wenn hier und da die Intonation noch etwas runder, die Klangbalance wieder ein wenig flexibler gerät, der eine oder andere Einsatz akkurater oder zarter ausfällt …
„Zufriedenheit, Ruhe und Frieden des Herzens“
Mit einem nicht allzu oft aufgeführten Werk eines prominenten Komponisten tritt das Ensemble in die neue Phase seines Wirkens ein: Im Zentrum steht Antonín Dvořáks etwa vierzigminütige Messe opus 86 in einer Fassung für Solisten, Chor und Orgel, eingeleitet und unterbrochen von Vokal- und Instrumentalmusiken anderer Meister. Auch sie sollen das im Programmheft formulierte Leitthema „Dankbarkeit und Zuversicht“ aufnehmen und womöglich vertiefen. In nicht geringerem Maß als den Solistinnen des mendelssohnschen Dreigesangs glückt dies dem Chor mit der Motette „Fremuit spiritu Jesus“ (Da war Jesus im Geiste bewegt) über die Erweckung des Lazarus; Jacobus Clemens non Papa setzte sie für zwei Soprane, Alt, Tenor und verdoppelten Bass aus und veröffentlichte sie 1554. Mithin handelt sichs um streng gefügte Tonkunst der Renaissance: Entsprechend bedächtig, aber ohne alle Schwerfälligkeit, sacht pulsierend fließen die Linien und verschlingen sich in optimistischer Andacht. Dazu passt der Mittelsatz aus der ersten Trompetensonate in D-Dur des um 1770 gestorbenen Italieners Pietro Baldassari, ein Grave, dessen Melos Sergey Storozhenko mit schönem, konzentriertem Ernst verdichtet; den Ecksätzen hingegen verleiht der 16-jährige, eindrucksvoll begabte Interpret einen strahlenden Ton und aufgeräumte Geläufigkeit.
Damit lässt sich ungefähr das Ausdrucksspektrum vergleichen, in dem sich Dvořáks Messe bewegt. Auch sie steht in D-Dur, was Zufall sein mag, obwohl Wolfgang Weser als notorisch feinsinniger Ensembleleiter nichts dem Zufall überlässt. Frühere Musik-Mystiker wie der 1797 gestorbene Komponist und Philosoph Carl Ludwig Junker sprachen dieser Tonart „erregte Heiterkeit“ zu, das Potenzial für „lustigen Lärm einer einträchtigen Masse, der sich durch die Trompete im Voraus ankündigt“, zugleich auch „Zufriedenheit, Ruhe und Frieden des Herzens“.
Das lässt sich beim Wort nehmen. In wiegendem Gleichmaß schreitet der Kammerchor im Eingangs-Kyrie „einträchtig“ voran. Nicht „lärmend“, aber beinah „lustig“ fährt er im jubelnden Gloria heraus, um sich bei In terra pax „zufrieden“ und, mehr noch, friedvoll in sich zurückzuziehen. So auch geht er das Glaubensbekenntnis des Credo an, als Religionsübung, wie sie dem Christenmenschen selbstverständlich, indes nicht gleichgültig sein soll: Das lassen die Sängerinnen und Sänger durch die Dunkelflächen des Et incarnatus spüren, erst recht durch die fast dissonante Grellheit des Kreuzigungsgedenkens: Crucifixus.
Eher sporadisch hat Dvořák die Solisten eingesetzt; darum umschließt sie der Kammerchor geschwisterlich, wobei der Tenor Heiko Fiedler und Igor Storozhenko als Bassist der Sopranistin Monika Tschuschke und, mehr noch, Yvonne Berg mit ihrem farbenreichen Alt die Führung überlassen. Festlich, dann aufgeräumt das Sanctus; von hier aus leitet Dorothea Weser an der Orgel in meditativer Ruhe direkt ins Benedictus über, das der Chor, atmosphärisch derart vorbereitet, erbaulich-besinnlich zusammenfügt. Im Agnus Dei gibt das Solistenquartett zunächst einer Grundstimmung der Zerknirschung Raum – bis es sich mit dem Chor verklärend zur finalen Friedensbitte zusammenschließt: wunderbar samtweich der Ausklang.
Das Unfassbare im Kleinen
Alles Überladene, Hochdramatische hält der Kammerchor von der Messe und ihrer Vertrauensseligkeit fern. Nicht als pflichtgemäße Behauptung erklingt sie, sondern ungekünstelt als aufrichtiges Postulat. Da muss, unmittelbar zuvor, das Air aus Johann Sebastian Bachs dritter Orchestersuite (in D-Dur, schon wieder) wie ein missliebiger Fremdkörper wirken: Denn hier spielt es die naturgemäß vordringliche Trompete und verkehrt die ursprünglich traumschöne Intimität des Stücks fast zu belästigender Aufgeblasenheit. Freilich trägt der jugendliche Bläser keine Schuld daran – es liegt an der Bearbeitung, sodass auch die viel feineren Gegenargumente aus Dorothea Wesers begleitender Orgel wenig dagegen ausrichten.
Umso gewichtiger und weitaus delikater verweist, etwa in der Mitte des Programms – und wie auf seinem stillen Scheitelpunkt –, die Motette „To see a world“ auf das jenseitig Unfassbare, das sich in Kleinigkeiten des Diesseits ahnen lässt: Etwa 120 Jahre alt sind die Verse des rätselhaften Engländers William Blake, die der vor zwei Jahren gestorbene Schweden Sven-David Sandström angemessen unergründlich und zeitgemäß vertonte. Aus gesummten Pianissimo-Tönen, klein wie „Sandkörner“, entfaltet der achtstimmig geteilte, dynamisch sich entgrenzende Chor „eine Welt“: Den „Himmel in einer wilden Blume“, die „Unendlichkeit in deiner Handfläche“, „die Ewigkeit in einer Stunde“ zu erkennen, rät er weise und erreicht in tiefer Ruhe dies trostreiche Ziel.
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„Beethoven meets Tango“: Bei den Helmbrechtser Kulturwelten wagen der virtuose Bandoneonspieler Victor Villena und das renommierte Minguet-Quartett ein Stil-Experiment. Was macht ein Wiener Klassiker aus Bonn in Buenos Aires?
Von Michael Thumser
Hof, 28. September – Ein Tier zum Fürchten: Auf Victor Villenas Knien gebärdet sich kaum zähmbar eine Riesenraupe. Sie bläst sich auf und dehnt sich fast wie eine Schlange, dann wieder zieht sie sich zurück zu einem Kraftpaket. Kaum ahnt man, wo vorne ist, wo hinten. Gleichzeitig streben beide Enden steil in die Höhe, so dass Villena – gleich zu Beginn des Konzerts, bei Enrique Delfinos vielgestaltig-dissonanten „Recuerdos de bohemia“ – buchstäblich alle Hände voll zu tun hat, das Ungetüm durch Doppeldruck von oben wieder zusammenzustauchen. Kaum etwas tut der gewaltige Wurm, ohne Laut zu geben, gelegentlich leise sich verschnaufend oder lauernd abwartend, weit öfter mit Bestimmtheit, explizit, unmissverständlich, auch schon mal angriffslustig gellend, schrill wie unter Protest. Sein Atem stockt oder flattert, geht hier stoßweiße, dort keuchend. Unermüdlich spuckt die kolossale Larve große Töne, fast wie von selbst. Aber keine Angst: Der famose Künstler, wie ein einverständig lächelnder Dompteur, hat sie stets unter Kontrolle. Was er am Samstag als Gast der Kulturwelten in der Helmbrechtser Johanniskirche auf seinen Schenkeln auseinanderzieht und ineinanderschiebt, ist der faltenreiche Balg eines Bandoneons. Links und rechts drücken die Hände die vielen kleinen, weißen Knöpfe, als wollten die Finger sie kraulen. Entsprechend nachgiebig befreit die Handharmonika eine spektakuläre Vielfalt erzählender Musik.
Ohne Weiteres reichte die klangliche Durchschlagskraft des Instruments aus, um den ausverkauften Kirchenraum und diesen Abend auch allein zu füllen. Doch der Musiker – 1979 in Argentinien geboren und seit etwa zwanzig Jahren in Frankreich daheim – ist mit Gefolgschaft angereist. Begleitet von den je zwei Streicherinnen und Streichern des renommierten Minguet-Quartetts wagt er es, entlegene Stile forsch zu konfrontieren: „Beethoven meets Tango“ heißt das Experiment. Inwieweit der Wiener Klassiker aus Bonn und der 1995 in Buenos Aires gestorbene Enrique Delfino, der 1969 geborene Alejandro Schwarz (der 2004 zusammen mit Villena das Quintett „El Despuis“ gründete) sowie, allen voran, „Tango-König“ Astor Piazzolla in ihren Musiksprachen auf einen Nenner kommen, entscheidet jede und jeder im Publikum für sich. Für wie geglückt es die Musikvermischung auch hält – es applaudiert begeistert.
Hauptsächlich dem passionierten, in verräucherten Kaschemmen von Buenos Aires zur Welt gekommenen Tango ist die siebzigminütige Werkfolge zugeeignet. Zwei Mal taucht Beethoven auf, nicht als Störenfried, aber doch als Unterbrecher, sozusagen als Ventil: als wollten die Musiker in zwei Sätzen aus dem Streichquartett opus 18/2 die expressiven Druckwellen der tönenden Sinnenlust Lateinamerikas zeitweilig in klassisch gemäßigtere Bahnen lenken. Dabei entwickeln diese Stücke ihrerseits zupackende Energien. Im Allegro erst leicht und locker, dann farbig mit gesteigertem Schwung, im Presto auch ruppig nehmen sich Ulrich Isfort und Annette Reisinger mit ihren Violinen, die Bratscherin Aroa Sorin und Matthias Diener am Cello die Sätze vor, von denen sie ahnen: Weniger mit Fein- und Tiefsinn hat der Tonsetzer sie aufgeladen als mit spielerischem Esprit – ein verschmitztes bis überschäumendes Vergnügen.
Existenzielle Musik
Obwohl zu viert, klingt das Ensemble beinah dünn im Vergleich zum unverhohlen auskunftsfreudigen Bandoneon Villenas. Im Zusammenspiel aber finden die fünf Musiker zur Balance wechselnder Gewichte – auch wenn Alejandro Schwarz’ Tango habanera den Titel „La despareja“ trägt, zu Deutsch: „Die Diskrepanz“, „Das Missverhältnis“. Von dergleichen kann freilich keine Rede sein. Einhellig genüsslich, gleichsam mit sarkastischer Schwermut erinnern die Interpreten an die Kneipen- und Kaffeehaus-Vergangenheit des Tanzes. Dann, mit derselben Spielfreude, aber intensivierter Tiefensicht, wenden sie sich dem Schlusswerk des Abends zu, dem Hauptwerk: den „Five Tango Sensations“ von Astor Piazzolla.
Sensations: Empfindungen? Oder Sensationen? Für Letztere darf man die Tonschöpfungen gern halten: In ihnen erklomm der Komponist, dessen Werke sich harmonisch und modulatorisch nicht selten ziemlich ähneln, 1989 letzte Stufen einer neuen Innovations- und Ausdruckskraft. Eine geradezu existenzielle Musik: Kurz nach einer schweren Krankheit schrieb Piazzolla sie, zweieinhalb Jahre vor seinem Tod. „Asleep“ und „Loving“, „Anxiety“, „Despertar” und „Fear” schrieb er erläuternd über die Episoden, die also von den „Empfindungen“ des schlafenden, liebevollen und erwachenden Gemüts handeln, auch von einer Seele in Angst, in Furcht. Hatte die Melancholie bei Alejandro Schwarz noch etwas Kokett-Verführerisches, so verdunkelt das Quintett sie jetzt zu einer berührenden, nach Befreiung suchenden Niedergeschlagenheit. Wenn das Bandoneon singt, tuns die Streicher ebenso; doch sie können auch derb die Saiten schrubben oder im Verein mit der Harmonika einander finster den Marsch blasen. Nach einer weitläufigen freitonalen Solostrecke Victor Villenas tritt Ulrich Isforts Primgeige mit dem Bandoneon in einen schmerzlich-schönen Dialog, fast sakral wie bei einer Litanei. Im Schlussstück aber, wenn die Instrumente eins nach dem andern mit dem scharf punktierten Thema einsetzen wie bei einer Fuge, hetzen sie sich gegenseitig wie Raubtiere, die einander reißen wollen. Gegen diese „Furcht“ scheint kein Kraut gewachsen, steht kein Ausweg offen.
