Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)
Aktuell

20. Mai, Hof, Theater, Großes Haus
Vor 390 Jahren schrieb Pedro Calderón de la Barca sein  bedeutendstes Schauspiel, Das Leben ein Traum, das nach der Freiheit des Willens zwischen Wahrheit und Täuschung fragt. Heute fragt Alejandro Quintana lieber nach Macht, Machtmissbrauch und Machtlosigkeit. Der Regisseur platziert sein großartiges Parabelspiel - rund um den furiosen Jörn Bregenzer in der Hauptrolle - zeitlos in einer Art Zirkusmanege, worin die übrigen Figuren zu Allegorien werden.



Eckpunkt

Unheimliche Begegnung

Von Curiander

17. Mai 2025  Sie sei, teilen die Kunstsammlungen Chemnitz mit, ein „intensives Gefühl“, aber das klingt in unheilvollen Zeiten ziemlich untertrieben. Der Angst, und zwar in ihrer äußersten Form, hat der Norweger Edvard Munch auf seinem berühmtesten Gemälde Gestalt verliehen: In fünf Versionen bildete er eine Panikattacke ab – den unhörbaren „Schrei“ eines Menschen, von dem wir nicht ahnen können: Hat die Bangnis ihn, seines aufgerissenen Mundes ungeachtet, stumm gemacht? Oder heult er derart gellend auf, dass er selbst sich die Ohren zuhalten muss und die Landschaft um ihn her aus dem Leim geht? Dass die „Welt aus den Fugen“ geraten sei, hören wir täglich, seit die Erderwärmung sich nicht länger leugnen lässt, Russland den Nachbarn Ukraine mit Krieg verheert, Israel im Terror, Palästina im Blut, der Sudan im Elend versinkt. Mit einer Schreckensnachricht nach der andern machen die seriösen Medien seit jeher unser Blut gefrieren, und die unseriösen geben uns mit extra drastischen Horrorvisionen, absurden Verschwörungsmeldungen, antidemokratischen Radikalkuren zur Abhilfe den Rest. Gleichwohl scheut Chemnitz, heuer Kulturhauptstadt Europas, sich nicht, der Angst ein Zuhause einzurichten – einen „Pavillon der Angst“. Der lädt zwischen dem 10. Juni und dem 9. August, nacheinander an neun Stationen in der Stadt, zu „gemeinsamem Musizieren und kreativem Schreiben bis hin zu Bewegungsangeboten“ ein, bevor dann tags darauf eine Edvard-Munch-Ausstellung die Tore öffnet. (Ihr Titel: schlicht „Angst“, was sonst.) Indes, sich das Grauen aus Herz und Lungen singen, aus den Fingern fabulieren, aus dem Leib tanzen – reicht dergleichen als Bewältigungstherapie? Inoperabel nistet die Angst seit Anbeginn unserer Spezies in uns Menschen, sodass es sich die Griechen der Antike gar nicht anders denken konnten, als dass sie ihnen leibhaftig als Gott entgegentrete, Phobos geheißen. Von ihm haben die Akrophobie oder die Arachnophobie – die krankhafte Angst vor Höhen oder Spinnen – nebst all den anderen Phobien ihren Namen. Ein Volk in Angst lässt sich leicht beherrschen, ganz gleich, ob Geistliche ihre Schäfchen mit dem Höllenfeuer oder Diktatoren ihre Widersacher mit Gefahr für Leib und Leben bedrängen. Philosophie und Psychologie wollen uns die Angst verständlich machen: Eine berühmte Studie hat ihr 1844 der Däne Søren Kierkegaard gewidmet, der sie, als Gefühl unbestimmter Sorge, von der Furcht unterschied, der Beklommenheit angesichts einer konkreten Bedrohung. Später durchschaute sie sein deutscher Kollege Martin Heidegger in ihrer Doppelgesichtigkeit: Dass wir im Zustand und Angesicht der Angst lebten, lähme und überfordere uns zwar, fordere uns aber zugleich befeuernd heraus, immer aufs Neue Entscheidungen für unsere Existenz zu treffen; erst dadurch gewännen wir Einsicht in die Freiheit und die Eigenverantwortlichkeit, die uns auferlegt sind. Ähnlich denken offenbar die Chemnitzer Kuratoren, die uns weniger bange machen als vermitteln wollen, dass Angst uns „antreiben kann, Veränderungen anzugehen und persönlich zu wachsen“. Aber freilich vermag uns die Angst vor der Zukunft, dem Leben, dem Tod … auch schier um den Verstand zu bringen. Vielleicht ruft uns der Mensch auf Munchs „Schrei“ ja genau das entgegen. Dafür spricht, so steht zu fürchten, die Aufschrift von des Meisters eigener Hand links oben auf der 1893 gemalten ersten Fassung: „Kann nur von einem Verrückten gemalt worden sein.“ ■