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Wohl jeder kam schon mal zu spät zu einem wichtigen Termin. Aber zu einer Aufführung der Bayreuther Festspiele … ? Fest steht, dass beim Konzert des Orchesters unter Andris Nelsons eine Hälfte für ein ganzes Vergnügen reicht.
Von Michael Thumser
Bayreuth, 26. August – So mancher Opernfreund, der sich wohlinformiert nennen darf über die Musikbühne und ihr Repertoire, aber noch nie eine Karte für die Bayreuther Festspiele ergatterte, wüsste wohl gern, wie das ist: so ein Besuch auf Richard Wagners Grünem Hügel. Andere, die schon ein Mal, wenn nicht gar öfter das Vergnügen hatten, überlegen vielleicht irgendwann, wie das wohl sein mag: wenn man zu spät kommt. Dem Schreiber dieser Zeilen widerfuhr dies Missgeschick am Sonntag unverschuldet, als er aufnahmebereit von Hof in die Nachbarstadt fuhr, um dort, wenn schon kein wagnersches Musikdrama, so doch Musik des Meisters zu erleben, ausnahmsweise im Konzertformat, mit dem Letten Andris Nelsons am Pult. Doch so sehr der Kritiker sich auch mühte: Als er endlich am Festspielhaus anlangte, fand er die sonst so dicht bevölkerte Umgebung beinah menschenleer, sämtliche Türen und Tore verrammelt und von standhaften Gralshütern streng bewacht.
Nur um ein paar Augenblicke war der letzte günstige Moment verfehlt. Auf der Autobahn hatte ein Stau den Fahrer unziemlich aufgehalten. Drinnen, auf der Bühne, begann soeben das Programm, der erste, einstündige Aufzug der „Walküre“, und eine Sängerin sowie zwei Sänger rüsteten sich, tief Luft zu holen. Er indes stand draußen, außer Atem. Das war ihm bis zu diesem, seinem schätzungsweise 175. Aufenthalt in Wagners Weihesphäre noch nie passiert.
Eine Pause, die man nicht nötig hat
Was also tut einer in der freien Stunde bis zur Pause, die er nicht nötig haben wird? Den Ärger hinunterwürgen über den sonntagnachmittäglichen Autofernverkehr und über sich selbst, weil man zwar frühzeitig, aber nicht noch sechs Minuten früher von zu Hause aufgebrochen ist. Die Türschließer hoffnungslos wenigstens um Einlass ins Foyer bitten, um dort auf einer Stufe hockend einen abgedämpften Teil der Klänge abzugreifen, und erwartungsgemäß freundlich abgewiesen werden. Die Jacke vor der Brust zusammenraffen und den Kragen hochschlagen, um sich bei den nasskalten (gefühlten) zwölf Grad dieses spätherbstlichen Hochsommerabends gegen eine Lungenentzündung zu wappnen, die das Ganze dann doch nicht wert wäre. Den mobilen Caterern in ihren Bier-, Wein- und Sektwägen beim gutgelaunten Nichtstun zusehen und zuhören. Den Duft ihrer Zigaretten und Bratwürste einsaugen. Selber nichts tun, von einem großen Sonnenschirm gegen den zunehmenden Regen leidlich geschützt. Um 18.30 Uhr den Glocken lauschen, die aus der Stadt mächtig heraufläuten. Der leutseligen Majestät des schlichten, gleichwohl eindrucksvollen Theaterbaus Achtung erweisen. Passanten entgegensehen und nachschauen, die unverdrossen auf den Wegen wandeln, auch als der Regen vollends heftig wird. Sich wundern, dass er just dann aufhört, als Tor und Tür sich wieder öffnet und das Publikum von drinnen in die arg frische Luft entlässt. Mit den anderen flanieren und, eine weitere Stunde lang, die Pause zelebrieren, um einen Kunstgenuss zu verdauen, den man verpasst hat.
Danach, endlich im Innern, kommt man auf andere Gedanken. Ganz ungewohnt siehts auf der Bühne aus: In hellen Scharen nimmt das Festspielorchester, gewöhnlich unsichtbar im verdeckten Graben, darauf Platz, ein imposanter Anblick. Vor dem riesigen Ensemble haben im versäumten Teil Christine Goerke als Sieglinde und Klaus Florian Vogt als Siegmund ihre Stimmen verflochten – außerdem, als Hunding, Günther Groissböck. Der machte in diesem Sommer von sich reden, als er die Rolle des Wotans, die er 2022 im „Ring des Nibelungen“ übernehmen sollte, zurückgab, weil er sich ihr coronahalber noch nicht wieder gewachsen fühlt. Kein Einzelfall auf dem Grünen Hügel: Andris Nelsons, 1978 in Riga geboren, längst auf den Podien der Welt und von 2010 bis 2014 als Leiter des „Lohengrin“ auch in Bayreuth zu Hause, zog sich vor fünf Jahren, als er den „Parsifal“ dirigieren sollte, aus dem Vertrag zurück, nur vier Wochen vor der Premiere, nach „atmosphärischen“ Störungen zwischen ihm und Christian Thielemann, dem notorisch heiklen Musikdirektor, wie es hieß. Nun öffnete ihm die Intendanz doch wieder Tür und Tor – und sein Einzug gelingt triumphal: Tosend und trampelnd applaudiert das Publikum ihm, dem Heer der Instrumentalisten und dem Hügel-Stammtenor Klaus Florian Vogt, der noch Kraft genug besitzt, um Soloszenen der Gralsritter Parsifal und Lohengrin vorzutragen.
Schöne Töne, feste Linien
Von Vater und Sohn mithin. Als Schwanenritter beschwört er Elsa, ihn nicht nach „Nam’ und Art“ zu fragen: „Höchstes Vertrauen hast du mir schon zu danken“ – so beginnt der Ausschnitt. „Streng und ernst“, wie es in der Regieanweisung heißt, erinnert Vogt an Elsas Schwur; um sie dann, hörbar mit seines „Herzens Glühen“, tiefer Liebe zu versichern. Dabei verbreitet die Stimme, dem Text gemäß, „Glanz und Wonne“, im Linienbau fester als noch vor wenigen Jahren, gleichohl sich jedes exponierten schönen Einzeltons bewusst.
Lang genug dreht sich der Künstler im internationalen Wagner-Karussell, dass sein Tenor die übermenschlichen Strapazen durch Wagners monströse Heldenpartien hier und da leis hören lässt. Aber auch in Lohengrins „Gralserzählung“ und seinem wehmütigen Abschied („Mein lieber Schwan!“) zeigt die früher arg juvenile Stimme inzwischen eine Männlichkeit, die sich in vehementen wie verklärten Passagen packend bewährt. Gerade in den Szenen aus „Parsifal“: Inständig klagt Vogt heraus, wie sehr die Wunde des Amfortas „in meinem Herzen“ brenne, flehentlich ersehnt er die „Erlösungswonne“ durch das „Heilsgefäß“, den Gral, zu dessen Enthüllung er endlich (mit den Schlussworten „Nur eine Waffe taugt …“) vornehm, stattlich, souverän aufruft.
Eine Insel der Seligen
Den Gesangsbeiträgen aus beiden Musikdramen hat Andris Nelsons jeweils die Vorspiele vorangestellt. Zauberisch getragen fördert er die „Lohengrin“-Musik zutage. Den extrem fragilen Anfang meistert das Orchester nicht mit letzter Klar- und Reinheit, dann aber geleitet der Dirigent es durch ein wunderbar weit gedehntes Crescendo und das Klangvolumen sukzessiv verdichtend über einen Spannungsbogen von grandioser Rundung und Wirkung hinweg. Autark wie Tondichtungen erstehen beide Kompositionen, wobei Nelsons, mit seiner zwar wenig eleganten, aber ökonomischen Zeichengebung, im „Parsifal“-Vorspiel behutsam Klangschicht auf Klangschicht legt, Balancen austariert und trotz tiefer Pausen eine Art ‚heiliger‘ Erregtheit und frommer Unrast entfaltet.
Zwischen den dringlichen Gesängen Vogts als Titelheld des „Bühnenweihfestspiels“ platziert der Dirigent den „Karfreitagszauber“ als eine Insel der Seligen: Sie erstreckt sich, statt unter der triefenden Herbstkälte im realen Draußen, durchwärmt und durchleuchtet unter einer imaginären Frühlingssonne. Ein „Parsifal-Idyll“ könnte man die Darbietung nennen, in der Nelsons zu bekräftigen scheint, dass Wagner sein „Lieblingskomponist“ ist, wie er 2013, drei Jahre vor besagtem Eklat, in einem Interview huldigend bekannte: „Ich könnte mein ganzes Leben in Bayreuth dirigieren.“ Nun erst recht bedauert es der Schreiber dieser Zeilen, bei seiner Fahrt zum Konzert so unselig in Verzug geraten zu sein. Und doch darf er sich trösten: Die zweite Hälfte war (gefühlt) weit mehr als nur die halbe Miete.
Eine Riesenstimme und ein Rieseninstrument: Im Saal von Wahnfried, der Villa des „Meisters von Bayreuth“, präsentieren der Weltklasse-Bariton Michael Volle und Helmut Deutsch als sein exzellenter Partner am Konzertflügel ein faszinierendes Raritätenprogramm. Auf dem Programm: Lieder von Richard Wagner und Franz Liszt.
Von Michael Thumser
Bayreuth, 19. August – Wenn Michael Volle will, kann er in Richard Wagners Wohnzimmer so laut Wagner-Lieder singen, dass fast die hohen Fenster klirren. Aber das will er gar nicht, zumindest nicht oft.
Als weltweit gefragter und gefeierter Musiker leiht der 61-Jährige seine große Stimme in großen Häusern den großen Rollen seines Baritonfachs. Auch im Bayreuther Festspielhaus: Dort brillierte und brilliert er sängerisch wie darstellerisch in den „Meistersingern“ als Sixtus Beckmesser und, seit 2017, als Hans Sachs, für den er wohl als Idealbesetzung gelten darf. In Barrie Koskys grandioser Inszenierung feiert Volle in der Gestalt Richard Wagners – Sachs ist mit dem ikonischen Outfit des „Meisters von Bayreuth“ kostümiert – sich selbst im nachgebauten Wohnzimmer des Hauses Wahnfried. In der echten Villa, in deutlich kleinerem Rahmen, schaltetet er am Montag vor einer coronabedingt überschaubaren, aber hingerissenen Zuhörergruppe mehrere Gänge zurück. Im Saal, wohl einem der schönsten Hörplätze für Kammermusik in Bayern, widmete er sich der Dezenz des Liedgesangs. Indes, Wagner-Lieder“ – gibts die denn (abgesehen von den fünf Gesängen nach Gedichten der vom „Meister“ angebeteten Mathilde von Wesendonck)? Es gibt sie, wenn auch in geringer Zahl und nicht als Meisterwerke.
Kaum, dass man sie einmal zu hören bekommt. Hier nun erklingen sie mit Helmut Deutsch am originalen Konzertflügel des Dichter-Komponisten aus dem allerersten Festspieljahr 1876 („Festgruß aus Steinway-Hall“). Mit Deutsch weiß Volle eine internationale Klavierbegleiter-Legende als Partner an seiner Seite. Vor allem ein erster Block des Programms und der komplette Teil nach der Pause beansprucht Technik und Ausdrucksfähigkeit des glänzenden Pianisten, denn sein Part in den Liedern des Wagner-Schwiegervaters Franz Liszt geht über eine nachrangige Harmonisierung der Melodien und Füllung des Klangs weit hinaus. Jedoch noch nicht in den vier französischsprachigen Stücken aus Wagners Pariser Jahren um 1840 – „fröhlichen oder klagenden Liedern“, wie es im ersten von ihnen, zu schwül-spirituellen Versen von Jean Reboul, heißt. Mit ihnen führt Volle elegant empfindsam und stimmungswechselreich in einen frankophonen Salon.
„Es gibt nichts Wahres außer dem Himmel.“ Den besingt er, die mehr oder weniger gediegenen Texte unterschiedslos ernst nehmend, hier „blühend“, dort „stürmisch“. In „L’attente“ nach Victor Hugo verwandelt er das titelgebende „Warten“ laut in ein Ausharren und Ausschauhalten bei fiebernder Ungeduld. Nicht allein frankophon, auch frankophil, franzosenfreundlich, die „Zwei Grenadiere“ in einer Übersetzung von Heinrich Heines Gedicht: Mit bewusster Schwere geht Volle den Dialog zweier patriotischer Soldaten der Grande Armée an, nicht so sehr gravitätisch indes als todtrüb und bitter, bis aus dem Flügel die „Marseillaise“ auftönt. Nun blüht die Stimme auf voll Pathos und mit Macht. Eine zweitklassige Komposition, doch in effektvoller Darbietung; die tiefsinnigste hingegen: „Dors, mon enfant“, auf Strophen eines anonymen Autors. In dem Schlaflied trifft der Sänger ergreifend den Ton einer so zärtlichen wie besorgten Mutter mit einer Mischung aus Seufzer- und Seligkeitsmotivik.
Unsichtbare Szenerien
Substanziell überragen die – an diesem Abend auch zahlenmäßig überwiegenden – Lieder Franz Liszts die Nebenwerke des nur um zwei Jahren jüngeren Schwiegersohns beträchtlich. Zudem offenbart sich bei ihnen die enge innerliche Verbindung zwischen Sänger und Pianist auf besondere Art. Eindrucksvoll belegen dies etwa die drei italienischen „Sonetti di Petrarca“ (mit dem zwischen „Weinen“ und „Lachen“, „Tod und Leben“ wie eine Frage herausgearbeiteten, verblüffend offenen Schluss des zweiten): unwandelbar das Gleichgewicht, das, wie in den Kompositionen, auch in den Interpretationen zwischen Gesang und Flügel herrscht. Liszts atmosphärisch ausgefeilter Klaviersatz schmiegt sich unter Helmut Deutschs erfahrenen Fingern wie eine unsichtbare Szenerie um Volles Bariton, in dem Text und Töne fugenlos und vollendet stimmig ineinander aufgehen.
Ein Rieseninstrument und eine Riesenstimme – gleichwohl ist es den unzertrennlich einverständigen Interpreten über weite Strecken um Delikatesse und Intimität, mitunter um beklommene Reserviertheit zu tun. Desungeachtet wissen beide jede Blässe zu vermeiden, Deutsch durch eine staunenswerte Gabe der Tonmalerei. Wenn durch Ludwig Rellstabs Verse „herbstlich und kalt“ die „Winde rauschen“, so scheint eine Brise aus einem verfrühten Winter sein Spiel zu durchziehen und sich mit dem Ernst der „sinkenden Hoffnung“ zu verbinden, die Volle beklagt („Dahin … dahin … dahin …“). Wenn Volle in Johann Wolfgang von Goethes „König von Thule“ mit balladeskem Erzählergestus davon berichtet, wie der sterbende Monarch den geheiligten Becher seiner „Buhle“ im Meer versenkt, öffnet sich in den Tiefen der Tastatur plastisch ein Abgrund.
Schon gleich zu Beginn hat Deutsch das Wasser „Im Rhein, im schönen Strome“ (nach Heinrich Heine) wie an einer Quelle glitzern und in gemächlichen „Wellen“ fluten lassen, während Volle das Kölner Uferbild mit Dom, Blumen und „Englein“ durch viel Zartheit fast in ein heimliches Nachtstück verwandelt. Sanft-samtig sein Wohllaut, plausibel und perfekt der Melodienbau, sachverständig der gewählte Grad der Zurückhaltung. Ihr zuliebe riskiert der Sänger, dass seine Stimme in introvertierten, verhohlenen, zaudernden Momenten, zumal bei hohen Pianopassagen Fülle und Halt einbüßt. Die Intensität mindert dies nicht. Indem Volle die beiden Versionen von „Freudvoll und leidvoll“ (nach Goethe) miteinander vergleicht, stellt dem zweiten Lied mit dessen frohgemuten Aufregung einer fraglos liebenden Seele im ersten die fast kleinlaut bänglichen Dur-Moll-Wechsel des Zweifels voran. Nach geradezu sakralen Choralakkorden des Klaviers entfaltet er Goethes „Über allen Gipfeln ist Ruh“ wie einen lebensabendlichen Abgesang als Beschwörung der Stille und des Schweigens. Für Zeilen desselben Dichters in „Der du von dem Himmel bist“ wählt er eine angemessene Gebets-Gebärde dankbaren Aufgehobenseins, und der ersehnte „süße Friede“ füllt den Wahnfried-Saal.
Ihn stört Volle einmal noch, im Zugabenteil – mit Richard Wagners „Tannenbaum“ (nach Georg Scheurlin), bereitet der sich doch „trübe“ darauf vor, alsbald das Holz für den „Totenschrein“ eines Knaben zu liefern. Derart düster aber mögen sich die Künstler nicht verabschieden und senden darum Franz Liszts verliebtes „Du bist wie eine Blume“ (nach Heine) hinterher– idealer Abschluss für einen so hoch- wie herzensromantischen Abend im Salon: „rein und schön und hold“.
Informationen zu den Programmen der letzten Wahnfried-Konzerte in diesem Sommer und zum Ticket-Verkauf im Internet: hier lang.
„Bunt, leicht und sogar ein wenig jazzig“ klingt das unterhaltsame Programm, das Dirigent Russell Harris für die „Klassik am Eisteich“ in Hof zusammengestellt hat. Das Publikum des ersten von drei Konzerten applaudiert den Symphonikern und der Sopranistin Christina Rümann stehend.
Von Michael Thumser
Hof, 10. Juli – In Amilcare Ponchiellis Opernhit „La Gioconda“ schellt kurz nach dem berühmten „Tanz der Stunden“ unheilvoll eine Totenglocke; zwar ist die Hauptgestalt des Dramas dem Titel nach eine „heitere“ Dame, doch sie endet böse. Davon freilich lässt das sympathische Zwischenspiel – unter Klassikfreunden heutzutage viel bekannter als die Oper selbst – für sich genommen wenig ahnen. So auch in Hof, wo die Symphoniker in der Sporthalle des Eisteichs die „Stunden“ des italienischen Romantikers tanzen lassen: Die regen sich zart und glitzernd, versilbert vom Geklingel der Triangel, drehen und wenden sich anmutig und graziös, als schwebten dazu Kinder auf Schlittschuhen über eine Eisbahn dahin. Ein paar ernstere Bedenken scheint der Dirigent geltend machen zu wollen, aber die Musiker wischen sie mit der schmissigen Schlussepisode kurzerhand vom Feld. Eine Glocke schallt auch diesmal, die der Hospitalkirche ganz in der Nähe, vom Sterben aber kündet ihr Abendläuten nicht, eher von friedlicher Muße zur Dämmerstunde.
Im vergangenen Jahr leitete Johannes Wildner die erste „Klassik am Eisteich“. Diesmal, am Donnerstag – wie auch bei den Wiederholungen am heutigen Samstag um 17 und um 19.30 Uhr –, steht Russell Harris am Pult und hat, wie er einleitend ankündigt, ein „buntes, leichtes und sogar ein bisschen jazziges Programm“ zusammengestellt – eines, das sich in seinen vokalen wie instrumentalen Beiträgen (fast) ausschließlich dem Musiktheater verdankt, dem italienischen vor allem.
Schmetterndes Blech, scheppernde Becken
Gleichwohl fällt die Musik nicht gleich als große Oper mit der Tür ins Haus, sondern tritt auf leisen Sohlen ein: mit dem delikaten Streicherpizzicato, das die Ouvertüre zu Gioachino Rossinis „Italienerin in Algier“ einleitet. Lang indes bleibts nicht leise: Rasch fordert Russell Harris das Blech zu mächtigem Geschmetter heraus, lässt die Becken scheppern und führt das Orchester über deftige Crescendi zu geräuschvoller Schmissigkeit. Da ist dann vom vielstimmigen Vogelgezwitscher rund um die offene Halle wenig mehr zu hören. Kein Zweifel, dies Konzert ist für die Hörenden gemacht, nicht für die Tauben (die unterm Dach unaufhörlich flattern).
Entsprechend volltönend fügt der gebürtige Londoner Jazzthemen aus Leonard Bernsteins „West Side Story“ mit Herzschmerz, Verve und Drive gefällig zu einem glattgestriegelten Konzertsaal-Medley zusammen. Auch die weit weniger substanzhaltigen Tänze aus Jules Massenets kriegerischem „Cid“ – anfangs melancholisch, dann gemütvoll, schließlich mit Getrommel angriffslustig – sollen dem Publikum Freude und kein Problem bereiten. Und bei Ron Goodwins Erkennungsmelodie aus den „Miss Marple“-Filmen lädt Harris gar zum Mitklatschen ein, was brave Deutsche immer, so auch jetzt, auf die Eins und die Drei des Taktes tun statt auf die Zwei und die Vier.
Wo Oper draufsteht, hat auch Gesang drin zu sein. Für den ist Christina Rümann zuständig. Während der Arie „Sempre libera“ aus Giuseppe Verdis „La Traviata“ entfaltet sie erst gemessen, später jubelnd einen leidenschaftlichen, fraulich reifen Ausdruck. In „O mio bambino caro“ aus Giacomo Puccinis „Gianni Scicchi“ investiert sie bei schlicht-ergreifender Langsamkeit viel natürliche Empfindung. Hier wie dort imponiert ihr spannungsvoll langer Atem – wo doch ihr Spezialfach mehr noch die Koloratur ist. Glanzvoll belegt sie das mit „Glitter and be gay“ aus Bernsteins Oper „Candide“ und mit Luigi Arditis launig-liebesseligem Walzerlied „Il bacio“ (Der Kuss). In allen Lagen bleibt ihr weitläufiger, bei allem Hakenschlagen satter (vielleicht ein wenig zu stark vibrierender) Sopran präsent und trifft auch bei ausgedehnten Intervallsprüngen bewundernswert zielsicher jeden Ton. Erst recht jeden Spitzenton: Die Akkuratesse noch in höchsten Höhen macht der Künstlerin so leicht keine nach.