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Rückblick

15. Mai, Hof, Freiheitshalle, Festsaal
Ein Naturtalent: Als Kind begann sie in ihrer Geburtsstadt Hof zu trommeln - und hörte nicht mehr auf damit. 31-jährig rangiert Vivi Vassileva nach steiler Karriere unter den Weltbesten der Perkussionisten-Zunft. Auch der Heimat gibt sie gern die Ehre. Diesmal brillierten die gewinnende Künstlerin und ihr „Extasi Ensemble“ vor 650 Zuhörerinnen und Zuhörern mit hochkomplexer Musik einer avancierten Avantgarde, fanden aber auch Gelegenheit für effektvolle Zirkusnummern.

13. Mai, Hof, Freiheitshalle, Festsaal
Vor neunzehn Jahren stand Hermann Bäumer zum ersten Mal am Pult der Hofer Symphoniker, neun Jahre lang amtierte er als conductor in residence. Nun nahm er während eines anspruchsvollen Konzertabends Abschied: Mit drei Werken des zwanzigsten Jahrhunderts unter der gemeinsamen Überschrift Friedenshoffnung füllte er den Saal noch einmal mit dem, was die dankbare Intendantin Cora Bethke an ihm schätzt: mit „Leben, Herz und unvergleichlicher Musik“



Theater Hof

Schauspiel
zuletzt
Das Leben ein Traum
Handbuch gegen den Krieg
Alle meine Männer
Don Karlos


Musiktheater
zuletzt
The Brothers/Der Jüngste Tag ist jetzt
Ballet Blanc
Titanic
Die Geschöpfe des Prometheus


Theater andernorts
zuletzt
Salome im Vogtlandtheater
Die Befristeten
auf Bayreuths Studiobühne
Tristan und Isolde
auf dem Grünen Hügel
The Rake’s Progress
in Plauen


Konzert
zuletzt
Puls der Kontinente: Frenetischer Jubel für Vivi Vassileva und das Extasi Ensemble
Abschied: Hermann Bäumer war neunzehn Jahre lang Erster Gastdirigent in Hof
Drei Briten in Hof
- und dabei eine deutsche Erstaufführung bei den Symphonikern
Trost am Ende der Zeit: Brahms’ Klarinetten-Trio und Messiaens Quartett



Film und Fernsehen
zuletzt
48. Grenzland-Filmtage Selb/Aš
Maria
Nosferatu
September 5


Kleinkunst, Kabarett, Comedy
zuletzt
TBC macht lauter gute Vorschläge
Olaf Schubert bewertet die Schöpfung
Philipp Scharrenberg verwirrt Bad Steben
Birgit Süß:
Das Graue vom Himmel


Anderes
zuletzt
Die Kunst der Bauchlandung: Das neue Buch des Hofers Roland Spranger
Bücher & Musik: Von Sonne, Mond und Sternen in den „Geschichtsraum“ Bayern
Aus dem Nachlass: Unbekannte frühe Erzählungen von Siegfried Lenz
Gottesanbieterin: Die Lyrikerin Nora Gomringer und ihre Kontake zum Jenseits


Essay  
zuletzt
... und zum Flor des Landes: Zwischen 1806 und 1918 - Bayerns fünf bis sechs Könige
Das Findelkind Europas:
Kaspar Hauser war nachweislich kein Fürstenspross
Das Kleinmaleins des Lebens

Erich Kästner, doppelt und dreifach
Schwebende Verfahren
Zum 100. Todestag Franz Kafkas

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Die Bücher
Erhältlich über den Buchhandel und online

KAISERS BART - (2022) Dreizehn Essays von Michael Thumser. Verlag Tredition, Hamburg, 344 Seiten, gebunden 25, als Paperback 18, als E-Book 9,99 Euro.
Auch Kaisers Bart kommt vor in diesem Buch, zum Beispiel der des mittelalterlichen Staufers Barbarossa. Wenn wir uns indes heute „um des Kaisers Bart streiten“, dann geraten wir nicht wegen einer royalen Haupt- und Staatsaktion, sondern um einer Bagatelle willen aneinander. Dem Gewicht nach irgendwo dazwischen halten sich die Themen der dreizehn Essays auf, die alle dem weiten Feld der Kulturgeschichte entsprossen sind. Umfassend recherchiert und elegant formuliert, erzählen sie über Bücher und Bärte, Genies und Scheusale, über selbstbestimmte Frauen, wegweisende Männer und Narren in mancherlei Gestalt, über Stern- wie Schmerzensstunden der Wort- und Tonkunst. Worüber berichtet wird, scheint teils schon reichlich lang vergangen – „sooo einen Bart“ hat aber nichts davon.



VERPESTETE BÜCHER - (2021) Elf literarische Epidemien und ein Epilog. Von Michael Thumser. Mit Buchschmuck von Stephan Klenner-Otto. Verlag Tredition, Hamburg, 172 Seiten, gebunden 16,99, als Paperback 8,99, als E-Book 2,99 Euro.
Dieses Buch ist nicht das Buch zur Krise. Freilich ist es ein Buch zur Zeit. Es will einem traditionsreichen, aber noch unbenannten Genre der Weltliteratur einen passenden Namen geben: dem Seuchenbuch. Erstmals erschienen die literaturkundlichen Essays während der Corona-Pandemie auf dieser Website. Vermehrt um ein Kapitel über Mary Shelleys Roman „Der letzte Mensch“, wurden sie sämtlich überarbeitet. Den ausgewählten Werken der deutschsprachigen und internationalen Erzählkunst ist gemeinsam, dass in ihnen Epi- und Pandemien eine Hauptrolle spielen. So belegen die Werkporträts, dass die Furcht vor Seuchen und die Hilflosigkeit gegen deren raumgreifendes Wüten die Geschichte der Menschheit als Konstanten durchziehen. Die Beispielhaftigkeit der vorgestellten Seuchenbücher verleiht ihnen über ihre Epochen hinaus Wirkung und Gewicht.

 

WIR SIND WIE STUNDEN - (2020) Neunzehn Essays von Michael Thumser. Verlag Tredition, Hamburg, 340 Seiten, gebunden 21,99, als Paperback 12,99, als E-Book 2,99 Euro.
Mehr oder weniger handeln alle hier versammelten Texte von Zeit und Geschichte, Fortschritt und Vergänglichkeit, von Werten und Werden, Sein und Bleiben, von Wandel und Vanitas. Zwischen 2010 und 2020 entstanden, wollen sie als Essays gelesen werden, folglich weniger als Beiträge zu den Fachwissenschaften, mit denen sie sich berühren, denn als schriftstellerische Versuche. Formal handelt es sich um sprachschöpferische Arbeiten eines klassischen Feuilletonisten, inhaltlich um Produkte von Zusammenschau, Kompilation und Kombination, wobei der Verfasser Ergebnisse eingehender Recherchen mit eigenen Einsichten und Hypothesen verwob, um Grundsätzliches mitzuteilen und nachvollziehbar darüber nachzudenken.


DER HUNGERTURM - (2011/2020) Dreizehn Erzählungen von Michael Thumser. Verlag Tredition, Hamburg, 288 Seiten, gebunden 19,99, als Paperback 10,99, als E-Book 2,99 Euro.
Von Paaren handeln etliche der dreizehn Geschichten in diesem Band: von solchen, die auseinandergehen, von anderen, die „trotz allem“ beieinanderbleiben, von wieder anderen, die gar nicht erst zusammenfinden. Dass die Liebe auch bitter schmecken kann, ahnen oder erfahren sie. Sich selbst und der Welt abhanden zu kommen, müssen manche der Figuren fürchten, den Kontakt zu verlieren, allein zu sein oder zu bleiben und nichts anfangen zu können, nur mit sich. Manche haben ihren Platz ziemlich weit fort von den anderen, zum Beispiel hoch über ihnen wie der namenlose Protagonist der Titelerzählung "Der Hungerturm". Irgendwann freilich werden sie aufgestört von der halb heimlichen Sehnsucht, mit jemandem zu zweit zu sein. Bei anderen genügt ein unerwarteter Zwischenfall, dass der Boden unter ihren Füßen ins Schwanken gerät und brüchig wird. Und es gibt auch welche, denen die Wirklichkeit in die Quere kommt, weil sie ein Bild von sich und Ziele haben, die nicht recht zu ihnen passen. Knapp und zielstrebig, bisweilen in filmartig geschnittenen Szenen und Dialogen berichten die zeitlosen Erzählungen davon, wie aus Unspektakulärem etwas Liebes- und Lebensbestimmendes, mitunter Tödliches erwächst.