Verrinnende Zeit
Bei dergleichen applaudieren die Zuhörerinnen und Zuhörer begeistert, billigen aber, geschmackvoll unterhalten, auch nachdenklichere Momente, ohne sich herunterziehen zu lassen. Bereits Ponchiellis „Tanz der Stunden“ versinnbildlichte ja eigentlich die Vergänglichkeit des Menschen in der verrinnenden Zeit. Daran scheint hernach auch Sergej Rachmaninows „Vocalise“ zu gemahnen, eine der schönsten Eingebungen des Komponisten – und unstreitig eins der traurigsten Stücke der Musikgeschichte. Die Melodie, ursprünglich einer Frauenstimme zugedacht, erklingt leider ohne Christina Rümann, dafür mit herrlich getragenen, leidvollen Lauten aus Englischhorn und Oboe, Klarinette und Flöten, die leicht wettmachen, was den Streichern vorübergehend an Spannkraft fehlt. Dafür lässt sich die Sopranistin mit George Gershwins „Summertime“ noch einmal hören, jetzt wehmütig und schicksalsergeben: Gemeinsam mit den Symphonikern breitet sie unterm Hofer Hallendach die schwermütige Müdigkeit eines schwül drückenden Südstaatensommers aus. Am Eisteich hingegen ist die Luft, wenig julihaft, ziemlich kühl geworden.
Nächste Konzerte der Hofer Symphoniker:
■ in Hof am 10. Juli, 17 und 19.30 Uhr, Klassik am Eisteich; Christina Rümann, Sopran, Russell Harris, Dirigent;
■ in Kulmbach am 17. Juli, 20.45 Uhr, Open-Air im Schönen Hof der Plassenburg;
■ in Schwarzenbach/Saale am 22. Juli, 19.30 Uhr, Open-Air im Rathaushof.
Das Orchester im Internet: hier lang.
Der Weltklasse-Oboist Albrecht Mayer bekennt sich als Solist und Dirigent der Symphoniker zu Hof als „schöner Stadt“, zum dortigen Bier, dem „wunderbaren Orchester“ – und zu Mozart. Das Publikum dankt mit Bravorufen.
Von Michael Thumser
Hof, 3. Juli – Darf man das: Mozart „weiterkomponieren“? Man darf, findet Albrecht Mayer. Zumindest lässt er erfrischend wenig Skrupel merken, wenn es um Musik geht, die ihm und seinem Instrument, der Oboe, dienlich werden kann.
Freilich nimmt er nicht für sich in Anspruch, zusammen mit seinem Schweizer Freund Gotthard Odermatt ein dem klassischen Meister kongeniales Komponisten-Duo abzugeben. Nichtsdestotrotz spannen die beiden, dem Geist des Idols folgsam und durchaus stilgerecht, ein Fragment von nur 51 Takten weiter aus, um es zu einem gefälligen „Allegro für Oboe und Orchester“ zu komplettieren. Mit Respekt gingen sie ans Werk: Zur Vorbereitung, berichtete Mayer dem Deutschlandfunk Kultur, hätten sie „sämtliche Instrumentalkompositionen, die Mozart für Oboe, und überhaupt alles, was er in F-Dur geschrieben hat“, gründlich studiert. Seit dem vergangenen April liegt das gewinnend erblühte Projekt als CD vor, zusammen mit anderen, gleich besetzten Originalen und Bearbeitungen. Perlen daraus stellte der international gefeierte Künstler am Donnerstag und Freitag als Solist und Dirigent der Symphoniker im Festsaal der Hofer Freiheitshalle vor: ein Mozart-Abend sehr zum Ergötzen des Publikums, das (am Donnerstag) mit Applaus und Bravorufen denn auch nicht sparte.
Allerdings bezeichnet der Weltklasse-Musiker als „Hauptwerk“ den letzten Beitrag des Programms. Wird er wirklich dazu? Zwar gerät die „Haffner-Symphonie“ (Nr. 35, KV 385) mit den luftig übers Podium verteilten Musikern in den Ecksätzen geräuschvoll, sogar festlich prunkend, grundsätzlich auch – und besonders im Andante – unüberhörbar genau durchgearbeitet. Indes, gleich beim Auftakt ist die Pauke um einen Tick zu früh dran und war es am Beginn des Abends schon, bei der erst majestätisch, dann federnd schalkhaft ausgebreiteten Ouvertüre zu „Così fan tutte“. Die Innenspannung, die Mayer dort aus den wie kreiselnden, dahin-, aber nie ausgleitenden Tonfolgen der Bühnenmusik gewinnen konnte, glückt ihm in der Symphonie nicht noch einmal. Behäbig schiebt er nach der Einleitung den ein wenig schwerfälligen Kopfsatz voran, im gewaltsam aufstampfenden Menuett legt er, während des Trios, eine flaue Tanzpause ein. Immerhin, an seiner Zeichengebung liegts nicht: Die entschlägt sich, vorausschauend und sinnfällig, aller Exzentrizitäten und Capricen.
Unkomplizierte Heiterkeit
Dem Publikum für seinen Beifall dankend, bekennt sich Mayer zu Hof, wo er schon wiederholt gastierte: zur „schönen Stadt", ihrem Bier – und ihrem „wunderbaren Orchester“. Auf dessen ersten Konzertmeister Lorenzo Lucca, als Orientierungspunkt der Musiker, darf Mayer sich verlassen, während er als Solist dreier konzertanter Kompositionen die Aufgaben eines Dirigenten naturgemäß nur teilweise leisten kann. Beim genannten „weiter-“ und zu Ende komponierten F-Dur-Allegro zuerst: Da gibt er das verliebt-werbende Thema an, bevor er den Symphonikern ausgiebig das Wort erteilt. Endlich legt er über ihr Spiel einen langen hohen Ton, aus dem er selbstbewusst-gewitzt, jedoch nie vorlaut, ein Melos von unkomplizierter Heiterkeit gewinnt. Triolen, Punktierungen, Synkopen betonend, lädt er das zwanglose Geschehen mit Leben auf und verleiht ihm in ausführlichen Moll-Momenten nicht Schwer-, doch eine Prise Tiefsinn.
Auch das populäre „Exsultate, jubilate“ – dreiteilig nach dem Schema schnell-langsam-schnell und also wie ein kleines Solokonzert anmutend – macht sich beim Hören durch einnehmende Reize ohne herausfordernden Anspruch beliebt. Nicht pappig mit Zuckerguss verkleistert Mayer hier und überhaupt die Musik, aber er überzieht sie gleichsam mit dem Wohlgeschmack einer Schokoladenglasur. Eine Motette, also eine Textvertonung für Gesang, liegt dem Werk zu Grunde: Dem Künstler fehlen die Worte; demungeachtet klingt sein Spiel nicht weniger beredt. Der Wesenskern des Stücks, weiß er, „wird durch den Text eigentlich nicht entschieden“. Jenem „Charakter“ passt er sich mit dem schmelzenden, tiefergelegten Ton einer Oboe d’Amore an, mit verhangenerem, aber nicht nebulosem Timbre. Ernsthaft, gleichwohl beflügelt durchquert er den ersten Teil, um sich im zweiten bescheiden auf eine reif-ausschweifende Kantabilität zurückzuziehen. Mit einem kurzen, aber durch und durch zuversichtlichen Lichtblick schließt er: Fast meint man, das triumphierende Sopran-„Halleluja“ des vokalen Originals zu hören.
Wie Nutella
„Mit Mozart ist es wie mit Nutella“, klärte der zu Scherzen aufgelegte Klassik-Star im Mai den NDR auf, „man muss nicht wissen, was drin ist, um zu merken, dass es gut schmeckt.“ Auch wer in Hof nicht weiß, was in der Zugabe „drin ist“, nämlich die vielleicht ergreifendste Vertonung des achthundert Jahre alten Eucharistie-Gebets „Ave verum“, schmeckt wohl heraus, dass ihm hier, während noch weniger als 51 Takten ‚sakraler‘ Musik, etwas erhaben ‚Heiliges‘ ins Gemüt dringt. Ohne Frömmelei hüllt sich der ein halbes Jahr vor Mozarts Tod entstandene Satz in die stille Vierstimmigkeit einer aufrichtigen Andacht wie in ein schnörkelloses Gewand. Nichts, das man komplettierend „weiterkomponieren“ dürfte – eine in jedem Wortsinn vollendete Schöpfung: Im Festsaal , mit Albrecht Mayers melodieführender Oboenstimme über halblauten Harmonien der Symphoniker, wird ein Stück tönender Spiritualität daraus.
Nächste Konzerte der Hofer Symphoniker:
■ in Hof am 8. Juli, 19.30, sowie am 10. Juli, 17 und 19.30 Uhr, Klassik am Eisteich; Christina Rümann, Sopran, Russell Harris, Dirigent;
■ in Kulmbach am 17. Juli, 20.45 Uhr, Open-Air im Schönen Hof der Plassenburg;
■ in Schwarzenbach/Saale am 22. Juli, 19.30 Uhr, Open-Air im Rathaushof.
Das Orchester im Internet: hier lang.
Mit Geschmack, Formgefühl und Klangkultur melden sich die Hofer Symphoniker aus der Corona-Pause zurück. Lea Birringer demonstriert mit der Geige virtuos eine Spielart, die ihren Glanz vor allem ursprünglicher Empfindsamkeit verdankt.
Von Michael Thumser
Hof, 15. Juni – Wer im Saal hat wohl schon einmal live Leifs gehört? Der Name, der in einheimischen Ohren klingen mag wie der einer Rockband, gehörte einem bedeutenden Komponisten, dem bedeutendsten sogar, soweit es Island betrifft. Gleichwohl vernehmen ihn jenseits der insularen Küsten selbst ausgebuffte Klassikfreunde so gut wie nie. Wer am Freitag und Samstag die Hofer Konzerte der Symphoniker besuchte, konnte sich immerhin einen Eindruck verschaffen: Jón Leifs’ „Consolation“, ein „Intermezzo“ für Streicher, erklang, auch in der Freiheitshalle, als Zwischenspiel, indem es zwei Violinkonzerte voneinander schied; zugleich taugte es seinem Titel gemäß als „Trostpflaster“ nach einem so gut wie konzertfreien Corona-Jahr, und wirklich war im Publikum unverhohlene Freude darüber spürbar, Musik endlich wieder unmittelbar und unverfälscht genießen zu dürfen, sozusagen ‚live und in Farbe‘.
Isländische Kälte breitet Leifs’ Welt- und Lebensabschiedswerk von 1968 nicht aus. Obwohl unmittelbar vor seinem Krebstod entstanden, bebt es weder vor Angst noch krampft es vor Schmerz. Ganz im Gegenteil: Dirigent Hermann Bäumer legt die separierten Akkorde, aus denen es hauptsächlich besteht, wie in todbereiter Ruhe an- und nebeneinander. Weniger Modulationen als Rückungen und minimalistische Übergangstöne verbinden sie, auch Pausen, durch die das Orchester sie nicht noch weiter voneinander trennt, sondern zusammenspannt. Musik, fragil wie dünnes Eis: Einmal brechen die Kontrabässe (am Samstag) denn auch fehltönend ein; sonst kolorieren die Musikerinnen und Musiker das herb- und herbstfarbige, indes nie blasse Klangbild in abgeklärter Klarheit, zugunsten einer intimen Atmosphäre verschwiegener Anteilnahme.
Ein ähnlich kurzes Werk hat das Programm eröffnet, keines freilich, darin wiederum ein alter Mensch dem Leben den Rücken kehrt, sondern eines, mit dem ein Junger es willkommen heißt. Ein Bläserensemble intoniert es, Holzbläser und Hörner, dazu ein Trompeter, der dem Stück als Leitmotiv markant fallende, punktierte Oktaven vorgibt. Felix Mendelssohn Bartholdy komponierte das „Notturno“ 1824 – fünfzehnjährig. Mithin tun die elf Instrumentalisten gut daran, nach der langsamen Einleitung – während der Hermann Bäumers Dirigat den Zusammenklang gleichsam zusammengestellt hat – im Hauptteil mit Schwung loszulegen und bei straffem Tempo gut gelaunt bis ans Ende durchzuhalten.
Jede Menge eines genialen Talents
Viel steckt nicht hinter dieser Musik außer jeder Menge eines genialen Talents. Das offenbart sich anschließend breit und tief in Mendelssohns letztem konzertantem Werk, seinem 1845, zwei Jahre vor seinem frühen Tod, entstandenen Violinkonzert. Ein Werk, bei dem der Solist mit der Tür ins Haus fällt; im Hofer Fall: die Solistin. Unmittelbar nach dem Auftakt setzt Lea Birringer eine Leidenschaft frei, als drängte es sie, nach langer Zurückhaltung endlich ihr Herz auszuschütten. Formbar ihr Ton, gleichwohl kernig; nervös bleibt ihr Gestus, auch als das Spiel sich beruhigt. Ihre Ungeduld gibt nicht nach, geschweige denn klein bei: Fast grimmig tritt die Geigerin in die Kadenz ein, die sie brillant absolviert, nicht aber um funkelnd-flunkernder Virtuosität willen, sondern um glaubhaft ein Panorama ihrer Gemütslagen zu enthüllen.
Dem Ausdruck der großartigen, vom Publikum wie vom Orchester gefeierten Geigerin fehlen nie Fülle und Relevanz, stets aber Gefühlsduselei. So geht sie wie unter scharfem Protest aus dem Kopfsatz heraus, um sich von einem Ton des Fagotts in den umso behutsameren Mittelteil hinüberführen zu lassen. Sanft und getrost klingt Lea Birringer da – man spürt sozusagen, was für ein guter Kerl in dem erzählenden Ich steckt, das die 35-Jährige mit Innigkeit und erwachsener Einfühlung charakterisiert. Dabei bleibt die Kontur der Geigenstimme fest und stark zeichnend, zuweilen auch gerät sie fein wie ein Federstrich, ohne jedoch auszudünnen. In der Überleitung zum Finale streift die Künstlerin alle Bedenklichkeit endgültig ab, um sich einer arglosen Ausgelassenheit hinzugeben.
Solokonzerte solchen Zuschnitts nennt man „dankbare Werke“, und auch die drei Violinkonzerte Christian Sindings gehören jenem Typus an: Ihr hoher Anspruch gibt den Solisten Gelegenheit, technischen Glanz sowohl wie deutende Sensibilität zu entfalten – und damit das Publikum sowohl zu packen wie zu ergreifen. Mustergültig gelingt dies der Interpretin mit dem ersten Konzert des norwegischen Romantikers. Anfangs lässt sie den Symphonikern abermals kaum Gelegenheit, das große Wort zu führen: Euphorisch stürzt sie sich unverzüglich ins Allegro, noch im Jubilieren so nuanciert, dass sie hier wie andernorts mühelos ebenso in die seelenvollen Passagen der Musik findet. Weil Hermann Bäumer sehr wohl weiß, es mit einem „symphonischen Konzert“ zu tun zu haben, feilt er die facettenreichen Aufgaben des Orchesters gründlich aus, gerade dann, wenn die Sologeige, was wiederholt geschieht, lange schweigt. Dann wieder treten hier die Bläser, dort die Streicher als gleichrangige Partner mit ihr in den Dialog.
Mit Grabesstimmen
Als Gegenentwurf zum ersten Satz verschattet sich der zweite geradezu gruftdunkel, eine Passacaglia, deren komplex-weitschweifiges Thema Celli und Bässe wie mit Grabesstimmen hervorholen. Aus dieser Trauerhymne befreien sich Lea Birringer und die Symphoniker im abschließenden Allegro: „Fröhlich“ bedeutet die Satzbezeichnung ja schon für sich allein, doch auch noch giocoso wünschte der Komponist das Finale, komisch also, spaßig, spielerisch. Birringer nimmt ihn beim Wort: Schnell und geschmeidig, unerhört geläufig und treffsicher, beherzt und herzerfrischend jagen ihre Läufe und Sprünge dahin. Und wenns, im Mittelteil, doch mal ein klein wenig gesetzter zugehen soll, ist es, als ob sie sich zusammennehmen und dazu zwingen müsste.
Wer im Saal hat wohl Sindings erstes Violinkonzert schon einmal live gehört? Wer seine „Romanze“? Nicht so sehr als Zugabe wie als Epilog mit eigenem Stellenwert rücken die Violinistin und Harald Bäumers Musiker das zehnminütige, berührend besonnene Konzertstück an den Schluss des Abends, und es scheint, als wollten sie auch hierin das Titelwort nach seinen Bedeutungen absuchen: Als Wechselbeziehung aus tiefer Neigung entspinnt sich eine Romanze zwischen ihnen, als eifriges – indes nicht eiferndes – Gefühl, beiderseits als einschneidendes inneres Erlebnis eher denn als aufgeregtes, flüchtiges Abenteuer. Melancholie wird leise laut, doch ohne Not, und reichlich Schönheit, einfach so.
Nächste Konzerte der Hofer Symphoniker in Hof:
■ Am 1. und 2. Juli, St.-Michaelis-Kirche, jeweils 19.30 Uhr: Werke von Wolfgang Amadeus Mozart; Solist (Oboe) und Dirigent: Albrecht Mayer.
■ 8. Juli, Eisteich, 19.30, sowie 10. Juli, 17 und 19.30 Uhr: Klassik am Eisteich; Christina Rümann, Sopran, Russell Harris, Dirigent.
Die Hofer Symphoniker im Internet: hier lang.
Sechzig Jahre Musica Bayreuth: Zum runden Geburtstag lud sich das Festival die Bamberger Symphoniker ein. Mit „Wiener Klassik“ könnten sie sichs einfach machen, doch geistreich und tiefenscharf zeigen sie das Meisterliche im Populären.
Von Michael Thumser
Bayreuth, 12. Juni – Am Sonntag wird das Werk zur „Historischen Kaffeezeit“, mittags, von einem Streichquartett im Schlosspark des mittelsächsischen Lichtenwalde dargeboten. Natürlich hat das – heuer hundertste – Mozartfest in Würzburg es im Programm. Als „musikalischen Willkommensgruß in den Frühling“ spielten Ende Mai in Wien die Vienna Imperial Philharmonics Teile daraus bei Platzkonzerten. Das Kulturfernsehen Arte hält in seiner Mediathek die Aufzeichnung eines Konzertes vor, bei dem das Havana Lyceum Orchestra das 234 Jahre alte Original durch kubanische Folkore aufmischt. Unlängst in Wanne-Eickel vertrat die Orgel der Stephanskiche die ursprüngliche Besetzung für vier Streicherstimmen. Beim allerersten Symphoniekonzert vor Publikum in Stuttgart seit November erklang das Stück unter freiem Himmel – und der Rezensent der Südwest-Presse maulte: „Also das wäre jetzt nicht nötig gewesen: Die ‚Kleine Nachtmusik‘ nach sieben Monaten Lockdown!“
Wirklich, muss das sein? Gibts nix Bedeutenderes, um die Wiederauferstehung des klassischen Musikbetriebes ‚nach Corona‘ ein wenig ambitionierter, greller, pompöser zu zelebrieren? So hätte man auch in Bayreuth fragen können, denn auch das Gastspiel der Bamberger Symphoniker bei der Musica Bayreuth begann mit jener wohl populärsten Schöpfung Wolfgang Amadeus Mozarts, die offenkundig in keinem Programm fehlen darf, das, wie hier, schlicht mit „Wiener Klassik“ überschrieben ist. Allerdings war im Markgräflichen Opernhaus zu erleben, wie selbst eine von Kurorchestern und Werbespots, Liftlautsprechern und Popmusikarrangeuren bis zur Abgedroschenheit durchgenudelte Zugnummer spontan ins wiedergewonnene Leben treten kann – wie neugeboren.
Inspiriert und raffiniert
Nicht wie neu erfunden. Andrea Marcon sieht seine Aufgabe als Dirigent nicht darin, den klassischen Gassenhauer dem Publikum dicketuend zu entfremden oder Schwersinn darin vorzutäuschen. Als weltweit namhafter Spezialist für die Aufführung älterer und alter Musik weiß der Italiener, dass Unmittelbarkeit der Affekte und eine fein ausgearbeitete Transparenz bei Tonkunst solcher Güte genügt, um ihr frischen Atem einzuhauchen. „Live und analog“ (so Oberbürgermeister Thomas Ebersberger), gründlich, dennoch unbefangen erschließt das Streichercorps des Orchesters Satz für Satz die Inspiriertheit der Erfindung, die Raffinessen der Faktur und bestätigt: Die vermeintliche Alltagsware ist nicht nur Evergreen, auch Meisterwerk.
Mit den ersten Takten zieht Marcon das Auftakt-Allegro straff wie ein Uhrwerk auf, das er freilich nicht abschnurren lässt, sondern gut gelaunt in natürlichen Schwung bringt. Geladen mit Esprit wünscht Marcon die Musik, aber unprätentiös wie sein Dirigat. Besonders die Feinheiten des zweiten Satzes arbeitet er filigran heraus, wobei er sich mit Spannungsspitzen einem Übermaß an „Romance“ kräftig widersetzt. Nahtlos zwischen Staccato und Legato wechselnd, stellen die Musiker das Menuett beinah als volkstümlichen Tanz dem finalen Rondo voran, das die Serenade – zu Deutsch: Nachtmusik – burschikos, beinah burlesk beschließt.
Hundert Jahre alt, wie das Würzburger Mozartfest, ist die Musica Bayreuth heuer noch nicht; sechzig immerhin. 1961 gründete Viktor Lukas sie als Orgelwoche und stellte sie als zweites Bayreuther Festival bedeutend neben die Richard-Wagner-Festspiele; fünfzig Jahre lang leitete er sie selbst. Als Schauplatz für die Feier des runden Geburtstags eignet sich das Opernhaus der Markgräfin Wilhelmine bestens, wo die Musik der Wiener Klassik charmant mit der harmonischen Herrlichkeit der Theaterarchitektur verwächst. Die Bühne, auf der die Symphoniker Platz nehmen, führt in vorzüglicher Kulissenmalerei die intime Pracht des Auditoriums jenseits der Rampe, nur opulenter, fort – alles in allem ein festlicher Ort für eine Musik, die gleichwohl lieber aus sich selber leuchtet als durch exaltierten Glanz.
Dunkles Timbre
Zum Beispiel für Musik wie Joseph Haydns G-Dur-Violinkonzert von 1769. Als Solistin tritt Chouchane Siranossian vor die Orchesterstreicher. Als Solistin? Eher als prima inter pares agiert die Französin mit armenischen Wurzeln: Meist spielt sie die Tuttipassagen mit, um dann mit absichtsvoll leichtem, auch dünnem Ton herauszutreten. Die Zeitschrift Diapasson rühmte die „außergewöhnliche Künstlerin“ dafür, „das ganze Licht auf sich zu ziehen“. Diesmal stellt sie es, wie es scheint mit Vorsatz, auch mal unter den Scheffel. Dunkel timbriert, fast bratschentief klingt ihr Part, romantischen Schmelz, erst recht virtuose Politur vermeidet ihr Spiel, das mit dem ersten Satz kundtut, sich auch fortan jedem Anflug von Schwärmerei verweigern zu wollen. Mitteilsam ihr Ton, der indes nicht zu Herzen geht und im Adagio leider inkonstant, zuweilen brüchig wird. Dafür zeigt Siranossian im antriebskräftigen Final-Allegro markantes Profil.
Auch über die fünfte Symphonie Franz Schuberts, wiewohl 1816 entstanden, breitet sich in Bayreuth das Flair der „Wiener Klassik“. Zwar fächern sich nun vergleichsweise romantische Farben in den Bamberger Symphonikern auf, weil sie sich mit Flöten und Oboen, Fagotten und Hörnern ergänzen. Trotzdem waltet, während Andrea Marcon das vielgespielte Werk durchleuchtet, weiter gleichsam mozartscher Geist darin, weiß doch der Dirigent ein den vorangegangenen Stücken entsprechendes Gleichgewicht herzustellen zwischen herzhaftem Temperament und sinnreichem Gehalt. Grundsätzlich konzis fasst er die vier Teile auf und strukturiert ihre formale Gestalt durchhörbar. Fast könnte man meinen, die Vergnügtheit des Kopfsatzes solle sich im Vivace-Schlussstück erneuern – wären dort nicht die stürmischen Moll-Episoden, die Marcon, abrupt unterbrechend, bedenklich einschaltet. Dazwischen schiebt er die Sätze zwei und drei als miteinander verwandtes Paar, um zunächst im Andante ernsthaften Schönklang zu erwecken; im deutlich grimmigeren Menuett hingegen macht er Ungewissheit, Vorbehalte, Zweifel geltend.
Schuberts Fünfte – Meisterwerk eines Neunzehnjährigen. Ein Evergreen. Aber Alltagsware? Als ‚große Nachmusik‘ beendet die Symphonie knapp halbstündig den Abend: auch sie ein ungezwungenes Divertimento, doch zugleich einverstanden mit Halblicht, Schatten, Dämmerung.
Das Programm der Musica Bayreuth und weitere Informationen im Internet: hier lang.
Verklärte Nacht bei der Musica Bayreuth: Das Festival hat das Ensemble Kontraste in die sich verdunkelnde Stadtkirche geladen. Dort verbindet sich Olivier Messiaens „Quartett für das Ende der Zeit“ wechselvoll und spannungsreich mit Videobildern von Sonne, Mond und Sternen.
Von Michael Thumser
Bayreuth, 8. Juni – Die gängigen Musikhandbücher und Informationsquellen sind sich nicht einig darüber, wo das „Quartett für das Ende der Zeit“ am 15. Januar 1941 uraufgeführt wurde. Im Lager Stalag VIII A bei Görlitz, soviel steht fest; dort hatte die nazideutsche Wehrmacht versucht, vierzigtausend Franzosen und achttausend Belgier in dreißig Baracken zu pferchen. Aber wurde das Werk, dass aus bitterer Not entstand und zu einer der bedeutendsten Schöpfungen der Kammermusik aus dem zwanzigsten Jahrhundert erwachsen sollte, in einem Waschraum aus der Taufe gehoben? Oder im Lagertheater? Oder unter offenem Himmel, beschirmt von Sternen?
In Bayreuth gab in der vergangenen Woche die Stadtkirche den Schauplatz ab; einen, der wirklich ein Schauplatz war. Denn nicht nur, dass die Musica Bayreuth das renommierte Ensemble Kontraste eingeladen hatte, um das für Spieler und Hörer gleich herausfordernde, fürs Gemüt so erschütternde wie befreiende Werk zu präsentieren – zwei Mal, um 21.30 und um 23.30 Uhr, während im gotischen Gotteshaus sich die Dämmerung zu Dunkelheit vervollkommnete. Gleichzeitig übersetzten Videos die Sätze und ihren koloristischen Reichtum, ihren theologischen Gehalt in Sequenzen von großer Stimmungsstärke und hoher Symbolkraft. Verklärte Nacht.
Angst, Hunger und krachender Frost
Anders trat das Werk im Januar vor achtzig Jahren in die Welt: scheinbar abwegig, paradox. Um Messiaen und seine drei Partner haben sich Berufsoffiziere und Bauern, Akademiker und Arbeiter versammelt, gleichgemacht durch das Elend der Gefangenschaft. In ihren Knochen sitzen nackte Angst, Hunger und der krachende Frost, aber die Musik will die wärmende Kraft der Zuversicht ausstrahlen. Zwar ziehen sich über das Cello statt vier Saiten nur drei, am Klavier verklemmen sich die Tasten, und auch der Klarinette und der Geige macht die Kälte zu schaffen. Gleichwohl verheißt das Quatuor pour la fin du Temps – gründend in Versen aus der neutestamentlichen Offenbarung des Johannes – nicht ein verheerendes letztes Gericht; es eröffnet vierhundert zutiefst ergriffenen Zuhörern die Aussicht auf die Leidlosigkeit ewigen Friedens.
Anfang dreißig war der Komponist damals und als strenggläubiger Katholik nicht vom Blutdurst des Kriegers, sondern von Verkündigung beseelt. Als frommer Reaktionär indes wollte er seine Kunst nicht betreiben: Seine innovative Art, musikalisches ‚Material‘ zu ‚organisieren‘, dachte Arnold Schönbergs Zwölftontechnik konsequent weiter und begründete die Serielle Musik mit ihrer strengen, kühlen Objektivität. Zugleich aber – und wie im Widerspruch dazu – war es Messiaen um eine klingende Kombinatorik zu tun, die unmittelbar auf die emotionale Wahrnehmung der Hörenden einwirkt. So formulierte er eine im zwanzigsten Jahrhundert singuläre, radikal persönliche Tonsprache aus, die sein tief reflektiertes Glück am Dasein mitteilt, seine Nähe zur Natur und, vor allem, sein vorbehaltloses Gottvertrauen.
Der Sternenhimmel der Uraufführungsnacht
Dem entspricht Christoph Brech in seinen Videokompositionen mit tiefem Verständnis. Hinter den Nürnberger Ensemblemusikern verdeckt, hoch aufragend, eine Projektionswand den Altar. Auf ihr, in der gleichbleibenden Grundfläche eines Unendlichkeit versinnbildlichenden Kreises, zeigt sich Kosmisches, gleich zu Beginn die „Sternenkonstellation der schlesischen Uraufführungsnacht“. Ebenso scheint Irdisches auf, doch auch das Diesseits ist himmelwärts gerichtet: In den Farben des von Messiaens Musik vorgestellten „Regenbogens“ füllt die imposante Fensterrose des Straßburger Münsters das Rund; oder, gerade noch gegenständlich und fast schon abstrakt, der steile Aufblick in die Wipfel eines Tannenwalds. Von fern erinnert solches Leitmotiv an ein Auge mit Iris und Pupille: das Auge Gottes?
Die „Kristall“-Klarheit des „liturgischen“ Auftaktteils, die Luftigkeit des von der Partitur intendierten „Klangstaubs“ ist dem Zusammenwirken der Interpreten nicht gleich anzuhören. Nachdem aber in ihren heftigen Klangausbrüchen im zweiten Satz ein Engel das „Ende der Zeit“ angekündigt hat – wie es in Messiaens eigenen Kommentaren zum Stück heißt –, legen sich Violine und Cello sacht über magische Glöckchenklänge aus dem Flügel, derweil die Leinwand ein vom Komponisten in Ton-„Kaskaden“ verwandeltes „Blau-Orange“ mit wabernden Mixturen nachbildet. Hypnotisierend breiten sich dann, an dritter Stelle, im sachten Nachhall des Kirchenschiffs die schmerzlich getragenen Klarinetten-Kantilenen und Vogelruf-Imitate des grandios intonierenden Günter Voit aus, der sich mit seinem Instrument als Meister des expressiven Piano-Pianissimos und des vielsagenden Crescendos erweist. Nach dem deutlich aufgeregteren, fast aufgeräumten Intermède eifert ihm Cellist Ariel Barnes mit einem „Lobgesang auf die Ewigkeit Jesu“ nach, über Klavierakkorden des rücksichtsvollen Stefan Danhof gemessenen Schrittes und mit einer Feierlichkeit, die nach drängenden Episoden wiederkehrt, um zu verschweben. Derweil schmilzt auf der Videowand der Baumwipfelkreis „in Zeiten des abnehmenden Lichts“ (um zwischendurch einen Romantitel Eugen Ruges zu zitieren) mehr und mehr zu einem Mond hinter Wolkenfetzen zusammen.
Wirbel des Regenbogens
Der setzt sich für die Dauer der „Danse de la fureur“, des sechsten Teils, vor die schwarz verfinsterte Sonne: Während ihr Licht, nur eine flackernde Korona, sich vergeblich wieder zu entfesseln sucht, vereinen sich die vier Instrumentalisten zu ausgedehntem, rhythmisch grausam aufgebrochenem Unisonospiel, einer Art Veitstanz, wie die Überschrift des Satzes ihn benennt. Im darauffolgenden Abschnitt zersplittern Messiaens „Wirbel des Regenbogens“ auf der Videowand kaleidoskopartig zu geometrischen, dadaistisch irrlichternden Konfigurationen, denen die Musiker, fiebrig erregt, mit zum Zerreißen gespannten Interaktionen gerecht werden. So viel Erwartungsfreude erfüllt sich im Schlussstück: Zum „Loblied auf Jesu Unsterblichkeit“ erhebt nun Jessica Hartliebs Violine die Stimme mit Engelsgeduld, über minimalistischen, doppelt angeschlagenen Klavierakkorden, wie dem Diesseits schon entrückt. Noch einen Schritt weiter geht Christoph Brech: Seine visuellen Visionen wagen den Übergang gleichsam in ein bergendes, rettendes, erlösendes Jenseits, in den interstellaren Raum. Mit den widerstandslos hingegebenen Betrachterinnen und Betrachtern reist er durch unzählbare, zu Fäden und Netzen, Gespinsten und Gewöllen verbundene Galaxien des Kosmos.
Leicht denkbar, dass der streng katholische Klangträumer Olivier Messiaen der Hörbilder-Collage in Bayreuths lutherischer Stadtkirche zugestimmt hätte. Was sein Quartett abwechslungsreich, aber als ein in jeder Hinsicht großes Ganzes entfaltet, das reflektiert das Blick-Feld der Videowand auf eigene, trotzdem verwandte Weise: Die Lichtzeichen und Naturspiegelungen beschwören Gottes Schöpfung; die Straßburger Kathedral-Rosette proklamiert die Spiritualität, der das Quatuor pour la fin du Temps verpflichtet ist; der Flug durchs All imaginiert symbolisch einen Raum ohne Rand und Grenzen, wo die Zeit in der Ewigkeit zergeht.
Das Programm der Musica Bayreuth und weitere Informationen im Internet: hier lang.
Die Hofer Symphoniker als Streicherensemble und Bläsernonett: Vor wohlweislich verkleinertem Instrumentarium agiert ARD-Preisträger Alexej Gorlatch am Flügel mit gehalt-, doch maßvollen Leidenschaften.
Von Michael Thumser
Hof, 16. und 17. Oktober – Ein Konzert mit Soloinstrument plus Symphonie – wörtlich: Wettstreit plus Zusammenklang –: Das ist, grob gesagt, das Standardprogramm eines Klassikabends mit Orchestermusik. Nun haben (Zyniker werden spotten: Corona sei Dank) die Hofer Symphoniker das Format neu erfunden: indem sie, notgedrungen und nutzbringend, eine kräftige Note Kammermusik hineinmischten. Am Freitag und am Samstag erklang zwar ein ausgewachsenes Klavierkonzert, jedoch beschränkt begleitet von einem überschaubaren Streicherensemble; und die Holz- und Blechbläser beschieden sich zuvor mit einem Nonett. Zum Hörgenuss taugte beides, schon darum, weil Dirigent Elias Grandy mit einfühlsamer Feinarbeit und jugendfrischen Antriebskräften nicht hinterm Berg hielt.
Das Klavierkonzert: der Zählung nach das zweite, der Entstehungszeit nach das erste von Frédéric Chopin. Als erst 19-Jähriger schuf es der polnische Tastengott, doch schon mit ausgereiftem Schönheitssinn und enormem pianistischem Elan. Viel hat der Tonsetzer nicht für Orchester komponiert, weshalb manche Experten seine angeblich einfallslose Instrumentation monieren. Indes straft der Abend im Festsaal der Hofer Freiheitshalle die Kritikaster Lügen. Denn hier, wo (im Arrangement von Ilan Rogoff) die Bläser fehlen, wird offenkundig, wie unentbehrlich sie sind. Leidenschaftlich lässt Elias Grandy die Streicher die Einleitung intonieren und kann doch nicht verhindern, dass der Orchesterpart jetzt und fürderhin recht dünnblütig klingt, nicht ausgezehrt, doch zwangsläufig abgemagert, flau mitunter.
Dem setzt Alexej Gorlatch darum einen passgenauen, weil aufmerksam abgemessenen Klavierton entgegen – er fügt ihn konzertierend, mit- oder widerstreitend, hinzu. Passioniert, auch sanftmütig verzögernd nimmt sich der 32-jährige deutsche, in Minsk geborene ARD-Preisträger der Themen an. Dabei gelingt es ihm, mit seinem präzisen und sonoren, zugleich kultivierten Anschlag an Koloristik nachzuarbeiten, was das Instrumentarium nur unvollständig leisten kann.
Es ist, als verwandelte sich mit dem manipulierten Ensembleklang die Persönlichkeit der Klavierstimme auch: Tritt sie aus dem Kollektiv heraus – wie im finalen Vivace mit dem wirbelnden Gleichmaß trotzigen Schwungs, der immer wieder zerreißen und in Stücke gehen will –, so scheinen die Finger des Solisten den Symphonikern beinah davonzusausen. In fliegender Leichtigkeit absolvieren sie Tonkaskaden, Laufgirlanden, Akkord-Arabesken. Davor aber breitet Gorlatch das begehrliche Schmachten des Larghettos wie ein Liebeslied für eine vergötterte Dulzinea über das sparsame Streicher-Gewebe, nicht einfach in gebotener Zärtlichkeit, sondern geradezu anbetend, flehentlich; bis er sich selbst mit barschen Unisono-Gängen seiner beiden – unfehlbar griffsicheren– Hände aus der Inbrunst herausreißt. So vermag er der bestrickenden Romanze die gefährlichsten Zuckerspitzen abzubrechen, was ihm und den Symphonikern erst recht mit dem Schluss des Satzes anrührend gelingt, der im Unhörbaren vergeht.
Tatendrang und Drahtigkeit
Da scheinen die neun Interpreten von Charles Gounods „Petite Symphonie“ vergleichsweise zwanglos ans Werk gehen zu dürfen. Nie hemdsärmelig, doch humoristisch, weder gedankenlos noch gedankenschwer, dafür hell belebt und aufgeweckt charmant spüren die Flötistin Birgitta Kurbjuhn, die Damen Kern und Dietz mit ihren Klarinetten sowie die Herren Huljev und Masaoka (Fagotte), Redfearn und Korck (Hörner), Perretta und Kondakov (Oboen) den feineren wie den frecheren Wesenszügen des superben Werkes nach. Inspirieren ließ sich der französische Romantiker Gounod 1885 von vergleichbaren Spielmusiken namentlich des deutschen und Wiener Klassizismus. Ob den Einklang eines Nonetts wirklich erst ein Dirigent garantiert, mag dahingestellt bleiben; immerhin passt das Stück in seinem gespannten Tatendrang trefflich zur distinguierten Drahtigkeit des Dirigenten – und umgekehrt. Den beflügelnden Zeichen Elias Grandys folgen die Musikerinnen und Musiker von Anfang bis Ende mit bunt aufgefächerten Farben und energischen Pulsen.
Nach der getragenen Introduktion schlagen sie im Kopfsatz die Grundstimmung des vierteiligen Ganzen an, eine vitale Pfiffigkeit, nicht spaßig burlesk, sondern elegant vermittelt durch die Fülle spritzigen Esprits. Das Andante gewährt der Flöte Kurbjuhns fünf Minuten, um sich schlicht und edel zu einer Solo-Arie aufzuschwingen. Umso druckvoller wird dafür im Scherzo ins Horn gestoßen, bevor im Trio die in sich verschlungenen, doch geordneten Stimmen rhythmisch rüstig einander zum folkloristischen Tanz bitten. Im Finale könnte die gewitzte Gutlaune der Künstlerinnen und Künstler tatsächlich in Leichtsinn umschlagen, beharrten sie nicht bis zum Schluss auf Schliff, Geschmeidig- und Genauigkeit.
Derlei brillante Bläserstücke anregend-gefälligen Charakters nennt man auch Harmoniemusik; ein treffender Begriff. Nimmt man ihn wörtlich, bedeutet er: Tonkunst der Einmütigkeit.
Drittes Symphoniekonzert des Orchesters in Hof: am 13. und 14. November, jeweils um 19.30 Uhr, im Festsaal der Freiheitshalle (Mozart, Bruckner; Dirigent und am Klavier: Christian Zacharias).
Zur Veranstaltung im Netz: hier lang.
Die Luisenburg-Festspiele mussten heuer ausfallen. Aber ein bisschen Luisenburg gibt es in Wunsiedel doch: Intendantin Birgit Simmler stellt in der Fichtelgebirgshalle das für 2021 geplante Musical „Der Name der Rose“, seine Schöpfer und sieben Nummern daraus vor.
Von Michael Thumser
Wer Umberto Ecos dickleibige Romanvorlage von 1980 gelesen oder zumindest Jean-Jacques Annauds sechs Jahre später entstandene Verfilmung gesehen hat, der erinnert sich wohl an den eminenten Ereignis- und Wendungsreichtum des Stoffes, seine gedanklichen Verflechtungen, die dichten historischen Hintergründe, vor denen er sich ausbreitet: eine Geschichte wie das Labyrinth, das den riesigen Bücherhort des besagten Klosters birgt. Birgit Simmler ist sich sicher: Sie schafft das. Am Sonntag sorgten sie und Dramaturg Christof Kaldonek für „ein bisschen Luisenburg-Feeling in dieser verrückten Zeit“ und in der Fichtelgebirgshalle. Applausbereit füllte ein hörbar vorfreudiges Publikum den Saal und eine Band die Bühne. Auf ihr waren um die Blech- und Holzblasinstrumente herum Plexiglas-Kabinen installiert, um sie am spreading entweichender Aerosole zu hindern. Verrückte Zeiten.
War das Mittelalter eine? Als aufgekratzte Moderatoren lassen Simmler und Kaldonek die Zuschauerinnen und Zuhörer ein paar Blicke in die Verzweigungen der Handlung werfen. Erst recht kommen sie auf deren brandneue Musical-Version zu sprechen. Die fast brandneue: Denn die Weltpremiere brachten im August 2019, als Sommerkultur noch in vollem Ausmaß möglich war, die Festspiele auf den Erfurter Domstufen heraus. Immerhin eine Erstaufführung kriegt Wunsiedel: Denn für die Luisenburg haben Gisle Kverndokk als Komponist und sein Librettist Øystein Wiik ein Drittel des Originals gestrichen sowie Instrumentarium und Chor verkleinert.
Ein Autorenduo, an Erfolg gewöhnt
Für „Der Name der Rose – das Konzert“ ist das an Erfolg gewöhnte Duo eigens aus Norwegen angereist. Siegesgewiss versprechen die beiden, dass sich der Stoff auch binnen zweier statt dreier Stunden mit „gleichbleibender Komplexität“ entfalten werde. Schon zuvor hätten die beiden das ecosche Original kräftig eindampfen müssen, wobei ihnen das chronologische Gerüst des schriftstellernden Gelehrten geholfen habe: „Sieben Tage, sieben Tote, sieben Todsünden.“
Um die gedrängten Textmengen transportieren zu können, schwebte Gisle Kverndokk eine ausdrücklich „einfache“ Musik vor, melodiös, wie er sagt, und mit wiedererkennbaren Leitmotiven. Eingängig und einprägsam, oft schmachtend und angenehm schnulzig klingt sie – und erinnert ans Kino: Für die Ouvertüre stand unüberhörbar John Williams Pate. Es gibt schlechtere Lehrmeister. In Erfurt spielte ein 40-köpfiges Symphonieorchester; im Fichtelgebirge bescheiden sich die Theatermacher mit neun Musikerinnen und Musikern, die Thore Vogt am Pult zu Schmiss und Schmalz und zu einer Launig- und Süffigkeit motiviert, die eingedenk des düsteren Stoffs ein wenig überrascht. Es werde freilich auch, wie unter Mönchen üblich, gregorianische Gesänge geben, versichert Textautor Øystein Wiik, der an diesem Abend temperamentvolle Buffo-Qualitäten herauskehrt: Auf Norwegisch singend, gibt er das halb sympathische, halb diabolische Klosterfaktotum Salvatore, einen grotesken Halbverrückten und armen Hund mit posttraumatischer Belastungsstörung. Das Publikum, bravo rufend, jubelt ihm zu.
Störend, wenn auch nicht belastend, macht sich im Saal allenfalls die verzerrende Lautsprecheranlage bemerkbar. Vielleicht hätten hier, unter Dach, die versierten Stimmen des Gesangsensembles auch unverstärkt getragen. Livio Cecini lässt einen intellektuell überlegenen, menschlich verständnisvollen William von Baskerville ahnen, neben dem Gunnar Frietsch, als sein junger Adlatus Adso, in einem Liebeslied unschuldig natürlich tönt. Rob Pitcher als Abt deutet an, wie schwer es einem „Macht“-Menschen fallen kann, „oben zu bleiben“, wenn sich in der Politik die „Gewichte verschieben“. Verliebte Zartheit steuert Marina Granchette bei, über deren Pferdeschwanz wie ein Damoklesschwert der Vorwurf schwebt, eine Hexe zu sein; trägt sie doch, zum schwarzen Hemdchen, rote Schuhe.
44 457 Menschen sahen 2019 in Erfurt dem Musical zu. Das war vor Corona. Gleichwohl könnte, ‚nach Corona‘, das Musical auch in Wunsiedel das Zeug zum Publikumsmagneten haben. Übrigens war die Geschichte hier schon mal ein solcher: Als Schauspiel, von Claus J. Frankl erarbeitet und von Pavel Fieber inszeniert, zog es vor zwanzig Jahren Scharen auf die Luisenburg; und war trotzdem bestenfalls ein halbes, weil arg langatmiges Vergnügen. Nun kündigt sich anderes, Kurzweiligeres und Kürzeres an. Jeder Stoff hat eine zweite Chance verdient.
Mit der Premiere des Musicals und dem vorgeschalteten Festakt sollen die Luisenburg-Festspiele 2021 am 11. Juni um 20 Uhr offiziell eröffnet werden. Allerdings geht zuvor schon das Familienstück „Pinocchio“ nach Carlo Collodis 1881 erstmals veröffentlichtem Kinderbuchklassiker über die Naturbühne (Premiere: 19. Mai, 10.30 Uhr.)
Zu den Festspielen im Internet: hier lang.
Vier mehrsätzige Werke in gut einer Stunde: Das Georgische Kammerorchester aus Ingolstadt baut in Selb mit symphonischen Kleinigkeiten eine Brücke von der österreichischen Klassik zur Klangwelt des britischen Kinos.
Von Michael Thumser
Selb, 8. Oktober – Was eine Symphonie ist, ahnt selbst, wer klassischer Musik eher fernsteht. Aber eine Sinfonietta: Was könnte das wohl sein? Wörtlich übersetzt, ists eine kleine Symphonie, begrenzt sowohl was ihre Dauer als auch was die instrumentale Besetzung betrifft. Eine Erscheinung vor allem des vergangenen Jahrhunderts: Prokofjew und Poulenc haben Sinfonietten komponiert, Leoš Janáček die mit Abstand bekannteste; und Max Reger, unmäßig wie so oft, die bei weitem größte jener Kleinigkeiten: gesetzt für einen vielköpfigen Klangapparat, der fast eine Stunde lang zu tun hat.
Eine Stunde? Nicht viel länger währte am Donnerstag das Gastspiel des Georgischen Kammerorchesters in Selb; obwohl das aus Ingolstadt angereiste Ensemble neben einer Sinfonietta – von Malcolm Arnold – noch drei klassische Symphonien im Programm hatte. Um Kleinigkeiten handelte es sich insofern, als keines der Werke nach pompöser Expression und gravierenden Gedanken strebt. Eindruck machten sie gleichwohl, zwar keinen ‚großen‘, keinen nämlich, der darauf berechnet gewesen wäre, die etwa sechzig Zuhörer zu überwältigen; aber durch feinen Sinn und festen Klang zu fesseln, das leisteten die Musikerinnen und Musiker: Durch Spielwitz sorgten sie amüsant für gehobene Unterhaltung.
Zwei Klassiker, drei Symphonien: Zu Frische, gar zu Fröhlichkeit animiert Dirigent Ruben Gazarian das Orchester in der siebzehnten, also noch frühen Symphonie Wolfgang Amadeus Mozarts, der bei ihrer Entstehung, 1772, zarte sechzehn Lenze zählte. Straff spannt Gazarian die Aktivitäten seiner Künstlerinnen und Künstler im ersten Satz zusammen und lässt dem Übermut im letzten die Zügel schießen. Dazwischen schaltet er die volksliedhafte Thematik des Andante gemütlich, doch nicht bräsig ein. Mitteilsam verteilt der Dirigent, vor 49 Jahren im zurzeit kriegerisch aufgewühlten Armenien geboren, seine großzügigen und mühelos verständlichen Gebärden. Er zeigt nicht nur an, was gerade gespielt wird, er deutet zugleich voraus, was im nächsten Augenblick geschehen und sich verändern wird. Zuschauend ahnt so auch der Zuhörer schon, was gleich kommt.
Gegenbewegungen zwischen Hell und Dunkel
Zwei Mal beherrscht Joseph Haydn, nach den drei divertimentohaft verspielten Mozart-Sätzen, die substanziell stärkere Mittelstrecke des kurzen, aber guten Abends. Im fünfzehn Jahre älteren C-Dur-Werk, der Nummer I:37 des Hobokenverzeichnisses, nehmen bei gleichbleibendem, durchaus schon mal burschikos auftrumpfendem Elan die Abwechslungen zu: durch Gegenbewegungen zwischen Dur und Moll, Hell und Dunkel. Der Dirigent betont sie durch Akzente, die oft und überraschend zu Kontrasten wachsen. Im Trio des an zweiter Stelle stehenden Menuetts nutzen die Stimmführer der Violinen, Bratschen und Celli die Gelegenheit, solistisch als Streichquartett hervorzutreten, was die Musik kaum verhaltener, aber etwas leichter wirken lässt (und stellenweise etwas derb tönt).
Wohltuend ins Moll, in d-Moll, zieht sich, nach viel Ausgelassenheit, Haydns 34. Symphonie zurück: Weniger grabschwer als schwermütig tritt das Orchester ins einleitende Adagio ein. Im folgenden Allegro hingegen stürmt es drauflos, als wollte es zuvor aufgestaute Energien schnell wieder loswerden – ein Druck, der sich auch aufs gar nicht behäbige Menuett überträgt. Das finale Presto kocht über zu feuriger Schärfe. Dabei spornt nicht allein Gazarian die Instrumentalisten an, umgekehrt reißt die Musik nicht weniger den Dirigenten mit und stachelt ihn zu Fuß- und Beinarbeit im Übermaß auf.
Keins der Werke dauert viel länger als ein Viertelstündchen. Mit nur zehn Minuten gar bescheidet sich das Opus 48 von Malcolm Arnold: Folglich darf es mit Fug und Recht Sinfonietta heißen; sie ist die erste von zweien im Œuvre des produktiven Briten, der 2006 mit 84 Jahren starb. Die Knappheit der drei Sätze hindert Gazarian nicht, sie humoristisch mit wechselnd gewichtetem Aufruhr herauszuputzen, wenn auch sein Ensemble – das 1964 in der georgischen Hauptstadt Tbilissi (Tiflis) als Staatskammerorchester gegründet wurde und seit 1990 in Ingolstadt sitzt – die komplexen Nuancen der Partitur nicht vollständig auszureizen weiß. Die zerrissene Rhythmik des aufgekratzten Schluss-Allegros legt es mit dem Schwung eines Rausschmeißers hin, wobei neben den von Anfang an superben Oboen endlich auch die Hörner eifrig als Melodieträger und Energielieferanten mitwirken dürfen. Kurz zuvor haben sie, umso beherrschter, zur Sanglichkeit des Mittelsatzes beigetragen. Der klingt am schönsten, wenn er ein wenig nach guter alter Filmmusik klingt. Das darf so sein: Malcolm Arnolds soundtrack zu David Leans „Brücke am Kwai“ wurde 1957 mit einem Oscar vergoldet. Eine Brücke schlägt seine Sinfonietta auch: Sie überquerend, gelangt der Esprit der Divertimenti, wie man sie im achtzehnten Jahrhundert schätzte, in die ‚Klassik‘ der Moderne.
Am Sonntag im Rosenthal-Theater: „Madame Piaf – Enttarnung einer Diva“. Mit Marie Giraux (Mezzosopran), Jenny Schäuffelen (Klavier, Akkordeon) und Frédérique Labbow/Jule Hinrichsen (Cello). Beginn: 17 Uhr.
Zur Veranstaltung im Internet: hier lang.
Ihren Saisonstart widmen die Hofer Symphoniker Max Reger und dem Geist Mozarts. Die Geigerin Lena Neudauer und der Bratschist Wen Xiao Zheng demonstrieren vollendetes Duo-Spiel von unauflöslicher Delikatesse.
Von Michael Thumser
Hof, 2. und 3. Oktober – Mächtig stolz war er auf die Qualität seiner Arbeit und, wie er wissen ließ, auf den darauf verwendeten Fleiß: „Enorm“ sei der gewesen. Dennoch habe er, betonte Max Reger, seine „Mozart-Variationen“ opus 132 mit einem „wirklich kleinen Orchester“ besetzt. Nun ja, auch Größe ist was Relatives. Im Großen Haus der Freiheitshalle, wo die Symphoniker am Freitag und Samstag ihr erstes Hofer Konzert der neuen Spielzeit gaben, da füllte das Orchester das weite und breite Podium dann doch aus – natürlich auch weil die Musikerinnen und Musiker pandemiebedingt ungewohnt großzügig hatten platziert werden müssen. Indes folgte daraus zugleich, dass sich ihr kultiviert-akkurates Spiel auffallend transparent und voluminös im Raum hörbar machrn konnte. Wozu auch die – zur Klangverstärkung unverzichtbare – Tonanlage wohlausgesteuert beitrug; weitgehend wohlausgesteuert: Fünf Mal knallten am Freitag kleine Kanonenschüsse aus den Lautsprechern.
Umso unspektakulärer stimmen erst die Holzbläser, dann die Streicher das Thema an. Wolfgang Amadeus Mozart, in seiner Klaviersonate KV 331, hat es selber variiert, wenn auch, versteht sich, ganz anders als Reger. Der, ein glühender Verehrer des Klassikers, ließ 1914 seine hochromantische Fantasie, sein hochchromatisches Harmonieverständnis, aber auch, nach acht Variationen, in der Schlussfuge sein Traditionsbewusstsein über die Ausgangsmelodie laufen. Am Hofer Pult schaltet Hermann Bäumer, dem als conductor in residence die Leitung der Saisoneröffnung vorbehalten ist, lange Pausen zwischen den Abschnitten ein, sodass das Werk nicht als in sich geschlossenes Ganzes, eher wie eine Suite erscheint.
Damit muss man nicht einverstanden sein und kann dem Dirigenten dennoch nachsagen, dass er spannende Gegensätze herausarbeitet: etwa zwischen dem tänzerischen Ballsaal-Schwung der zweiten Variation und der dritten mit ihrem kurzen, wie atemlosen Phrasenbau und dem unheilverkündenden Moll; oder, in der vierten Veränderung, zwischen der aus den Hörnern schmetternden Grandezza einer fürstlichen Jagdgesellschaft und dem aufgewühlten Gespensterreigen der fünften. In der achten Variation, der beeindruckendsten Episode, changieren die Symphoniker zwischen satt blühenden Samtfarben von Klage und Erlöstheit und gelangen zu Stimmungstiefen und Gedankenflügen, als wärs ein Adagio von Mahler. Zu fast übertrieben dichter Faktur hat der besessene Kontrapunktiker Reger die mächtige Schlussfuge ausgearbeitet; Bäumer aber gewichtet mittels zahlloser erlesener Nuancen den Klang so wechselvoll, dass der noch in der triumphalen Endphase, wo Mozarts Thema als Festchoral aus den Trompeten schallt, nie Gefahr läuft, kompakt zu verklumpen: ein gewaltiges Finale, aber kein gewalttätiges.
Paganini im Barockgewand
Mit vergleichbar dramatischen Variationen haben zuvor die Solisten des Abends aufgewartet: Als spektakuläre Zugabe verehrten die Violinistin Lena Neudauer und der Bratschist Wen Xiao Zheng dem bravo rufenden Publikum die berühmte Passacaglia Johan Halvorsens; 1893 schrieb der Norweger sie auf ein Thema von Georg Friedrich Händel. Also vermischen die Interpreten folgsam die Energien romantischer Virtuosität à la Paganini mit barocker Vielstimmigkeit – aber derart vollendet gelingt ihnen dies, dass man das Spiel der zwei, sähe man sie nicht vor sich, leicht für das Musizieren eines ausgewachsenen Streichquartetts halten könnte. Der außerordentlichen Eintracht der Künstler im Empfinden, ihrer ungestörten Gleichzeitigkeit selbst bei heiklen Aktionen verdankt sich diese Wirkung.
Wie Regers Werk ist auch ihr Auftritt dem Geist Mozarts verpflichtet, für dessen Sinfonia concertante KV 364 sie sich zu einer eheähnlichen Verbindung zusammenschließen. Nahe bei Divertimento und anderer Spielmusik verorten manche Musikschriftsteller das Doppelkonzert, zu Unrecht, wie die Darbietung in Hof belegt. Denn Neudauer und Zheng lösen die in der Komposition überreich eingeschlossenen Inspirationsquellen mit eigener musikalischen Intelligenz heraus, um sie organisch hervor- und zusammenwachsen zu lassen. Dabei intoniert die Oberstimme von Neudauers Geige die kontrollierte Geläufigkeit des Kopfsatzes mit fraulicher Noblesse, während Zheng seinem Alt-Part jugendlich-männliche Sonorität verleiht, ohne die atemdünne Flachbrüstigkeit, die der Bratsche sonst bisweilen innewohnt. Gleichgewichtig hält das Bündnis der Instrumente bis in die gemeinsamen Empfindungen und verdoppelten Triller der Duo-Kadenzen hinein.
Am ehesten finden sich die beiden im Schluss-Presto zur unterhaltsamen Divertimento-Attitüde bereit, munter bis zur Verspieltheit; am wenigsten hingegen im Andante davor. Genau reagieren Lena Neudauer und Wen Xiao Zheng aufeinander, vertrauensvoll lässt sie ihn und er sie gewähren. So entwickelt sich der Gestus einer nicht unbesorgten, aber krisensicheren Intimität. Mozarts lichte Geistigkeit berührt sich mit der Delikatesse seines gern mal verschwenderisch lauten Jüngers Reger: in einer Schlichtheit ohne Einfalt, einer Größe ohne Aufschneiderei.
Zweites Symphoniekonzert des Orchesters in Hof: am 16. und 17. Oktober, jeweils um 19.30 Uhr, im Festsaal der Freiheitshalle. Zur Veranstaltung im Internet: hier lang.